Durch Bagdad fliesst ein dunkler Strom

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Mona Yahias großartige Kindheitserzählung aus Bagdad ist im vergangenen Herbst auch auf Hebräisch erschienen

Von Roland Kaufhold

„Flucht. Freiheit.
Vorm Fenster ist immer noch Nacht. Gleich wird mich Schlaf überkommen. Flucht. Freiheit. Zwei sich wiederholende Wörter, immer in gleicher Reihenfolge, verschmelzen schließlich in meinem Kopf, sind untrennbar miteinander verbunden und nur nacheinander möglich.
Flucht-Freiheit.
Sie voneinander zu trennen wird mich fünfundzwanzig Jahre kosten.“ (S. 422)

Mit diesen Worten enden Mona Yahias großartige literarische Erinnerungen an ihre Kindheit in Bagdad. Sie begegnen uns in den prallen, persönlichen Erzählungen der Protagonistin Lina. Die Schilderung ihrer Flucht datieren im Jahr 1970, da ist sie 16. Ein Jahr danach geht sie mit ihrer Familie weiter nach Israel.

Lina, eine Bagdader Jüdin

Lina ist Jüdin. Als sie mit ihrer jüdischen Familie auf abenteuerlichen Wegen aus Bagdad flieht, hat sie bereits zahlreiche Erfahrungen der Freude, der Neugierde, der Bedrohung und der seelischen Widersprüche durchlebt – die man auch in dieser Höraufnahme einer Lesung erleben kann.

Sie gehört zu der recht kleinen Gruppe von etwa 3000 Bagdader Juden, die 1969 noch im Irak lebten – und nach zunehmenden Erfahrungen der Verfolgung und Entrechtung ihre Heimat verließen, verlassen mussten. Ihre Flucht war bedrohlich, lebensgefährlich, wie die Autorin in großartiger, erzählender Weise, aus der Sicht der Bagdader Jugendlichen, auf 400 Seiten nacherzählt.

„Gewidmet meinen Eltern, die mir Sprachen gaben statt Wurzeln“

Mona Yahias Buch Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom erschien im Jahr 2000 bei Peter Halban in London auf Englisch unter dem Titel „When the Grey Beetles Took over Baghdad“. Mona Yahia, die, wie im Buch nacherzählt wird, mehrsprachig aufgewachsen ist, hatte ihre Erinnerungen zuerst auf Englisch verfasst. Gewidmet hat sie es ihren „Eltern, die mir Sprachen gaben statt Wurzeln“, wie es als Motto ihrem Werk vorangestellt wird. Zwei Jahre später erschien die deutsche Ausgabe; sie ist seit vielen Jahren vergriffen, ist aber noch antiquarisch erhältlich. Und nun, 24 Jahre später, ist ihr Buch auch auf Ivrith in Israel veröffentlicht worden; Haaretz hat es bereits besprochen.

„Haqqi fehlt schon den vierten Tag…“

Mona Yahias Buch besteht aus vier literarischen Teilen und 25 Unterkapiteln. Es beginnt mit „Der Siebte Tag“: Die Protagonistin Lina, 1954 in Bagdad geboren, besucht die jüdische Grundschule. Es ist ein kleines Refugium, in dem sich Freundschaften und Konkurrenzen zu entfalten vermögen. Linas engste Freundin ist Selma. Diese lässt ihr im Unterricht einen Zettel zukommen. Er trägt keine Unterschrift. Lina ist nicht erfreut über diesen Regelverstoß gegen die schulischen Regeln: „Mit mißbilligend gerunzelter Stirn drehe ich mich um. Wenn der Zettel unserem Lehrer in die Hände gefallen wäre?“ Ihre jüdische Freundin weist sie auf einen lehren Stuhl hin: „Haqqi fehlt schon den vierten Tag“, dies ist auch Lina selbst aufgefallen. Bereits in jenen Jahren versuchten viele der noch in Bagdad verbliebenen Juden – einst waren es 180.000 – , trotz ihrer über 2000-jährigen jüdischen Geschichte, ihr Land zu verlassen. Noch in den 1930er Jahren waren etwa 25 Prozent der Einwohner Bagdads Juden gewesen.  Weitere grosse Gemeinden gab es um Hilla (Babylon), Basra, Mosul und in Kurdistan. Sassoon Eskell (1860-1932) etwa, der aus einer einflussreichen jüdischen Familie stammte, war bei der Gründung des modernen irakischen Staates 1921 der erste Finanzminister Iraks und wurde als „Vater des irakischen Parlaments“ bezeichnet. Heute sollen nur noch drei Juden in Bagdad leben (Rogg 2023).

Die Massaker der arabischen Mehrheitsgesellschaft, insbesondere nach der Staatsgründung Israels im Jahre 1948, waren jedem Juden in Bagdad gegenwärtig. Auch Lina war sich dessen bewusst: „Das Massaker war so unbarmherzig, sagt man, daß innerhalb von Stunden die Straßen rot von Menschenblut waren und nach wenigen Tagen die unbestatteten Überreste Tausender hingeschlachteter Einwohner zum Himmel stanken.“ Dieses Wissen ist Lina gegenwärtig.

