Als Teil des Kollektivs „Jews and Arabs writing in Berlin“ (gegründet von Hila Amit Abas und Mati Shemoelof) schufen die Lyriker*innen Zehava Khalfa, Abdulkadir Musa und Mati Shemoelof Verbindungen zwischen muslimischen und jüdischen Stimmen, um die gemeinsame Existenz in der Diaspora neu zu definieren.
Am 31.10.2024 trafen sich Mati Shemoelof, Zehava Khalfa und Abdulkadir Musa mit Yael Inokai und Lara Sielmann im Brecht-Haus, um über die Entstehung des Kollektivs zu sprechen, das verschiedene Veranstaltungen kuratierte, bei denen sich die jüdische und arabische Diaspora begegneten, und das ein Stipendium des Senats gewann, um das Festival der Middle East Union zu kuratieren. Wie hat sich Berlin kulturell nach dem 7. Oktober verändert? Und warum bestand damals eine starke Verbindung zwischen diesen beiden Diasporas? Hier sind die Antworten von Mati Shemoelof, die uns vom Autor übermittelt wurden.
Ich habe es eben schon kurz erwähnt, ihr habt euch 2018 gegründet: Mati, Musa ihr beide seid ja auch Gründungsmitglieder: Wie kam es dazu?
Ich habe mich mit Hila in einem Café nahe Hermannplatz getroffen. Wir haben darüber gesprochen, dass es in Berlin keine Mizrahi- oder arabisch-jüdische Stimme gibt und auch keine literarische Verbindung zu unseren Brüdern und Schwestern aus der arabischen Welt. Unser erstes Ziel war es daher, diese Verbindung herzustellen. Wir haben uns auch mit Musa im Rathaus Spandau getroffen, und die Idee nahm Gestalt an – die erste Veranstaltung: Writers@Berlin. Reconnecting the Middle East. Das LCB – Literarisches Colloquium Berlin – hat uns freundlicherweise seinen Raum kostenlos zur Verfügung gestellt, sodass wir mit der Organisation der Veranstaltung beginnen konnten.
Als Kollektiv schreibt ihr keine gemeinsamen Texte, sondern jede/ jeder für sich: Was hat eure Kollektivarbeit ausgemacht – habt ihr gemeinsam Texte zum Beispiel geschrieben?
Nein, wir hatten keine gemeinsamen Texte geschrieben, außer den Ideen für die Projekte oder das Intro für das Middle East Union Festival. Wir hatten eine Idee für ein Projekt – eine Anthologie herauszugeben, die Araber und Juden vereint – aber dieses Projekt hat nicht den erfolgreichen Abschluss gefunden.
Berlin galt lange als die Hauptstadt außerhalb der arabischen Welt für arabische Kultur: Wo habt ihr euch da verortet, als arabische Juden, Mati und Zehava? – Und Musa, du als kurdischer Autor?
Von 2016 bis 2018 war ich Teil der Mittelmeerischen Künstlerbühne „Poetic Hafla“ mit dem Maler Barack Moyal. Ich habe viele Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Autoren aus dem arabischen Raum getroffen, wie zum Beispiel Musa. Diese Begegnungen haben mir geholfen, das Projekt Anu… zu kuratieren. Außerdem habe ich Dr. Amro Ali getroffen, der den bekannten Artikel über Berlin und das arabische Exil als Möglichkeit geschrieben hat. Allerdings hat er nicht über die arabisch-jüdische Perspektive geschrieben, also habe ich ihn kontaktiert, und wir haben uns getroffen. Er war ein Teil des Festivals. Ich habe Zehava Verortet via die Mahlerin Michal Zamir, die gegründet hat den Hebräische Bibliothek in Berlin.
Berlin als Möglichkeitsraum, in dem ihr wahnsinnig viel gemacht habt in dieser Zeit, unter anderem das Festival “Middle East Union”, in dem ihr euch 2021 im Literarischen Colloqium Berlin unter anderem mit den Fragen beschäftigt habt: “Kann und darf man aus dem heutigen Berlin einen friedlich vereinten Nahen Osten imaginieren? Über nationale Grenzen, Kriege, religiöse und sprachliche Unterschiede hinweg?” Da steckt ja auch eine Vision für mich drin: An was wolltet ihr hier als Kollektiv auch arbeiten, was für Dialogmöglichkeiten ausloten über die Literatur?
