Die Stadt ohne Juden

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© Filmarchiv Austria

Vor 100 Jahren drehte Hans Karl Breslauer seinen Stummfilm, der auf dem gleichnamigen Buch von Hugo Bettauer die vorausahnende Geschichte einer Stadt erzählt, die all ihre Juden ins Exil schickt. Nachdem 2015 verschollene, aber entscheidende Szenen aufgefunden worden waren und das Filmarchiv Austria dank einer großen Crowdfunding-Aktion die aufwendige Restaurierung durchführen konnte, liegt der Film heute in seiner nahezu vollständigen Originalversion vor. 

Von Noah Isenberg
Zuerst erschienen: Bundeszentrale für politische Bildung, 20.10.2021

Der Roman Die Stadt ohne Juden und dessen Verfilmung erzählen auf satirische Weise die Geschichte der Ausweisung sämtlicher Juden aus Wien und machen sich damit über den Antisemitismus der 1920er Jahre lustig. Den Film aus dem Jahr 1924, der sich an dem von Hugo Bettauer zwei Jahre zuvor veröffentlichten gleichnamigen Roman orientierte, drehte der österreichische Filmemacher Hans Karl Breslauer. Schon bald war dies sein erfolgreichstes Werk. Roman und Film spielten beide in der nahen Zukunft und nahmen den Antisemitismus der 1920er Jahre aufs Korn. Der Film feierte am 25. Juli 1924 in Wien Premiere. Die deutlichen Abweichungen der Handlung des Films vom Buch – so kam es etwa im Film zu einem Happy End – führten zu einem Streit zwischen Breslauer und Bettauer. Am Ende verweigerte Bettauer dem Film jegliche Anerkennung im Zusammenhang mit seinem Roman. Kurz nach der Uraufführung wurde Bettauer von einem rechtsgerichteten Attentäter ermordet. Heute ist der Film einer der wenigen noch erhaltenen expressionistischen Filme Österreichs.

Historischer Kontext

Vom Roman brisanten Inhalts zum Film für ein Massenpublikum

Lediglich ein Jahr nach Veröffentlichung von Hugo Bettauers Bestseller Die Stadt ohne Juden im Jahr 1922 und zwei Jahre vor der Ermordung des Autors durch einen Mann, der als Vorläufer des nationalsozialistischen Aufhetzers gelten kann, erwarb der Regisseur Hans Karl Breslauer die Rechte am Buch im Namen seines Unternehmens H.K.B. Film. Breslauer, ein gebürtiger Wiener, dessen Vater dort ein Kaffeehaus betrieb, hatte da schon bei mehr als zwei Dutzend Filmen Regie geführt, von denen die meisten von den österreichischen Produktionsfirmen Sascha-Filmindustrie und Mondial-Film produziert worden waren. Ursprünglich Theaterschauspieler, hatte er bereits einige Drehbücher geschrieben und in zahlreichen Produktionen auf der Bühne und vor der Kamera in Deutschland und Österreich als Schauspieler mitgewirkt. In den Anfängen der Ersten Republik Österreich (1919–1934) war Breslauer im Almanach der Film- und Kino-Industrie zu finden, wo er für die Jahre 1919–20 als Vizepräsident des Klubs der Filmregisseure Österreichs verzeichnet war. Als einzige Frau ist im Almanach die aus Ungarn stammende jüdische Drehbuchautorin Ida Jenbach (geborene Jakobovits) aufgeführt – sie sollte später gemeinsam mit Breslauer das Drehbuch für Die Stadt ohne Juden schreiben und in der ersten Hälfte der 1920er Jahre bei fünf weiteren Filmen mit ihm zusammenarbeiten. Wie Breslauer hatte auch sie ihre Karriere als Theaterschauspielerin begonnen und war dann nach und nach in das Filmgeschäft der 1910er und 1920er Jahre gelangt.