Die Erzählerin beschreibt die Stimmung in der Schule, die absolute Autorität der Lehrer, die Gehorsam einfordern, der sich Lina jedoch nur äußerlich fügt. Auch einigen ihrer jüdischen Lehrern, so ihrem Physiklehrer Sami, ist es gelungen, aus Bagdad über die Berge in den rettenden Iran zu fliehen. Knapp zehn Jahre später sollte Linas Familie dies gleichfalls gelingen. Der Iran des persischen Schahs war für sie das Land der Hoffnung, als Zwischenstation nach Israel. Mit den abenteuerlichen Szenen ihrer Flucht wird die Erzählung 400 Seiten später enden.

Die Festnahme von über siebzig Juden…

Seit Wochen ist der Fluchtstrom zum Erliegen gekommen: „Die Festnahme von über siebzig Juden, die im Oktober zu fliehen versucht haben, hat uns den Mut zu solchen Unternehmungen genommen.“ Die angstbestimmte Hoffnung auf eine Flucht, überlagert vom Schmerz wegen des Verlustes der Heimat, durchzieht Mona Yahias wunderbare Erinnerungen an eine gefährliche, aber auch glückliche und vor allem imposant neugierige Kindheit.

Ihre gleich alte Freundin Selma, scheinbar innerlich mutiger und unangepasster als Lina, sucht nach Abenteuern. Selma schnappt sich den Volkswagen ihres Vaters, macht mit Lina eine Tour durch Bagdad, hin zum Fluss Tigris. Dass sie noch keinen Führerschein hat stört sie nicht.

„Man könnte denken, du willst für immer hierbleiben“, deutet Lina den Erkundungs- und Freiheitsdrang ihrer Freundin. Der Mut ihrer Freundin imponiert Lina; diese versuche, „mit ihrer Verwegenheit meine Zweifel zu zerstreuen.“

Immer wieder durchbricht der Gedanke an eine Flucht aus Bagdad ihre geruhsam erzählten Jugendjahre in Bagdad. Das Sprechen hierüber ist belastend, vom Misstrauen vor der feindseligen Umgebung geprägt. Jedes unvorsichtige Wort kann die eigene Sicherheit gefährden. Wer in Bagdad bleiben möchte, wie etwa Baba, hat Angst vor den Verlusten, dem unsicheren Leben im Exil: „Außer Baba! Der hat es nicht eilig mit der Emigration. Er sagt, wir werden nie mehr so leben können wie hier: das große Haus, der Garten, die zwei Autos.“ Baba werde bestimmt „der letzte Jude in Bagdad sein.“

Aber es erscheint ihr als sinnlos, mit Selma über ihre Hoffnungen auf ein Leben in Israel zu sprechen. Diese sei entschlossen, so empfindet es Lina zumindest, „jeden meiner Hoffnungsschimmer zu zerstören, so wie sie schon im Kindergarten meine Murmeln weggekickt hat.“

Lina wächst in mehreren Sprachen auf. Die Sprachen sollen ihr später ein Leben in der weiten Welt ermöglichen, wo auch immer. Dass dies nicht Bagdad sein wird, dass arabisch als Muttersprache nicht ausreicht, das ist ihren Eltern sehr bewusst.

Die jüdische Schule von Bagdad

Das Kapitel Erster Schultag beleuchtet das Leben in der jüdischen Schule Bagdads. Es ist unserem Leben durchaus ähnlich. Insgesamt 600 Kinder, vom Kindergarten bis zur Oberstufe, besuchen die jüdische Parallel- und Schutzwelt. An deren Eingang hängt kein Schild, das sie als jüdische Institution erkennbar ausweist.

Die Einschulung im Jahr 1960: „Ich sitze in der ersten Reihe, nahe an der Tür, und weine. Das Mädchen neben mir hat karottenrote Zöpfe. (…) Sie grinst mich an, fast mütterlich, und verspricht daß sie mir ein Geheimnis verrät, wenn ich aufhöre zu weinen.“ Es ist Selma. Die ungleichen Freundinnen bleiben das ganze Buch lang zusammen: „Selma und ich halten uns an der Hand und hüpfen die Stufen zum Hof und dem Trinkbrunnen hinunter. Dabei zählen wir laut jede Stufe.“

Mona Yahias Buch ist vor allem auch eine wunderbare Erinnerung an eine lebendige, wagemutige Kindheit, geprägt auch durch die Konkurrenz mit ihrem sechs Jahre älteren Bruder Shuli. Lina kämpft um Autonomie, vor allem gegen ihre Mutter und mit ihrer Mutter.

Lina lernt das Alphabet, sogar mehrere: Arabisch ist ihre Alltagssprache, Hebräisch sei die Sprache ihrer Vorfahren, aber Englisch sei die Sprache ihrer Zukunft. Dies wird familiär und schulisch vermittelt.

Shuli: „An den Flüssen Babylons weinten unsere Vorfahren um Israel“

Ein Kapitel widmet sie ihrem Bruder Shuli. Sechs Jahre älter ist er ihr überlegen, hat sich Freiräume erkämpft. Gelegentlich erzählt er ihr von der Geschichte ihres Landes und ihres jüdischen Stammes: Dann zeigt er auf der Landkarte auf einen Fluss: An den Flüssen Babylons „saßen unsere Vorfahren und weinten um Israel“, erklärt er ihr. Israel, der von der sie umgebenden arabischen Mehrheitsgesellschaft verhasste Nachbar, Israel bleibt für ihre Familie eine Verlockung. Ein Teil ihrer Familie lebt dort, ein anderer Teil in den USA.

