Nachlese zum 9. November 1938 – 1989 – 2014

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Miklos Nemeth zu Gast im Kino International, Foto: C. Wollmann-Fiedler

Eine magische Zahl, ein magisches Datum, ob Gut oder Böse, scheint der 9. November des vorigen Jahrhunderts in Deutschland zu sein. Ein wichtiges Gedenkdatum sowieso. 1938 nahm die Hetzkampagne gegen die jüdische Bevölkerung seinen Lauf. Synagogen im Land wurden in der Nacht vom 9. zum 10. November angezündet, Geschäfte jüdischer Bürger zerstört und geplündert, „Reichskristallnacht“ wurde dieses Verbrechen genannt. Viele andere Pogrome gingen voraus und weitaus mehr und grausamere danach. Eine Schmach der deutschen Geschichte. Der Mauerfall am 9. November 1989 dagegen ein großartiges Ereignis für Deutschland und die europäische Welt ohne Blutvergießen und ohne Krieg.

Von Christel Wollmann-Fiedler

Der ungarische Schriftsteller Imre Kertesz wurde auch an einem 9. November im Jahr 1929 in Budapest in eine jüdische Familie geboren, überlebte als Vierzehnjähriger mehrere Konzentrationslager, ging nach Budapest zurück, verarbeite als Schriftsteller seine Vergangenheit in seinen Büchern, bekam 2003 den Nobelpreis für Literatur. Die Öffnung der Grenzen in seinem Land und in ganz Europa gab auch ihm eine Zukunft.

Im Oktober 1956 gingen ungarische Studenten auf die Straße, wollten eine veränderte Politik im Land und in einem freien, westlich orientierten leben. Zu großen Demonstrationen kam es, russische Panzer rollten ein, überrollten die Freiheitswünsche der Bürger, setzten dem Ungarnaufstand ein Ende, tausende von Menschen starben, abertausende flohen aus dem Land in den Westen. Imre Nagy, der damalige Ministerpräsident, der aus Südtransdanubien stammte, sympathisierte mit den Bürgern, wurde erhängt und mit vielen anderen zusammen verscharrt! Unter der Regierung des jungen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth wurde Nagy gegen den Willen der Kommunistischen Riege 1989 rehabilitiert und zum Nationalhelden ernannt.

Am 8. November 2014, einen Tag vor den offiziellen Feierlichkeiten zum Fall der Mauer in Berlin 1989, kam Miklos Nemeth, der damalige Ministerpräsident der Ungarischen Volksrepublik und heutigen Republik Ungarn, nach Berlin und war Gast im Kino International in der Karl-Marx-Allee. „Sein“ Film 1989 – Poker am Todeszaun sollte Premiere haben. Die Gebrüder Beetz Filmproduktion in Berlin hatte gewagt, diesen Film zu produzieren, der dänische Filmregisseur Anders Ostergaard und die in Ungarn geborene Erzsebet Racz schrieben das Drehbuch und Ostergaard drehte den Dokumentarfilm, der wie ein Politthriller die Gäste bannte. Die Protagonisten des Films waren ebenfalls anwesend.

Die kommunistischen Regime klammerten sich an die Macht und viele von ihnen glaubten, der Kommunismus und ihre Ideologien würden ewig existieren. Der junge Miklos Nemeth, der Wirtschaftswissenschaft studiert hatte, wurde 1989 zum Ministerpräsidenten gewählt und spöttisch als „Buchhalter“ in seinem Parlament betitelt. Auch in Ungarn kriselte es nicht nur politisch. Das Land der Magyaren war pleite. Für die Erneuerung des Signalzauns zu Österreich, zum Burgenland, war kein Geld vorhanden, Kredite aus dem Westen wären erforderlich gewesen. Nemeth wollte keine erneuten Kredite, aus dem Warschauer Pakt wollte er aussteigen, sein Land öffnen und seinen Bürgern die ersehnte Freiheit geben. Noch waren die Sowjets die eigentlichen Herrscher in Ungarn, erzählte Nemeth beiläufig. Als junger Mann mit 20 Jahren war Miklos Nemeth in die Kommunistische Partei eingetreten, wollte sich dem System anschließen. Der Vater in Monok, im Norden des Landes, sprach sechs Monate nicht mit ihm. Wie Jesus und Judas kam sich Nemeth damals vor, erinnert er sich nach vielen Jahren. Als er in die Politik ging, gab der Vater dem Sohn die Worte mit auf den Weg:

„Vergiß niemals, woher Du kommst. Sag’ die Wahrheit dem Volk und der Welt. Wenn Du nicht lügst, können Deine Mutter und ich erhobenen Hauptes durchs Dorf gehen!“

Miklos Nehmet war 1948 in Monok in Nordungarn geboren worden, die Familie der Mutter waren eingewanderte Schwaben aus der Nähe von Ulm. Maria Theresia hatte die Siedler vor dreihundert Jahren ins Land geholt. Er erzählte auch, dass seine Mutter als junge Frau Anfang 1945 von den Russen ins Donezbecken zur Schwerstarbeit deportiert wurde. Lajos Kossuth, der ewige Nationaldheld der Ungarn, stammte ebenfalls aus Monok.