Ich denke, das Wichtigste, was wir im Dialog wollten, war Anerkennung. Wir haben eine gemeinsame jüdisch-arabische Geschichte mit der arabischen Welt, unabhängig davon, was in Israel passiert. Unsere Geschichte ist lang, und man kann lernen, wie Juden im islamischen Raum lebten – sowohl die positiven als auch die negativen Seiten. Die kulturellen, sozialen, künstlerischen und historischen Möglichkeiten wurden von Israel nicht genutzt. Jetzt leben wir wieder in der Diaspora und treffen die arabische Diaspora. Wir wollten von diesem gemeinsamen Raum aus zurückblicken und auch in die Zukunft schauen. Poesie, Literatur, Musik und Kunst sind unsere Werkzeuge.
Dazu anschließend: Mit welchen Verbindungen seid ihr aus dem Festival gegangen, was hat sich in dieser Zeit – die ja auch in die Pandemie fiel – weitergesponnen? Wie sah die Kollektivarbeit während der Pandemie aus, vor welche Herausforderungen oder auch Möglichkeiten (Stichwort digitales Verbinden) hat euch das gestellt?
Ich bin stolz auf das Festival. Es war erfolgreich. Es ist wie mein Ausweis. Sogar in unseren schlechten Zeiten, mit diesem grausamen Krieg, sehe ich das Festival wie einen Leuchtturm für die Schiffe, wenn es rundherum stürmt. Ganz nebenbei sind faszinierende Zusammenhänge entstanden. So traten beispielsweise die Dichterin Esther Dicherheit und der jiddische Aktivist Tal Hevar Khibovsky bei einem Symposium während der Corona-Zeit auf. Und später riet Esther ihrer Tochter, einen Jiddisch-Workshop zu besuchen, den ein Freund von Tel Khibovsky in Mannheim veranstaltete, und sie wurden ein Paar.
Es war wirklich kompliziert während der Corona-Zeit. Wir hatten unsere Veranstaltung, ich meine das Symposium beim LCB (Literarisches Kolloquium Berlin). Es war sehr seltsam, zu lesen, ohne das Publikum zu sehen, nur über das Internet. Es war so schwer, wenn ich an die erste Veranstaltung denke und die 130 Leute, die gekommen sind. Plötzlich gab es kein Publikum mehr. Aber unser Publikum hat online zugeschaut, und bis heute treffe ich Leute, die das Festival gesehen haben. Die Herausforderung war, unsere Werte und Visionen in einer unsicheren Zeit weiterzubringen. Wir mussten es tun. Es war unsere Aufgabe. Wir wussten, dass ein gutes Symposium das große Festival, von dem wir geträumt haben, unterstützen wird.
Es gibt euch als Kollektiv nicht mehr: Wie kam es zu der Auflösung oder erachtet ihr das Kollektiv mehr als inaktiv, denn als aufgelöst?
Das Kollektiv ist aufgelöst. Jeder von uns ist noch da, aber als Individuen. Ich denke, wir haben zusammen gemacht, was wir konnten. Hila und ich wollten einen anderen Weg gehen. Es war wie eine gute Band, die ein tolles Album macht und sich dann auflöst, nachdem sie ihr bestes Album veröffentlicht hat. Hila und ich haben unsere Freundschaft verloren. Das passiert manchmal. Es ist wie in Beziehungen: Wenn man tiefer in die andere Person eindringt, sieht man sowohl die guten als auch die schlechten Seiten. Man kann zusammenbleiben, solange man beide Seiten akzeptieren und inklusiv mit ihnen umgehen kann.
Ich würde gerne nochmal zu dem zurückkommen, was ihr bei dem “Middle East Union”-Festival untersucht habt. Ich lese nochmal vor: Kann und darf man aus dem heutigen Berlin einen friedlich vereinten Nahen Osten imaginieren? Über nationale Grenzen, Kriege, religiöse und sprachliche Unterschiede hinweg?” Dieses Festival liegt erst drei Jahre zurück, und doch stammt es aus einer ganz anderen Zeit, aus einem anderen Berlin – vor dem 7. Oktober 2023: Wie geht es euch? Wie hat sich euer Schreiben und auch das Bewegen durch Berlin seitdem verändert?