Im Kapitel Milchzähne erzählt sie über ihren Vater: 1908 geboren hat er in Oxford eine Privatschule besucht. Sein eigener Vater stammt aus Damaskus, seine Mutter aus Bagdad, er selbst wurde in der heutigen Türkei geboren. Seine Frau ist 16 Jahre jünger; er hat sich einen auffallenden Akzent behalten, der ihn, den Juden, zusätzlich als den Fremden markiert. Lina ringt um ihre Identität, sie muss sich gegen dessen Herabsetzungen und Nicht-Anerkennung als Iraker wehren: Ob ihr Vater denn ein Jude sei? Und warum spreche er denn nicht wie einer, wird sie gefragt: „Die Frage verfolgt mich lange Zeit. Ich wage nicht, sie Vater zu stellen, aus Angst, seine Gefühle zu verletzen. Mutter wiederum ist unzuverlässig. Sie würde alles sagen, nur um mich zu beruhigen.“

Identität ist nichts Gesichertes, Festes. Aus der Sicht Linas wird eine kindliche jüdische Identitätssuche in sehr lebendiger, persönlicher Weise literarisch nacherzählt.

„Paris ist so viel aufregender als Bagdad“

Die kulturell bevorzugte Lernweise ist das Auswendiglernen: „Ich verbringe Jahre damit, im Flur auf und ab zu gehen, ein Buch in der Hand – lesen, wiederholen, das Buch an die Brust drücken und aufsagen.“ Dass sie vierzig Jahre später selbst ein Buch schreiben würde, als Weg der Selbsterinnerung im Exil bzw. in ihrer neuen „Heimat“, das war ihr als Kind noch nicht vorstellbar, war aber doch früh innerlich angelegt.

Dann eine für Lina sehr überraschende Erfahrung: Sie lernt nun auch noch französisch und hat eine Lehrerin, die „Kinder zu mögen“ scheint. Ihr ungläubiges Erstaunen ist noch heute beim Lesen spürbar. Mona Yahias Begeisterung für Paris, für französische Künstler, sollte bis heute anhalten: „Ich wage zu behaupten, daß sie uns etwas über das Leben beibringen will“, hebt die Autorin apodiktisch hervor. „Paris ist so viel aufregender als Bagdad“, brummelt Lina plötzlich.

Laurence, eine frühe Liebe

In sehr anrührender Weise wird ihre Freundschaft zu Laurence entfaltet, ein englischer Junge, der in ihrer Nachbarschaft lebt. Lina ist ein aufgewecktes, neugieriges Mädchen, das sich abzugrenzen weiß. Und Abgrenzungen werden von ihr immer wieder eingefordert, auch und besonders gegenüber ihrer Mutter. Die lässt gegenüber ihrer wild-angepassten Tochter ab und zu „ihre Tiraden los, die ich längst auswendig kann.“

Gegenüber Laurence empfindet sie wohl Gefühle, die einer unsicheren Liebe ähneln, auch wenn das Wort im Buch nie fällt. „Seine blauen Augen durchbohren mein Herz wie ein Dosenöffner.“ Immerhin, die englische Sprache hat nun eine Bedeutung für sie. Ihre Erinnerungen an Laurence werden in ihrem Inneren in der englischen Sprache erhalten bleiben. Auch ihr Vater spricht nun mit ihm und ihr gelegentlich englisch: „Schön, daß du einen neuen Freund gefunden hast, Lina, fährt Vater auf englisch fort. Aber ist er hier draußen nicht zu dunkel? Wollt ihr nicht in dein Zimmer gehen und Monopoly spielen?“, endet das Kapitel über Laurence.

Die jüdische Geschichte Bagdads

Dann, so im Kapitel „Purim“, Exkurse über die jüdische Geschichte Bagdads: Juden machten zeitweise ein Viertel der Einwohner Bagdads aus. Hierzulande ist diese nahezu vergessen. Mona Yahia erzählt diese Geschichte, eingebunden in ihren  Erzählstrom, nach. Als sie in Bagdad eine Jugendliche war, Mitte der 1960er Jahre, vermochte sich niemand in ihrer Schule mehr vorzustellen, „daß jüdische Dichter in den zwanziger und dreißiger und sogar noch in den vierziger Jahren Gedichte in Arabisch, ihrer Muttersprache, geschrieben hatten und daß jüdische Journalisten ihr neues Königreich, ihr watan, ihr Heimatland, ihre Heimaterde mitgestalten wollten. Watan, was ist das? Würden jüdische Kinder fragen, die ein halbes Jahrhundert später geboren wurden.“

Und es wird die Anpassungsstrategie der in Bagdad verbliebenen Juden beschrieben, insbesondere nach der Staatsgründung Israel im Jahr 1948, noch viel stärker nach dem 1967er Sechstagekrieg und den zunehmenden arabischen Demonstrationen gegen die Briten, später dann gegen die Israelis: Führende Köpfe der jüdischen Gemeinde „unterschieden öffentlich zwischen Judentum und Zionismus und distanzierten sich.“ Das Misstrauen nistete sich in der jüdischen Gemeinde ein, Lina spürt dieses bereits als kleines Kind und erst recht in ihrer Schulzeit. Nach der Staatsgründung flohen über 100.000 Juden aus dem Irak, verzichteten auf ihren Pass. Sie sprachen vom Exodus. Linas Familie hingegen blieb, gemeinsam mit weiteren 3000 Juden.

