Die Spitze des Eisbergs

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Foto: haGalil

Die Ereignisse in Amsterdam haben noch einmal deutlich gezeigt, wie es um die Sicherheit von Israelis und Juden in Europa derzeit bestellt ist. Zugleich verweisen sie auf die Tatsache, dass die politisch Verantwortlichen überfordert sind, wenn es um das Thema Antisemitismus geht.

Von Ralf Balke

Selten bekam man so offene Worte zu hören. „Es gibt allerdings Bereiche – und so ehrlich müssen wir an dieser Stelle sein – da würde ich Menschen, die Kippa tragen oder offen schwul oder lesbisch sind, raten, aufmerksam zu sein“, bekannte Barbara Slowik, ihres Zeichens Berlins Polizeipräsidentin vor wenigen Tagen gegenüber der „Berliner Zeitung“. Sie würde zwar keinen Generalverdacht aussprechen, betonte aber: „Leider gibt es bestimmte Quartiere, in denen mehrheitlich arabischstämmige Menschen wohnen, die auch Sympathien für Terrorgruppen hegen. Offene Judenfeindlichkeit artikuliert sich dort gegen Menschen jüdischer Glaubensrichtung und Herkunft.“ Damit brachte Slowik genau das zur Sprache, was die Statistiken schon länger belegen. So habe allein in Berlin seit dem 7. Oktober mehr als 6.200 Ermittlungen in den Bereichen Antisemitismus und Volksverhetzung einleiten müssen.

Ob die kürzlich vom Deutschen Bundestag verabschiedete Antisemitismusresolution irgendetwas daran ändern wird, darf bezweifelt werden. Denn es handelt sich dabei nur einen rechtlich unverbindlichen Akt, der nur eine Diagnose des Problems darstellt und wenig mehr als eine Absichtserklärung ist. Oder anders formuliert: Wenn konkretes staatliches Handeln weiterhin nicht erfolgt, ist die Antisemitismusresolution allenfalls eine nette Geste. Denn für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland ist das, was Berlins Polizeipräsidentin in der Presse sagte, nur eine Bestätigung dessen, was für sie längst zum Alltag geworden ist. „Die Feststellung von Frau Slowik ist keine Neuigkeit“, hieß es auf X, vormals Twitter, von Seiten des Zentralrats der Juden in Deutschland. „Jüdinnen und Juden wissen leider genau, an welchen Orten sie als Jude erkenntlich in Gefahr sind. Wenn die Berliner Polizei nun einräumt, nicht für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden – aber auch für andere Gruppen – Sorge tragen zu können, ist das alarmierend.“

Zugleich sind Aussagen von Barbara Slowik hochproblematisch, weil so deutlich wird, dass der Rechtsstaat in bestimmten Bezirken der Stadt eigentlich schon längst kapituliert hat und bestimmte Gruppen eben nicht immer mit dem Schutz der Polizei rechnen dürfen, ihre körperliche Unversehrtheit also nicht überall mehr gewährleistet werden kann. Und der eigentliche Skandal ist die Tatsache, dass man ein solches Eingeständnis der eigenen Ohnmacht und des Versagens nicht als Alarmsignal versteht, sondern nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis nimmt. „Auf einer bestimmten Ebene ist die Aussage von der Berliner Polizeipräsidentin empörend, weil sie die Verantwortung für die Sicherheit der Juden auf die Juden selbst abwälzt“, lautet dazu die Einschätzung von Antonia Yamin, Deutschlandkorrespondentin des israelischen Nachrichtensenders N12, gegenüber Welt TV.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen sollten die eigentliche Bedeutung der Aussage Barbara Slowik drastisch widerspiegeln. So wurden Spieler des deutsch-jüdischen Sportvereins TuS Makkabi Anfang November bei einem Fußballspiel im Berliner Bezirk Neukölln von einer Gruppe von 10 bis 15 arabischen Jugendlichen mit Messern und Stöcken bedroht und anschließend gejagt, nicht das erste Mal, wie man weiß. Seit fast zehn Jahren sind die Mitglieder von Makkabi Deutschland, unter denen übrigens auch viele nichtjüdische Sportlerinnen und Sportler sind, Beleidigungen, Bedrohungen und manchmal auch offener Gewalt ausgesetzt, weshalb Wettkämpfe immer wieder abgebrochen werden mussten. Und seit dem 7. Oktober 2023 vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht einen Übergriff auf Menschen in Berlin gab, nur weil sie in der Öffentlichkeit Hebräisch gesprochen hatten, eine Kette mit Davidstern am Hals trugen oder wie kürzlich einen Schal des Fußballvereins Maccabi Tel Aviv bei sich hatten.

Dessen Fans waren am 7. November in Amsterdam anlässlich eines Spiels gegen Ajax Amsterdam Opfer einer regelrechten Treibjagd, bei der rund 30 Menschen verletzt wurden. Israelische Fußballfans sowie andere Personen berichteten davon, dass überwiegend Arabisch sprechende junge Männer sie verfolgten, sie mit Steinen bewarfen und unter anderem ihre Pässe einforderten, um zu prüfen, wer Israeli oder womöglich Jude sein könnte. Oder sie gezwungen wurden, „Free Palestine“ zu rufen. Auch wenn es zuvor zu Provokationen seitens einiger israelischer Fans gekommen war, so schienen die Gewalttaten unabhängig davon von pro-palästinensischen Aktivisten geplant worden zu sein. Es wurde berichtet, dass unter anderem Taxifahrer in Telegram-Gruppen die Aufenthaltsorte der Israelis mitgeteilt hätten. Kurzum, das war keine spontane Reaktion auf Übergriffe israelischer Hooligans, sondern im Vorfeld geplante Übergriffe

