Der algerische Autor Boualem Sansal wurde am Samstag, dem 16. November, aus Paris kommend, am Flughafen von Algier festgenommen. Seitdem gibt es kein direktes Lebenszeichen mehr von ihm. Er war gerade dabei, nach Frankreich zu übersiedeln, und hatte in diesem Jahr die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Seine Heimat Algerien, wo er Jahrzehnte ausgeharrt hatte, wurde zuletzt immer unsicherer für ihn.
Von Tjark Kunstreich
Seit 2021 ist ein Strafverfahren gegen ihn anhängig, weil er Israel besucht hatte, was algerischen Staatsbürgern verboten ist. Außerdem ist dem algerischen Regime seine Kritik der Minderheitenpolitik, insbesondere gegenüber den Berbern, ein Dorn im Auge. Seitdem Frankreich in diesem Jahr die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara anerkannt hatte und der algerische Dissident und Autor Kamel Daoud mit dem Prix Goncourt den wichtigsten französischen Literaturpreis für einen Roman über den algerischen Bürgerkrieg verliehen bekam, ist das Verhältnis zur ehemaligen Kolonialmacht endgültig zerrüttet. In Frankreich suchen und erhalten algerische Intellektuelle eine große Öffentlichkeit, während sie im eigenen Land zunehmend mundtot gemacht werden. Das totalitäre Regime orientiert sich politisch an Russland und ist ökonomisch von China abhängig.
Sansal ist ein international bekannter Autor, der 2011 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat. Seine Bücher erreichen in der frankophonen Welt Auflagen, die manchen Bestsellerautor vor Neid erblassen lässt, in Algerien werden seine Bücher – anders als von der FAZ aktuell verbreitet – wenn, dann nur unter der Ladentheke verkauft. Er ist ein Kritiker des Islams saudischer und katarischer Prägung und setzt sich für Frieden und Verständigung mit Israel ein. In Deutschland erscheinen seine Bücher im Merlin-Verlag.
Kamel Daoud, ein Freund Sansals, und zahlreiche andere Intellektuelle und Schriftsteller, äußerten auf X/Twitter große Sorge über den Verbleib Sansals, nachdem jeder Kontakt zu Angehörigen und Freunden abgebrochen ist. Anfragen seitens des Präsidialamts und des Außenministeriums Frankreichs zu Sansals Verbleib wurden zunächst von der algerischen Regierung nicht beantwortet, bis am Freitag eine an die Verlautbarungen der stalinistischen KPdSU erinnernde Erklärung veröffentlicht wurde, in der der „Pseudointellektuelle“ Sansal verschiedener Vergehen gegen die algerische Nation beschuldigt wird: Er sei ein „macronitischer Zionist“, der sich mit dem marokkanischen König gegen Algerien verschworen habe. Es geht also um nichts Geringeres als Landesverrat, der allein an Sansals öffentlichen Äußerungen festgemacht wird, aber immerhin wurde damit die Festnahme bestätigt und indirekt auch, dass Sansal noch lebt. Unbestätigten Meldungen zufolge soll er in den nächsten Tagen vor Gericht gestellt werden.
Die französische Linke um den Führer der France Insoumise (LFI), Jean-Luc Mèlenchon, verhält sich angesichts dieser skandalösen Vorgänge wenig erstaunlich ziemlich ruhig, hatte doch die Spitzenkandidatin für die Europawahlen Algerien im Sommer als „Mekka der Freiheit“ bezeichnet. In linken Medien wird Sansal, der ein erklärter Linker ist, vorgeworfen, sich mit seiner Islamkritik den Rechten angedient zu haben – und offensichtlich ist man der Auffassung, dass ihm deswegen Recht geschehe. Unterdessen sind aber große Teile der algerischen Diaspora und viele der noch der Aufklärung zugeneigten politischen Kräfte in großer Sorge. Die Wahrscheinlichkeit, dass gegen Sansal ein Schauprozess veranstaltet wird, ist groß, und die Befürchtung, dass Sansals Leben in unmittelbarer Gefahr ist, sehr real.
Daoud hat deswegen einen Offenen Brief an die Schriftsteller und Intellektuellen verfasst, der bislang unter anderem von den Literaturnobelpreisträgern Annie Erneaux, Wole Soyinka, Jean-Marie Le Clezio und Orhan Pamuk unterzeichnet wurde sowie den Autoren Salman Rushdie, Peter Sloterdijk, Andreï Kourkov, Roberto Saviano, Alaa el Aswany, Leïla Slimani, Élisabeth Badinter, Bernard-Henri Levy, Caroline Fourest, Tahar Ben Jelloun, Abnousse Shalmani, Alain Finkielkraut, Pascal Bruckner und Joann Sfar.
In dem Brief heißt es: „Jetzt ist alles möglich: Lebenslänglich für eine SMS, Gefängnis für einen genervten Seufzer. Sansal sieht aus wie ein alter, lächelnder biblischer Prophet. Er provoziert Leidenschaften und Freundschaften ebenso wie den Hass der Unterwürfigen und Eifersüchtigen. Er ist frei und amüsiert sich über das Leben. Er schreibt Bücher über die Stürme und abstrakten Lichter unserer Zeit und amüsiert sich über den Hass der anderen. Sansal schreibt, er tötet nicht und sperrt niemanden ein. Seine Unschuld gegenüber der Diktatur ließ ihn vergessen, wie real der Terror in Algerien seit einigen Jahren ist. Er übersah die Meute, die auf ihn wartete, und besuchte an jenem Samstag wieder sein Land. Er zahlte einen hohen Preis dafür.“