Mona Yahia erzählt und erinnert diese Geschichte anschaulich. „Traue nie einem Moslem, nicht einmal im Grab, sagt ein jüdisches Sprichwort.“ Um den Ereignissen vorzugreifen: Jahre nach ihrer familiären Flucht aus Bagdad über den Iran nach Israel arbeitete Mona Yahia, vielseitig begabt, in Israel als Familientherapeutin – bis ihre Liebe und ihre Leidenschaft für die Kunst sie in den 1980er Jahren ausgerechnet nach Deutschland, nach Köln, trieb, wo sie seit Jahrzehnten lebt.

Eine Purimfeier

Eine familiäre Purimfeier. Ihr Vater schenkt der zwölfjährigen Lina einen Turm von Münzen, insgesamt anderthalb Dinar. Lina spürt die Liebe und die Tradition: „Ich schlinge Vater die Arme um den Hals und rücke ihn so fest ich kann, länger als letztes Jahr.“

Eindrücklich werden gemeinsame Spiele beschrieben. So veranstaltet Selma für alle eine Kartenspielparty, „sie redet seit Wochen über nichts anderes.“

Dann das Kapitel „Geschichten, die der Tigris erzählt“. Lina ist sieben Jahre alt und eine begeisterte Schwimmerin. Mit literarischer Fantasie wird die Lust am Schwimmen erinnert. Kurzzeitig wackelt ihre Freundschaft zu Selma: „Selma ist kräftig, besteht nur aus Armen und Beinen. (…) Sie überholt mich, spritzt mir Wasser ins Gesicht. In solchen Momenten frage ich mich, ob ich sie immer noch meine beste Freundin nennen soll.“

Als sich 1963 die antijüdischen Maßnahmen steigern überlegt ihr 15-jähriger Bruder Shuli, familiär wahrnehmbar, nach seinem Schulabschluss den Irak zu verlassen. Es sind beunruhigende Fragen nach der eigenen Zukunft, die sich auch in Linas Träume einnisten und die sie überfordern und ängstigen. Aber die Fähigkeit, gemeinsam ein gutes Leben zu führen, dominieren in Mona Yahias literarischen Erinnerungen, welche ich durchgehend mit Begeisterung und Anteilnahme gleich zweimal gelesen habe.

„Sechs Tage, ein Krieg und ein Transistorradio“

1967, Lina ist 13, ein Schock, der eindrücklich beschrieben wird: Der Sechstagekrieg. Der Schock, der in der Schule ein Gefühl der Angst und der Bedrohung auslöst. Die Lehrer versammeln sich im Lehrerzimmer: „Krieg ist ausgebrochen, sagen die Schüler. Krieg mit Israel. Mein Kopf versucht, die Nachricht in den vertrauten Bereich innerer Unruhen einzuordnen.“ Sind sie nun noch stärker bedroht, fragt sich Lina und fragt sich ihre Familie, „oder bin ich nur älter geworden?“

Vater und Mutter wählen unterschiedliche Strategien, mit denen sie glauben, überleben zu können. Die Angst nistet sich in der Familie ein. Heimlich hören sie Kol Israel, die „Stimme Israels“, ihre nahezu einzige Möglichkeit, zu ihren Verwandten in Israel indirekt doch Kontakt zu halten und deren Realität zu erfassen, unabhängig von der nationalen Propaganda. Den Krieg werden sie oder so verlieren, ist sich der kleine Freundeskreis gewiss:

„Wenn Israel geschlagen wird, verlieren wir Israel und all unsere Verwandten, und wenn Israel siegt, verlieren wir uns selbst.“ Lina fühlt sich nun schon ein wenig erwachsen, genießt jeden Triumph gegen ihre Mutter, was eindrücklich beschrieben wird. Als sich andeutet, dass Israel den Sechstagekrieg doch gewinnen wird, dass die arabische Propaganda nicht der Realität entspricht, werden sie in einem Telefonanruf vor Massendemonstrationen in Bagdad gewarnt:

„Los, raus hier. Wir wollen die Eroberung Jerusalems feiern. Laßt uns die Niederlage unseres Heimatlandes feiern!“ ist die eine innere Stimme, die rasch von der konkreten Angst vor Pogromen überlagert wird.

Ihr 1908 geborener Vater, politisch erfahren, spült familiäre Unterlagen in die Toilette, und mit dem Wasser und den Dokumenten schwimmt auch Linas Vertrauen in ihren starken Vater schrittweise hinweg: „Es ist noch nicht lange her, daß ich mich hinter ihm versteckt habe, als wäre er ein Haufen Sandsäcke.“ Am nächsten Morgen hört Lina das Schnurren einer Katze. Sie rettet diese, gießt Milch in die Schale. Und ein klein wenig rettet die 13-jährige Lina sich hierbei auch selbst.

Als die arabische Niederlage gegen Israel nicht mehr geleugnet werden kann versammeln sich im Sommer 1967 die zornigen arabischen Massen auf dem Platz der Befreiung in Bagdad. Die Szenen sollten sich in den Jahrzehnten danach immer wieder wiederholen, mit unterschiedlichen Protagonisten. „Ich werde mehr als sechs Tage brauchen, all das zu Papier zu bringen, dreißig Jahre später, wenn ich davon als meinem ersten Krieg spreche. Am sechsten Tag wird Dudis Vater verhaftet.“ So endet dieses dramatische, 32 Jahre später erinnerte und niedergeschriebene Kapitel.