Bemerkenswert ist in diesem Kontext wieder einmal die Berichterstattung in einigen deutschen Medien. So wird die antisemitische Gewalt mit dem Hinweis darauf relativiert, dass die Israelis provoziert hätten, und zwar nicht zum ersten Mal – also irgendwie selbst Schuld wären, wenn ihnen was passiert. „Ideologisch ist das sehr nahe an dem, was auch Anhänger der Regierung Netanjahu äußern“, erklärt beispielsweise Robert Chatterjee, stellvertretender Chefredakteur des Nahost-Magazins „Zenith“ gegenüber dem Deutschlandfunk. „Es wundert einen dann auch nicht, dass sie sich im Ausland ganz ähnlich verhalten. Und als zusätzliche Komponente noch das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza mitaufnehmen, was vor dem 7. Oktober natürlich in der Form nicht der Fall war.“ Folgt man dieser Logik, dann wären auch Gewaltexzesse von Israelis oder deutschen Jüdinnen und Juden auf der Sonnenallee in Neukölln durchaus verständlich und nachvollziehbar – schließlich wurde dort das Massaker der Hamas ausgiebig gefeiert und Süßigkeiten verteilt. Aber es gibt sie nun einmal nicht.

Und wie gefährlich diese Relativierungen sind, zeigen weitere Vorfälle. So gaben die Ereignisse in Amsterdam wohl auch das Signal, Ähnliches anderenorts in Europa zu organisieren. Am 11. November verhaftete die Polizei in Antwerpen in Belgien fünf Jugendliche, die in den Sozialen Medien zur „Jodenjacht“, zu Deutsch „Judenjagd“, aufgerufen hatten. Auch hier zeigt sich die antisemitische Komponente. Denn die Gewalt sollte sich eindeutig gegen die Jüdinnen und Juden Antwerpens richten, die zudem ein leichtes Ziel von Übergriffen sein können, weil die Stadt Heimat einer großen orthodoxen Gemeinde ist, deren Mitglieder rein äußerlich deshalb schnell als solche erkennbar sind. Erst wenige Wochen zuvor war ein jüdischer Fahrradfahrer von meinem Mann angegriffen worden, der „Free Palestine“ brüllte, einer von vielen Vorfällen der vergangenen Monate. Belgiens Noch-Justizminister Paul Van Tigchelt versuchte zwar, die jüdische Gemeinde nach diesen Ereignissen zu beruhigen und versprach, dass die Antiterror-Einheiten des Landes alles unternehmen würden, um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Gleichzeit aber musste auch er einräumen: „Kann so etwas in Belgien passieren? Die ehrliche Antwort ist: Warum sollte es hier nicht passieren? Da müssen wir realistisch sein.“ Dabei hatte man ohnehin schon längst vor der Gewalt kapituliert. Ein für den 6. September in Brüssel geplantes Fußballspiel zwischen Israel und Belgien war bereits im Juni gecancelt worden. Der Grund: Man könne nicht für die Sicherheit der Spieler und Fans aus Israel garantieren.

„Für Juden, die in Europa leben, ist dies jedoch nur eine Erscheinungsform des Antisemitismus, wenn auch vielleicht die erschreckendste, aber sicherlich nicht die häufigste“, kommentiert David Stavrou in „Haaretz“ die Geschehnisse von Amsterdam. „Andere Erscheinungsformen sind weniger fotogen, aber sie belasten das Leben der europäischen Juden schwer: Belästigungen in der Schule, aggressive Kampagnen in den sozialen Medien, kulturelle und akademische Boykotte, verletzende Kommentare sowie Spannungen und Ausgrenzung am Arbeitsplatz. Physische Gewalt ist eher selten.“ Doch sie häuft sich in jüngster Zeit. Zwar sei der Antisemitismus in Europa ganz gewiss nicht neu, doch unterscheidet er sich wesentlich vom Rassismus und bekommt aktuell einen neuen Twist. „Man muss nicht einmal mehr das Wort >jüdisch< verwenden. Der Konflikt im Nahen Osten und die sogenannte Grauzone dessen, was antisemitisch und was anti-israelisch ist, hat es möglich gemacht, Codewörter wie >Globalisten<, Verweise auf George Soros und natürlich Zionisten zu verwenden.“

Zugleich bringt David Stavrou etwas auf den Punkt, was auch manche Linke in Israel oder linke Israelis in Europa zum Nachdenken bewegen sollte. „Da sie sich zu Recht gegen die andauernde israelische Kontrolle des Westjordanlands und die Kriegsverbrechen im Gazastreifen wenden, finden sie schnell europäische Verbündete, die ihre Weltsicht teilen. Manchmal handelt es sich dabei um seriöse und integre Mitstreiter, manchmal aber eben auch um Akteure, die den Vorwurf des Völkermords verbreiten, islamistische Terrorgruppen und Propaganda für die Zerstörung Israels unterstützen. Genauso wie die extreme Rechte in Israel Verbündete für ihre Kampagne gegen Muslime sucht, machen einige Linke gemeinsame Sache mit Antisemiten, nur weil diese gegen die Besatzung sind – auch wenn sie gegen die Waffenstillstandsgrenzen Israels von 1949 sind und nicht nur gegen die Grenzen nach 1967.“