Rede Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Gedenkveranstaltung der Stadt Halle 9. Oktober
„Fünf Jahre sind seit dem Anschlag in Halle verstrichen. Der 9. Oktober hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.
Diesen Jahrestag zu begehen fällt nicht leicht. Es führt uns vor Augen, dass die Überlebeden einen täglichen Kampf mit einer neuen Realität austragen, die sie sich nicht ausgesucht haben.
Umso bewegender ist es, so viele Menschen heute hier versammelt zu sehen. Und es erfüllt mich mit Hoffnung, in viele Gesichter zu schauen, die Solidarität und Mitgefühl ausdrücken.
Es gibt viele Arten über das Leben derer, die uns entrissen wurden zu sprechen, und es gibt auch nicht nur die eine richtige Art zu überleben und über das Überleben zu erzählen. Es ist an uns, zuzuhören und die Überlebenden und die Angehörigen ihre Geschichte erzählen zu lassen. Es ist unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass unser Gedenken diese Vielschichtigkeit abbildet.
Im Prozess in Magdeburg begegneten uns Zeugen und Überlebende, die trotz der unfassbaren Gewalt, die sie erlebt haben, ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Sie standen mutig und aufrecht vor dem Täter und setzten seinem Hass und der fehlenden Reue für seine Tat etwas entgegen, das viel stärker ist als Gewalt: Sie setzten sich füreinander ein, unabhängig von Religion oder Herkunft. Sie wollten ein Leben in Angst vor Anschlägen und rechtextremer Gewalt nicht kampflos akzeptieren.
Meine Damen und Herren,
auch wenn es dem Täter glücklicherweise nicht gelang, die Tür der Synagoge zu durchbrechen, die die 52 betenden Menschen von ihm trennte, wäre es ein Zynismus sondergleichen, von einem „Versagen“ seiner selbstgebauten Waffen zu sprechen. Der Anschlag von Halle scheiterte – und wurde doch nicht verhindert. Das muss leider immer wieder betont werden. Denn es wird weiterhin auch die Erzählung gesponnen, in der eine dicke Holztür den betenden Menschen das Leben gerettet haben soll. Dass seine Waffen nicht versagt haben, stellte der Rechtsterrorist unter Beweis, indem er auf offener Straße die Passantin Jana Lange ermordete. Und ebenso, als er kurze Zeit später im Kiez Döner, getrieben von rassistischem Hass, Kevin Schwarze erschoss. Schwarze wollte dort einfach nur sein Mittagessen zu sich nehmen. Die Opfer wurden brutal aus dem Leben gerissen.
Die Überlebenden des Anschlags in Halle und Wiedersdorf wurden mit der blutigen Kontinuität des rechtstextremen und antisemitischen Terrors nach 1945 konfrontiert. Dieser hat nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Sicherheitsgefühl für immer verändert. Es ist nicht nur die Erinnerung an den Tag selbst, sondern auch der ständige Kampf mit Ängsten und einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat sowie seiner Sicherheitsinstitutionen.
Und das Gefühl, nicht geschützt zu sein, das kennen viele Jüdinnen und Juden seit dem Terror des 7. Oktober 2023 am eigenen Leibe. Diese Tatsache muss Politik und Gesellschaft aufwecken. Sie stehen in der Pflicht, dieses Vertrauen Stück für Stück wieder zurückzugewinnen.
Der bisher potenziell tödlichste antisemitische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik gelang nicht. Aus Glück. Glück, das Jana Lange und Kevin Schwarze nicht hatten. Ich möchte explizit der Jüdischen Gemeinde Halle, Hillel Deutschland, dem Tekiez und der Soligruppe 9. Oktober meinen Dank für ihre unermüdliche Arbeit aussprechen.
In Erinnerung an diesen Tag werden wir uns noch viel stärker als bisher einsetzen für den Respekt vor den verschiedenen Religionen, einsetzen für den Respekt vor unterschiedlicher Herkunft, einsetzen für die Menschenwürde.
Das schulden wir den Opfern des Anschlags; und den Überlebenden!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“