Emigranten dürfen keine Sammler sein: Dudis Festnahme

Die 13-jährige Lina und ihre jüdischen Freundinnen erleben nach dem Sechstagekrieg massive Einschränkungen. Viele jüdische Einrichtungen, sogar ihr Sportplatz, wird geschlossen. Sicherheitsbeamte durchsuchen Wohnungen, Dudis Vater wird „vom Frühstückstisch weg verhaftet.“ Zusammen mit 70 weiteren, zeitgleich verhafteten Juden muss er eine Gefängniszelle teilen. Was dies bedeutet ist Lina weitgehend bewusst. Die Angst dominiert in der Erzählung jedoch nicht ihren Alltag. Lina weiß sich zu helfen, findet neue Freiräume, um ihr gutes Leben als wissbegierige Jugendliche weiter zu führen.

Bei einer Unternehmung umarmt Dudi sie plötzlich, für Lina eine problematische Erfahrung, „ich weiß einfach nicht, wie ich zwischen einer freundlichen Berührung der Zuneigung und einer gierigen unterscheiden soll.“

In der elterlichen Wohnung kommen immer wieder jüdische Freunde zusammen, um sich über die neuesten Schreckensnachrichten und Einschränkungen im privaten Kreis auszutauschen. Linas Mutter äußert nun erstmals den Wunsch, aus dem Irak zu fliehen: „Wallah, ich würde auf der Stelle mit nichts als meinen Kleidern auf dem Leib verschwinden, wenn sie uns nur gehen ließen.“ Emigranten dürfen keine Sammler sein, diese seltsame Einsicht dämmert Lina irgendwann. Nun ist sie sauer, dass man sie nicht früher hierauf vorbereitet hat.

Der gefährliche Stern: Shulis Festnahme

Linas Bruder Shuli erhält „Besuch“. Sicherheitsbeamte durchsuchen das Zimmer des 19-Jährigen. Sie suchten nach „zionistischer Propaganda“, wird ihnen auf Nachfrage nüchtern mitgeteilt.

Ein Klassenkamerad hat Shuli hereingelegt: Er solle ihm einmal zeigen, wie denn überhaupt „der Zionistenstern aussieht“. Shuli, politisch unerfahren, malt den Zionistenstern an die Tafel. Ab jetzt ist er Gegenstand „begründeter“ geheimdienstlicher Operationen. Dann nehmen sie Shuli mit, bringen ihn in ein Gefängnis. Mehrere Wochen muss er dort verbringen, Linas Besuche mit ihren Eltern im Gefängnis sind bedrückend. Jeder in der Familie geht anders hiermit um. Man gibt sich wechselseitig „die Schuld“, irgendwo muss die Verzweiflung ja bleiben: „Wie töricht von ihm, es hätte es besser wissen müssen…“ bricht es bei einer Autofahrt aus ihrem Vater heraus. Linas Mutter hat ein anderes Empfinden, hat vor allem mütterliche Schutzimpulse: „Das ist doch typisch! Dein Sohn ist gerade verhaftet worden, und du hast nichts Besseres zu tun, als ihm die Schuld zu geben“, heißt es auf Seite 207.

Die Angst in den jüdischen Familien Bagdads wächst und wächst. Das Abendessen, nun zu Dritt, verkörpert den Verlust, „wie ein Tisch, dem ein Bein fehlt.“

Jom Kippur: Ein Gottesdienst

Jom Kippur feiern sie gemeinsam in einer Synagoge. Auch dort lässt sich die Angst, die Bedrückung, nicht länger zurück halten. Lina sucht ihren Vater im Gottesdienst in dem für Männer zugedachten Raum auf: „Vaters Gesicht erhellt sich. Ich schlinge ihm die Arme um den Hals. Seine Umarmung erstickt mich fast, als würde er gleichzeitig Tochter und Sohn drücken.“ Mona Yahia, die mehrfache Emigrantin, internationale Künstlerin und in Israel ausgebildete Familientherapeutin, erinnert und findet stets die passenden Beschreibungen für die kindliche jüdische Angst in Bagdad.

Lina erhält Besuch von einem Freund, Adel, der auch in Haft gesessen hat. Sie erfährt von dem Schrecken, der brutalen Gewalt, die in den irakischen Haftanstalten allgegenwärtig war und ist. Sechs Wochen lang vermag sie ihren Bruder aus innerer, überwältigender Angst nicht mehr zu besuchen: „Ich habe nicht das Herz, ihn in diesem Loch eingesperrt zu sehen, niedergeschlagen wie einen Zehnjährigen, der in die Hose gepinkelt hat“, heißt es auf Seite 225.

40 Seiten weiter dann eine Beschreibung von Linas Besuch im Gefängnis. Shuli ist blasser geworden, hat Ringe unter den Augen. Über seine Not mag er bei dem Besuch nicht zu sprechen. Seine Mutter erzählt ihm von weiteren Festnahmen, auf der Suche nach einem „angeblichen zionistischen Spionagering.“ Nur noch 3000 Juden lebten zu diesem Zeitpunkt in Bagdad. 33 Jahre zuvor, 1936, waren es noch 120.000 bis 130.000  jüdische Bürger gewesen. Seit über 2700 Jahren hatte es im heutigen Irak jüdische Gemeinden gegeben.