Angesichts des brisanten Inhalts von Breslauers Roman, der den Antisemitismus seiner Zeit entschlossen ins Visier nimmt, war die erste Aufgabe, der sich Drehbuchautorin und Drehbuchautor widmeten, den Inhalt zu entschärfen – es galt, Eingriffe durch die Zensur und negative politische Konsequenzen zu vermeiden. Am auffälligsten ist die Namensänderung der Stadt sein, in der der Film spielt: Sie heißt nicht mehr Wien, wie im Roman, sondern wird als die „Republik Utopia“ bezeichnet – die unspezifische Ortsangabe war sinnvoll, da weniger der Erzeugung eines politischen Widerhalls förderlich. Die ursprüngliche Absicht war offenbar weniger, Bettauers Botschaft der Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses zu verwässern; Ziel war es vielmehr, einen Film zu produzieren, der massentauglich und also möglichst wirtschaftlich war. Die im Roman an sich nur als Nebenhandlung spielende Romanze zwischen der Nichtjüdin Lotte (Anny Milety, eine jederzeit einsatzbereite Muse des Regisseurs, die er ein Jahr später heiraten würde) und dem Juden Leo (Johannes Riemann) ist eine Parabel über eine konfessionsverschiedene Liebe und nimm im Drehbuch erheblich mehr Raum ein als im Buch. Die im Roman eindeutig als Wiener zu erkennenden Protagonisten werden in der filmischen Umgebung zu Figuren von allgemeinerer Verortung. Auf ähnliche Art wurde eine Reihe von Massenszenen mit Dutzenden Statisten (antijüdische Demonstrationen, betende Juden, Scharen von Juden, die die Stadt verlassen) in das Drehbuch eingeführt; diese Szenen wurden im Vorspann des Films und an verschiedenen Stellen des Handlungsablaufs genutzt. Hugo Breslauer und Ida Jenbach schrieben außerdem mehrere effekthascherische, die Handlung nicht weiterführende Szenen in das Drehbuch hinein, mit denen etwa zusätzliche Facetten des kulturellen Umfelds vermittelt werden sollten, während andere eher eine stilvolle Ausschmückung darstellten oder als humoristische Abwechslung dienten. Da es nicht möglich war, alle Szenen vor Ort zu drehen, oblag dem Bühnenbildner Julius von Borsody, ein Wiener, der zu den führenden Filmarchitekten des Stummfilms gehörte, die schwierigen Aufgabe, mehrere Innen- und Außenkulissen zu bauen (unter anderem das Parlamentsgebäude und die Synagoge). Breslauer bestand darauf, einen Prolog im Inneren der Synagoge zu filmen, der nirgends im Roman zu finden ist. Dieser eher holprigen und gekünstelten Filmszene, die im Inneren des Borsodyschen Tempels, ein Raum voller Schatten und mit einigermaßen unheilvoller Atmosphäre, aufgenommen worden war, wird es wohl nur unter Schwierigkeiten gelungen sein, Antisemiten zu bekehren.

Wahrscheinlich die eindrucksvollste Szene des gesamten Films – der zugegebenermaßen wenig Spektakuläres bietet – ist die expressionistische Traumsequenz, in der sich der betrunkene Stadtrat Bernard (Hans Moser) in einer Anstalt wiederfindet, fast als wäre er mit einem Bann geschlagen worden – Leo hatte ihn mit seiner listenreichen Organisation der Rückkehr der Juden in die Stadt betrogen. Nach Stil und Ton erinnert die Szene ein wenig an die Anstaltsszene aus Robert Wienes weltbekanntem Film Das Cabinet des Dr. Caligari  (1920). Anstelle der dort sekundenweise eingeblendeten Tafeln mit der in expressionistisch stilisierter Schrift dargestellten Wahnvorstellung „ich muss Caligari werden ….“, gibt es hier eine Reihe von Judensternen, die als verzerrte Formen auf den Wänden der Zelle aufleuchten – ein ungewöhnlich sinnträchtiger Raum, bestimmt von scharfkantigen Winkeln, Hell-Dunkel-Kontrasten und mit übertrieben dargestellten Größenverhältnissen, die durch einen riesigen asymmetrischen Stuhl in der Mitte des Bildes erzeugt werden. Nach einem Schnitt zeigt Breslauer eine animierte Einblendung von etwas, das fast wie eine Darstellung des Heiligen Landes im Stil einer Laterna magica wirkt; und wieder sinkt ein symbolisch aufgeladener Davidstern in das Bild herab. Als ein letztes Mal Bernard in seiner Zelle gezeigt wird, verkündet einer der Anstaltsärzte den Befund: „Ein merkwürdiger Fall von Wahn“, lautet der Zwischentitel, „der Mann denkt, er sei ein Zionist“.