Bei den Sowjets haben die Menschen wenig Wert, Stalin hat viele Menschenleben auf dem Gewissen, erzählt der ehemalige Ministerpräsident Ungarns. Michail Sergejewitsch Gorbatschow stammt aus dem Nordkaukasus, hatte viele Ämter in der kommunistischen Regierung der Sowjetunion, später war er Generalsekretär der KPDSU und nicht zuletzt Staatspräsident. Der junge Politiker Miklos Nehmet reiste kurz entschlossen im März 1989 nach Moskau zu ihm, der eine neue politische Richtung einschlug und den Kalten Krieg zwischen Ost und West beenden wollte. Eine Idee, die bis heute nachhält! Keine Umarmung, keinen Bruderkuss, nur eine Handreichung genügte den beiden Politikern beim Treffen im Kreml, um Vertrauen herzustellen. Gorbatschow rügte und lobte den jungen Politiker, nannte seine Politik in Ungarn voreilig. Beharrlich berichtete Nehmet seine Pläne, die Grenzen zum Westen zu öffnen. Er wusste auch, dass die Feinde in Ost-Berlin, Rumänien und der Tschechoslowakei nicht mitmachen würden, auch in Sofia saß kein Freund. Michail Gorbatschow stimmte seinem Vorhaben zu!

Der Parteichef in Ungarn und Ministerpräsident Nehmet waren unterschiedlichster Meinung, kamen politisch nicht überein. „Wanzen“ wurden im Parlament in Budapest heimlich installiert, die bis nach Moskau reichten. Mit seinen engsten Mitarbeitern traf sich Nehmet zu Gesprächen an der Donau! Morddrohungen gab es von den Widersachern. Die politische Situation spitze sich zu. Wie fest sitzt Gorbatschow im Sattel? Niemand wusste es so recht.

Der Stacheldraht zum Burgenland, dem östlichsten Bundesland Österreichs, wurde demontiert und für kurze Zeit geöffnet. Honecker in Ost Berlin sah das als Untergrabung seiner Macht! Die DDR Bürger erfuhren von der Tat der Ungarn und sahen darin eine Möglichkeit in den Westen flüchten zu können. Karl Heinz Schulz aus Weimar und seine Frau Gundula hegten schon lange Fluchtgedanken. Das Paar machte sich mit dem kleinen Sohn auf den Weg in Richtung Sopron. Heerscharen von DDR Bürgern campierten auf Plätzen, in Wäldern und an Straßenrändern, um eventuell eine Lücke im Zaun zu erwischen. Sie wussten nicht, wohin „die Reise“ geht und zweifelten an der Wahrheit, sie saßen auf einem Pulverfass doch auch Chancen sahen sie. Dem jungen ungarischen Ministerpräsidenten trauten sie eine Veränderung zu, doch die Meinung könnte sich blitzschnell ändern. Würden die Ungarn die Grenzen wieder schließen? Nehmet wollte die Hoffenden nicht zurück in die DDR schicken. Jahrelang hatten die Ungarn es getan, Gefängnisse oder Repressalien jedweder Art erwarteten die Zurückgeschickten in ihrem Land. Das Paneuropäische Picknick, die Friedensdemonstration, im August 1989 war ein voller Erfolg. Mit Gulasch und viel Wein wurde gefeiert, die Grenze zwischen Ungarn und Österreich war tagelang offen und einige DDR Bürger flohen. Nehmet meinte, dass damit die Toleranzschwelle der Sowjetunion getestet werden sollte. Kein Telefonanruf kam aus Moskau, der Sowjetische Botschafter in Budapest regte sich auch nicht. Stillschweigen!

Er, Miklos Nehmet, wollte sein Land in eine neue Ära führen, doch ihm selbst war nicht ganz klar, wie das funktionieren sollte. Opposition gab es ebenso und nicht wenig, erzählte er.

Die Familie aus Weimar wird nachts bei Mondschein von einem Einheimischen zur Grenze begleitet, die Silhouette des Dorfes im Burgenland ist zu erkennen. Bei den ungarischen Grenzsoldaten herrschte Verunsicherung. Minuten später wird Kurt Werner Schulz bei seiner lang ersehnten Flucht erschossen, seine Frau und sein Sohn kamen im Westen an, im Burgenland. Eine große Dramatik für Gundula Schulz, während der überschwänglichen Freude, die andere DDR Bürger nach ihrer gelungenen Flucht hatten. Der Poker am Todeszaun hatte sein letztes Opfer auf dem Weg zur politischen Wende.

Hin und Her ging es wochenlang um die Frage Grenzen offiziell öffnen oder nicht. Miklos Nehmet ließ am 25. August 1989 auf Schloß Gymnich unweit von Bonn im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl die „Bombe platzen“. Die Grenzöffnung von Ungarn nach Österreich war beschlossene Sache! Am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer gestürmt und der Eiserne Vorhang fiel. Nach 25 Jahren erhielt Seine Exzellenz der ehemalige Ministerpräsident von Ungarn, Miklos Nehmet, für seine Verdienst um die Einheit Deutschlands und Europas an der Thüringisch-Hessischen Grenze den Point Alpha Preis verliehen.

Miklos Nehmet geht im Kino International am Ende der großartigen historischen Veranstaltung auf die Witwe von Kurt Werner Schulz zu, begrüßt sie und schließlich umarmt er sie. Eine große Geste, eine berührende Szene. Sie haben sich nie zuvor getroffen!

Wie sicher saß Gorbatschow damals im Sattel? Niemand wusste es doch. Was wäre geworden, wenn Gorbatschow bei einem Staatsstreich gestürzt worden wäre? Wäre es in den Warschauer Pakt Staaten zu einem blutigen Krieg gekommen? Wären Köpfe gerollt und welche? Ich möchte kaum darüber nachdenken, auch nicht daran denken, was geworden wäre, wenn…!

Berlin, nach dem 9. November 2014