Irakische Juden sind in Bagdad nun, nach dem 1967er Krieg, nur noch Verdächtige, Spione. Sie verkörpern für die Regierung, die den Angriffskrieg gegen Israel begonnen und verloren hat, das feindliche „zionistische Gebilde“.

Bald darauf fordert ein Richter die Todesstrafe für diesen vorgeblichen Spionagering: „Ihre Hinrichtung wird die Träume der zionistisch-imperialistischen Allianz zerstören und unseren heldenhaften Truppen an der Front moralische Unterstützung geben“, formuliert Yahia .

1969: Die öffentlichen Hinrichtungen von neun Juden

Am 27.1.1969 werden neun Juden in Bagdad öffentlich hingerichtet. Hunderttausende feierten diesen barbarischen Akt. Viel hat sich nicht geändert seitdem, in dem vergangenen halben Jahrhundert.

Im Kapitel Tahrir-Platz wird die grausame Nachricht von der Hinrichtung der vorgeblichen Spione nacherzählt. Sie, die „Verräter, die heimtückisch den Boden für die zionistischen Banditen und deren Aggression vom Juni `67 bereitet haben. Verräter“, werden öffentlich hingerichtet. Die 14jährige Lina sieht ihren starken Vater erstmals weinen, schluchzen. „Und so laut!“ Die Erinnerung ist auch über ein halbes Jahrhundert später bei der Lektüre gegenwärtig. „Unfähig, ihn so weinen zu sehen, gehe ich in mein Zimmer und schließe die Tür.“

„Anatomie der Hoffnung“: Neue Pässe?

Auf S. 298 dann das für Unglaublich gehaltene: In der Schule hatte Linas Freundin Selma noch davon geträumt, dass der Westen, „Frankreich, Belgien, Italien, Holland“ Druck auf die Regierung ausübten, damit diese die noch in Bagdad verbliebenen Juden frei lässt: „Vielleicht bekommen wir bald schon alle Pässe! Pässe, Lina, Pässe, kannst du dir das vorstellen“ fragt Selma. Als Lina danach nach Hause kommt erlebt sie ein Wunder: „Shuli, in Fleisch und Blut, beugt sich über den Gasherd. Lina fällt ihrem großen Bruder um den Hals.“ Wir sind auf Seite 299.

Das gemeinsame Leben nimmt scheinbar einen neuen Anfang, geht weiter. Shuli, der Büchernarr, wirkt innerlich ungebrochen, trotz der Hafterlebnisse. Und doch hat er nur noch eine Hoffnung: Die Emigration, wohin auch immer.

Und doch vermag ihr großer Bruder nicht ganz daran zu glauben: „Vergiß es, Lina. Die lassen uns nicht raus. Nicht in einer Million Jahre.“ Lina, die 14-Jährige, die ihren Bruder wieder hat, ist sich nun ihrer ausweglosen Situation in Bagdad bewusst: „Ich will hier nicht groß werden.“ „Und ich will hier nicht verrotten“, fügt Shuli hinzu.

Gemeinsam spinnen sie 1968 Fluchtpläne aus diesem von arabischen Staaten umgebenen Land: Unsere einzige Chance ist die Grenze zum Iran, dem Schah sei Dank – möge Gott ihm ein langes Leben schenken.“ Shuli möchte nur noch weg, notfalls sogar ohne seinen Vater. Aber selbst der Weg in den Iran, in dem seinerzeit noch der Schah regierte, scheint verschlossen: „Seit der Irak gegen die Kurden Krieg führt, ist es so gut wie unmöglich, in den Norden zu kommen. (…) Dann sitzen wir in der Falle.“

Der 19-Jährige wird früh mit den harten Realitäten konfrontiert. Wir sind auf Seite 309. Gut 100 Seiten weiter sollte die Flucht in den Iran gelingen, mit Hilfe von bezahlten kurdischen Schmugglern.

Freiheitsmomente: Ein Geheimabkommen mit Israel?

Ohne Hoffnung vermag man nicht zu leben, besonders als Jugendliche. Vereinzelt erleben Lina, ihr Bruder Shuli und ihre Eltern solche Momente der Hoffnung.

In der jüdischen Szene Bagdads tauchen Gerüchte auf, dass man die Juden irgendwann doch ausreisen lässt. Dass die israelische Regierung mit dem Irak, „natürlich hinter den Kulissen“, ein Geheimabkommen abgeschlossen habe. Es gibt nun sogar ein Büro, in dem man solche Anträge auf Ausreisepapiere stellen kann. Als ihre Eltern das Büro wieder verlassen legt ihr Vater erstmals öffentlich den Arm um seine Frau. Das hat Lina noch nie bei ihren Eltern erlebt, solche kurzzeitige intime Nähe in der Öffentlichkeit.

In ihrem kleinen Freundeskreis entfalten sich Fantasien, was man zuerst machen werde, wenn man wirklich die ersehnten neuen Pässe bekommt: „Ich glaube, ich kaufe mir einen Davidstern als Anhänger, hänge ihn mir um den Hals und spaziere vor der irakischen Botschaft auf und ab“, ist eine der auftauchenden Fantasien. Vor allem jedoch müsse und werde man sich einen neuen Vornahmen zulegen, um den Neuanfang im Exil öffentlich und innerlich zu dokumentieren.