© Filmarchiv Austria

Persönliche Geschichte

Wer war Maximilian Hugo Bettauer?

Maximilian Hugo Bettauer wurde 1872 im österreichischen Kurort Baden bei Wien geboren und wuchs in Wien auf, wo sein Vater Arnold (ursprünglich Samuel Aron, geboren in Lwiw) als Wertpapierhändler tätig war und seine Mutter Anna (geborene Wecker) sich um die drei gemeinsamen Kinder kümmerte. Hugo war das jüngste Kind dieser jüdischen Mittelschicht-Familie; er besuchte die Grundschule und die weiterführende Schule im Ersten Bezirk, dem Kultur- und Wirtschaftszentrum der Stadt. Unter seinen Klassenkameraden am Franz-Joseph-Gymnasium war auch Karl Kraus, einer der gefürchtetsten Kritiker der Jahrhundertwende und später standhafter Verteidiger Bettauers, als dessen Ruf durch Medienkampagnen besudelt wurde. Im Alter von 18 Jahren konvertierte Bettauer 1890 zum Protestantismus. Dies war für assimilierte Juden seiner Generation die weniger radikale Wahl als der Katholizismus, der in Österreich vorherrschenden Religion. Ab diesem Zeitpunkt schrieb er seinen Nachnamen ohne das „h“ in der ursprünglichen Schreibweise und ließ sich sowohl im beruflichen Kontext als auch privat mit seinem zweiten Vornamen anreden.

Noch keine zwanzig Jahre alt, diente Bettauer kurze Zeit beim österreichisch-ungarischen Militär in den Tiroler Bergen – es heißt, er sei nach nur wenigen Monaten desertiert –, bevor er in die Schweiz und später in die Vereinigten Staaten ging. Mit seiner ersten Frau, der Tänzerin Olga Steiner, ließ er sich in New York nieder; in den späten 1890er Jahren wurde er dort eingebürgert. Doch auf Grund der begrenzten Arbeitsmöglichkeiten entschlossen sich Hugo und Olga um die Jahrhundertwende dazu, nach Europa zurückzukehren – die genauen Daten und andere Einzelheiten aus Bettauers Leben, besonders seine Jugendjahre, sind unklar.

In New York arbeitete er an der Verbesserung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten; in einem einzigen Jahr erschienen gleich fünf Romane, darunter Im Schatten des Todes (1907), Aus den Tiefen der Weltstadt (1907) und Im Banne von New York (1907). Diese Werke handelten zum größten Teil von deutschen und österreichischen Auswanderern in den USA und erschienen als Fortsetzungsromane in den deutschsprachigen Zeitungen New Yorks. Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahr 1908 geriet Bettauer in den Ruf eines Unterhaltungsschriftstellers für das Massenpublikum, einer, der das schrieb, was zu seiner Zeit als Trivialliteratur galt: Romane voller journalistischer Verve zu Themen, die auch in den Schlagzeilen standen, weitestgehend frei von literarischer Ambition und ästhetischem Ehrgeiz. Bettauer schrieb seine flüssig zu lesenden Romane in ungeheurer Geschwindigkeit nieder, ein nicht nachlassender Strom an Veröffentlichungen in verschiedenen Medien.