Alles verändert sich. Es ist nicht die gleiche Welt. Die Leute beschäftigen sich heute mit Trauer und Leid. Es gibt Zensur für Palästinenser und kritische Israelis. Daher gibt es kein Vertrauen in deutsche Institutionen. Aber unser Festival dient als Horizont für die Zukunft. Ich fühle mich schlecht wegen des verheerenden Krieges und der Art und Weise, wie die Menschen die Menschenrechte in unserer Region vergessen haben. Ich habe in letzter Zeit angefangen, Essays und mehrsprachige Gedichte zu schreiben. Ich habe ein Stipendium vom Deutschen Literaturfonds bekommen und schreibe. Ich habe auch ein anderes PARATAXE Symposium kuratiert über PARATAXE Symposium XIV: Hebräisch? Jiddisch? Berlin? – der hebräische und jiddische Autor*innen Berlins. Und in der gleichen Nacht hat Iran Israel bombardiert.
Daran anschließend: Bei dem Parataxe-Symposium “Nahost-Berlin” 2020 habt ihr euch unter anderem damit auseinandergesetzt, welchen Einfluss die Kultur des Nahen Ostens auf Berlin hat, aber auch welchen Einfluss Berlin auf die Kultur des Nahen Ostens hat und was geschieht bei der Begegnung zwischen deutschen Jüd:innen und arabischen Jüd:innen? Sind das heute überhaupt relevante Fragen und wenn nein, was sind die relevanten Fragen heute?
Die Fragen sind wichtig. Aber wie ich gesagt habe, gibt es jetzt einen Krieg. Es gibt viele Tote, Angst und viel Leid. 42.000 Palästinenser sind tot, und auch viele Menschen in Israel. Es gibt 2 Millionen Flüchtlinge in Gaza und 1 Million Flüchtlinge im Libanon. Bald gibt es auch 100.000 Flüchtlinge aus Nord- und Südisrael.
Es ist schwer, über Kultur zu reden, wenn so viel Schmerz ist. Manchmal treffen wir uns bei Protesten gegen den Krieg. Ich habe die Rede von Deborah Feldman bei einem Protest gegen den Krieg gesehen, der nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt war. Sie hat sich bei mir bedankt für den Film ihrer Rede und mich eingeladen, bei PEN Berlin mitzumachen. Die Situation zwischen Jüdinnen und Juden und Arabern ist wichtig, wenn wir über Araber-Juden sprechen. Radikale Stimmen verstehen nicht, dass wir zusammenleben können.
Wir würden aber gerne noch von euch wissen: Was ihr aus eurer Arbeit als Kollektiv mitgenommen habt, inwiefern euch das begleitet, und vielleicht Strategien an die Hand gegeben hat für den Umgang mit der Gegenwart?
Ich habe viel gelernt aus dieser Arbeit im Kollektiv. Ich habe gelernt, dass Vertrauen und Freundschaft in ein großes soziales und künstlerisches Festival verwandelt werden können. Man kann kein Festival mit Juden und Arabern ohne Vertrauen machen.
Ich habe gelernt, dass man ein Festival für den Frieden zwischen Palästinensern und Israelis nur mit einem binationalen Team machen kann. Das haben wir gemacht. Hila und ich haben einen Aufruf für palästinensische Kuratoren gestartet, und Alla Obeid hat die Position gewonnen. Wir haben zusammengearbeitet. Das gab den Palästinensern, die am Festival teilgenommen haben, Vertrauen.
Aber das Festival war auch das Ende von dem, was wir in Berlin geteilt haben. Heute hat sich die ganze Szene verändert. Die Traurigkeit ist so groß. Das Misstrauen in deutsche Institutionen ist sehr hoch. Die Deutschen wollen keine kritischen Stimmen hören.
Wir haben versucht, dies mit unseren arabisch-jüdischen Körpern in die Gesellschaft zu tragen – und wir haben es geschafft. Ich habe eine hebräische Zeitschrift über die Mizrahi-Diaspora außerhalb Israels herausgegeben und hoffe, dass eines Tages jemand sie ins Deutsche übersetzt. Das Leben in der Diaspora hat uns einen seltenen Begegnungsort geschaffen, der in unseren Herkunftsländern nicht existiert. Doch der Krieg hat die Angst zurückgebracht und die Fähigkeit, zwischen uns und unseren Nachbarn in der Diaspora zu kommunizieren, blockiert. Trotzdem treffen wir uns weiterhin; bisher fanden die einzigartigen Ereignisse, bei denen ich Palästinenser und Araber traf, jedoch außerhalb Berlins statt.
Zur Webseite von Mati Shemoelof: mati-s.com
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