„Nicht dazugehören und andererseits dazuzugehören“

Dann, im Kapitel Wörterbuch des Hasses, die abgrundtiefe Enttäuschung: Das besagte Büro ist ganz plötzlich geschlossen; die Schließung – „bis auf Weiteres“ – , wird lapidar auf einem Zettel an der Tür mitgeteilt. Lina mag nicht mehr lernen, selbst das Lernen neuer Sprachen erscheint ihr als sinnlos. Sie mag nicht mehr „nicht dazugehören und andererseits dazuzugehören“. Gemeinsam mit Selma überlegt sie Strategien, um das erlernte Arabisch nun aktiv zu verlernen. Das Arabisch habe sie doch in ihren vergangenen 15 Jahren zum Schweigen gebracht. Es habe ihnen nur und vor allem Ängste vermittelt, Ängste vor einer Ausstoßung. Die öffentlichen Hinrichtungen haben ihnen endgültig deutlich gemacht, dass die Regierung, die Mehrheitsgesellschaft wirklich keinen Spaß mehr versteht: „Wenn ich Arabisch vergesse, vergesse ich vielleicht auch die Angst“, kommt ihnen als Überlebensstrategie in den Sinn. Nun möchten sie, die jüdischen Jugendlichen, nicht mehr länger „Fremde in deinem eigenen Geist“ sein.

„… weil wir ihnen ein Beispiel gegeben haben: den Staat Israel“

Im Kapitel Geheimnisse – inzwischen sind wir auf Seite 339 – , erfahren sie von einem jüdischen Freund, Sasson, dem tatsächlich, trotz aller militärischen Kontrollen, trotz der  demonstrativen öffentlichen Hinrichtungen als Methode der Abschreckung, die Flucht über die Grenze in den Iran gelungen ist. Ein Kurde brachte ihn, gegen Geld, über die als unüberwindlich geltende Grenze: „Die Nachricht von seiner Flucht in den Iran rüttelte unsere Gemeinde wach“, erinnert sich die Erzählerin mittels der Protagonistin Lina.

Immer wieder gelingt Einzelnen die Flucht. Verzweifelt sucht man nun Informationen über weitere gelungene Fluchten und Fluchtwege. Und die Frage, wer ihnen bei der Flucht helfen kann. Wie können sie einen kurdischen Fluchthelfer aufspüren?

Kurz darauf nehmen irakische Polizisten willkürlich Dutzende von jüdischen Jugendlichen fest, sperren sie ein paar Tage ein und verprügeln sie systematisch. Die Gefahr einer weiteren Hinrichtungswelle gegen Bagdader Juden ist allen bewusst. Lina, die Jugendliche, kämpft mit vielen Ängsten. Ihre Identität wird immer brüchiger. Verzweifelt versucht sie, durch Widerspruch gegen ihre Eltern und die Außenwelt Reste ihrer Kindheit festzuhalten.

Dann gelingt engen Freunden die Flucht, sogar Linas Physiklehrer ist verschwunden, hat es über die Grenze geschafft. Verzweifelt packen sie zwei Taschen mit dem Allernotwendigsten, um sich auf eine Flucht vorzubereiten. Je länger sie zögern desto größer die Gefahr, dass die Regierung mit drakonischen Maßnahmen die letzten Fluchtwege verschließt.

Was soll sie mitnehmen, fragt sich die 16-jährige Lina: „Ich stürme in mein Zimmer, packe Teddy-Pascha, schleudere ihn in Richtung Papierkorb. Zur Hölle mit Stroh, mit Stein, mit unserer gesamten Vergangenheit.“

Nachts klingelt es, die Vermittler kurdischer Schmuggler erscheinen doch noch. Ihr Vater, der Sicherheit so sehr braucht, ist zutiefst verunsichert durch auch nur geringe zeitliche Unzuverlässigkeiten.

Das Geld für die Schmuggler spiele nicht mehr die Hauptrolle, hört Lina: Auch die Kurden „bringen uns Sympathie entgegen. Nicht nur wegen unserer gemeinsamen Unterdrücker, sondern weil wir ihnen ein Beispiel gegeben haben: den Staat Israel“, heißt es auf Seite 389.
Sie, die Familie, fährt gemeinsam los, alleine mit ihren beiden Koffern, hinein in die Dunkelheit der Nacht. Richtung iranischer Grenze. Sie müssen ihren kurdischen Schmugglern vertrauen. Andere Möglichkeiten haben sie nicht mehr. Und doch liegt das ungewisse Leben vor ihnen. Möglicherweise: „Zögernd lehne ich mich gegen Mutters Schulter. Keine Zurückweisung“, erinnert sich Lina Jahrzehnte später. „Sie wirkt ebenfalls weniger nervös, fühlt sich offenbar sicherer, je weiter wir uns von unserem Zuhause entfernen.“ So endet das vorletzte Kapitel, Seite 392.