Bettauer griff den Geist seiner Zeit auf, und so kamen seine in Wien spielenden Romane in den 1920er Jahren schon bald auf die österreichische Leinwand: Sie dienten als Vorlage für eine Reihe von Stummfilmen der frühen Nachkriegszeit, die in der Ersten Republik Österreich entstanden. Sein RomanDie freudlose Gasse von 1923 wurde zwei Jahre später vom bekannten Schriftsteller Willy Haas für die Leinwand adaptiert. Der unter der Regie von G. W. Pabst, einem führenden Vertreter des Weimarer Autorenkinos, gedrehte Film mit der jungen Greta Garbo in der Hauptrolle ging in die Filmgeschichte als eines der wichtigsten Werke seiner Zeit ein. Der umstrittenste Film war mit Sicherheit Breslauers Adaption von Die Stadt ohne Juden, wenn ihm auch nicht die größte Wirkungsgeschichte beschieden war. Vermutlich wegen seiner Autorschaft des Romans Die Stadt ohne Juden wurde Bettauer im Jahr 1925 von einem rechtsgerichteten Attentäter ermordet.

Dieser Beitrag ist Teil des Shared History Projektes vom Leo Baeck Institut New York I Berlin.

Noah Isenberg ist George-Christian-Centennial-Professor und Vorsitzender der Abteilung für Radio-Fernsehen-Film an der University of Texas in Austin. Zu seinen Büchern gehört We’ll Always Have Casablanca (W.W. Norton, 2017), das in ungarischer und russischer Übersetzung erschienen ist.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 4.0 – Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International“ veröffentlicht.

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Veranstaltung im Centrum Judaicum Berlin

Die Stadt ohne Juden – ein utopischer Film vor 100 Jahren. Und heute?

Der Film „Die Stadt ohne Juden“, eine Adaptation des gleichnamigen Romans von Hugo Bettauer, wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Der Film widmet sich der vermeintlich utopischen, definitiv antisemitischen Vorstellung einer Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus einer fiktiven Republik namens Utopia. Im Hinblick auf die aktuelle politische Situation, in der Vertreibungsfantasien wieder normalisiert werden, zeigen wir in Kooperation mit dem Projekt KIgA Kitchen der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.) an zwei Abenden Ausschnitte aus dem Film und diskutieren jeweils anschließend mit einem Panel ausgewiesener Expert:innen. Am ersten Abend erörtern wir Mechanismen der Diskriminierung und Ausgrenzung in Medien und Politik. Am zweiten Abend legen wir den Fokus auf Diskriminierungserfahrungen von Menschen aus unterschiedlichen Communities und sprechen über ihre Perspektiven. Gibt es Parallelen zwischen der Entstehungszeit des Films und heute? Wo zeigen sich Gemeinsamkeiten in Ausgrenzungserfahrungen und wo hören diese auf? Wie geht es von diesem Punkt der Geschichte weiter?

28.11.24, 18-20 Uhr
Themenabend mit Paneldiskussion
Gezeigt werden Ausschnitte aus dem Film „Die Stadt ohne Juden“. Anschließende Paneldiskussion zu Mechanismen der Diskriminierung und Ausgrenzung in Medien und Politik.

Moderation
Aline von Drateln

Diskutierende
JONATHAN GUGGENBERGER, LUISE LANGE-LETELLIER
(Correctiv e.V.), DERVIŞ HIZARCI (KIgA e.V.)

Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, im Repräsentantensaal, Oranienburger Straße 28–30, 10117 Berlin
Anmeldung: info@centrumjudaicum.de

10.12.24, 18–20 Uhr
Themenabend mit Paneldiskussion
Gezeigt werden Ausschnitte aus dem Film „Die Stadt ohne Juden“. Anschließende Paneldiskussion zu Erfahrungen der Diskriminierung.

Moderation
Aline von Drateln

Diskutierende
DEBORA ANTMANN, REINA-MARÍA NERLICH (Duvia e.V.), FATMA KAR (Polylux e.V.)
Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.)
*** Adresse wird nach erfolgter Anmeldung mitgeteilt ***
Anmeldung: info@centrumjudaicum.de