Grauer Volkswagen oder: „Eure Namen lauten ab jetzt: Hamdi und Omar“

„Nur noch zwei Tage, dann müssen wir uns nie mehr verstecken.“ Die Hoffnung ihres Vaters wirkt ungebrochen, trotz der Ungewissheit, in die sie ihre Flucht aus Bagdad gebracht hat. Sie müssen ihren kurdischen Begleitern vertrauen, die sie nicht kennen, beim Weg über die Grenze hinein in den Iran: „Falls ihr gefragt werdet, eure Namen lauten ab jetzt: Hamdi und Omar“ sagt einer ihrer Begleiter. Und wenig später noch einmal die dringliche Bitte an Lina und Shuli: „Vergeßt eure falschen Namen nicht. Wenn ihr gefragt werdet, seid ihr meine Gäste aus Bagdad“. Gemeinsam wollten sie Verwandte in Halabja besuchen. Die Angst innerhalb der Familie steigt wieder. Ein Volkswagen hinter ihnen macht ihnen abgrundtiefe Angst. Sind sie doch noch verraten worden, auf dem Weg in die Fremdnis, die erhoffte Freiheit? Ihr Wagen bricht aus, mühsam vermögen ihn die Bremsen doch noch zu halten. Linas Mutter ist wie gelähmt. Sie rührt sich nicht mehr. Nur ihr 64-jähriger Vater scheint die Ruhe zu bewahren. Er spricht „ruhig, vernünftig, fordernd, flehend“ mit seiner Frau. Dann scheint auch er zu resignieren. Diese tödliche Angststarre hat sie schon einmal gezeigt, „während des Pogroms 1941“, erinnert er sich. Seinerzeit war seine heutige Ehefrau 17 Jahre alt – so alt wie Lina nun: „Sie war zwei Tage lang völlig erstarrt, hat sich im Keller versteckt, während die Plünderer das Haus durchwühlten und alles verwüsteten.“ Körperliche Gewalt überfordert sie vollständig.

Die Flucht geht weiter mit einem Maultier, über die irakischen Berge hinein in den rettenden Iran. Die iranischen Grenzposten hätten vom Schah die Order erhalten, jüdische Flüchtlinge passieren zu lassen. Dieses Gerücht gibt ihnen ein wenig Sicherheit. Den Schlüssel des Hauses, den nun niemand mehr verwenden kann, hat Mutter mitgenommen. Es gibt kein Zurück mehr nach Bagdad, „egal, was passiert“, das versichern sie sich immer wieder, um die Versuchung der tödlichen Angst abzuwehren. Der weiße Schnee der Berge vermittelt ihnen die Hoffnung, dass ihre Schmuggler sie wirklich bis in den Iran gebracht haben.

„Fremde! Geschafft! Wir sind geflohen, haben unsere Freiheit gefunden. Flucht. Freiheit“ jubelt es voller Zweifel auf Seite 421 in Lina. Flucht-Freiheit. Sie voneinander zu trennen wird mich fünfundzwanzig Jahre kosten.“ So endet diese wunderbare, berührende Erzählung der großen Künstlerin und Schriftstellerin Mona Yahia.

Ein Nachtrag: 1970 kamen sie in den Iran. Ein Jahr später führte ihre Reise sie weiter nach Israel, wo Mona Yahia Soldatin war. An der Tel Aviver Universität studierte sie Psychologie und Französisch, was sie mit einem B.A. beendete. Nach einem Aufenthalt in Paris, die Stadt ihrer großen Liebe, studierte sie an ihrer Tel Aviver Universität Klinische Psychologie und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss ab 1980 als Familientherapeutin. 1980 kam sie dann, anfangs weitgehend „sprachlos“, nach Deutschland und studierte an der Gesamthochschule Kassel Kunst. Bald zog sie nach Köln, wo sie noch immer wohnt. 28 Jahre später erschien Mona Yahias großes, unzeitgemäßes Werk Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom in London auf Englisch, zwei Jahre später auf Deutsch. Es folgte eine Taschenbuchausgabe. Seit 15 Jahren sind Mona Yahias literarischen Erinnerungen an ihre Kindheit in Bagdad auf Deutsch nur noch antiquarisch erhältlich.

Und nun, nach dem Pogrom der Hamas vom 7.10.2023, unterstützt durch Teherans Terrortruppen, ist ihr Werk endlich auch in Israel auf Ivrith erschienen. Haaretz hat soeben über ihr Werk der Weltliteratur geschrieben. Im Februar 2024 stellte Mona Yahia ihr Buch mehrfach in Tel Aviver Buchhandlungen vor.

Mona Yahia: Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom. Eichborn Verlag.

Das Buch ist zur Zeit nur noch antiquarisch erhältlich.

Weiterführende Literatur

Inga Rogg (2023): Vom jüdischen Erbe in Bagdad ist kaum etwas geblieben, NZZ 20.6.2023: https://www.nzz.ch/international/irak-vom-juedischen-erbe-in-bagdad-ist-kaum-etwas-geblieben-ld.1740489

Iris Noah: Purim aus: Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom, haGalil kidz https://kidz.hagalil.com/bagdad/

Sowie Iris Noah: https://buecher.hagalil.com/eichborn/yahia.htm

Mona Yahia (2023): Lesung aus „Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom: https://www.youtube.com/watch?v=Rrebk3FARug

Portrait Mona Yahias: https://migration-audio-archiv.de/mona-yahia/

Sara Manasseh (2011): Bagdad. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 1: A–Cl. Metzler, Stuttgart/Weimar.

Tamar Morad, Dennis Shasha, Robert Shasha (Hrsg.): Iraks letzte Juden – Erinnerungen an Alltag, Wandel und Flucht. Aus dem Englischen von Anke Irmscher. Wallstein, Göttingen 2012.

Die letzten Juden von Bagdad | DW Deutsch: Deutsche Welle: https://www.youtube.com/watch?v=lNxqL2mqREA