Benny Morris, einer der israelischen „Neuen Historiker“, legte 2008 eine umfangreiche Studie vor: „1948. Der erste arabisch-israelisch Krieg“. Erst jetzt liegt von diesem differenzierten und erhellenden Buch eine deutsche Übersetzung vor. Der Historiker widerlegt darin nicht wenige Legenden und Schönschreibungen, was unterschiedlichen Seiten nicht gefallen wird, aber gerade für einen besonderen Wert steht.
Von Armin Pfahl-Traughber
Was ereignete sich vor, während und nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht nur aus historischen Gründen von Interesse, denn mit der jeweiligen Deutung wird auch die Gegenwart des Nahost-Konflikts interpretiert. Insofern bewegt sich jeder Autor zu dieser Frage auf politischem Glatteis, auch wenn er sich als differenzierter Historiker mit fester Orientierung an den archivarischen Quellen versteht. Bei Benny Morris, der das voluminöse Buch „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“ vorgelegt hat, ist die ganze Sache sogar noch komplizierter. Er ist emeritierter Geschichtsprofessor an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Zahlreiche Bücher legte Morris zum Themenkomplex vor. Zuletzt erschien gar eine Biographie über einen britischen „Superspion“. Er wird außerdem den „Neuen Historikern“ zugerechnet. Gemeint ist damit eine Denkschule, welche die etablierte Betrachtungsweise auf den Nahost-Konflikt hinterfragte. Nicht Apologie, sondern Fakten wollten sie ins Zentrum stellen.
Mit diesem Ansatz, der für Historiker aber eigentlich selbstverständlich sein sollte, ging Morris ans Werk. Sein Buch „1948“, das bereits 2008 erschien und erst jetzt in deutscher Sprache vorliegt, basiert auf umfangreichen Quellenfunden. Es ist auch die Bilanz eines Forscherlebens zum Thema. Nicht nur die hohe Fachkenntnis beeindruckt aber hier, werden doch auch differenzierte Wertungen vorgenommen. Diese mögen sowohl die dogmatischen Apologeten der seinerzeitigen israelischen Politik wie die erklärten gegenwärtigen Feinde des jüdischen Staates verstören. Aber mitunter sind die Autoren, die einen Platz zwischen den Stühlen einnehmen, die interessanteren Wissenschaftler. Und genau das ist der Fall bei Morris. Seine Chronologie der Ereignisse ist anstrengend zu lesen, zumal er sich immer wieder in Details unterschiedlicher Wichtigkeit verstrickt. Dies gilt insbesondere für die Darstellung der militärischen Konflikte, gehen dabei doch manchmal die differenzierten Deutungen des jeweils Geschilderten in der Stoffmenge verloren.
Am Beginn steht ein weiter historischer Rückblick, der die arabisch-jüdischen Konflikte in einem breiten Kontext thematisiert. Danach geht es um das frühe 20. Jahrhundert mit den ersten zionistischen Siedlungen. Es habe sich dabei häufig um freie Landkäufe gehandelt, nicht um koloniale Okkupationen. Morris erinnert auch an einschlägige Pogrome. Dabei blickt er nicht nur auf die Gewalttaten von arabischer Seite, auch die „Irgun“-Taten sind häufig Thema. Gleichwohl veranschaulicht die Darstellung, worin jeweils die Konfliktverschärfung bestand. Eine Akzeptanz für die jüdische Einwanderung und spätere Staatengründung gab es kaum. Der eskalierende Bürgerkrieg wird dann ausführlich von Morris geschildert, wobei bestimmte Ereignisse eine differenzierte Untersuchung erfahren. Dies gilt etwa für Deir Yassin und die dortigen Gräueltaten. In ihren Dimensionen wurden sie in einer folgenden Medienkampagne übertrieben vermittelt. Allein diese Differenzierung verstört wohl beide Seien, sie spricht aber für Morris‘ wissenschaftliche Qualität.
Er erinnert auch an ein einfaches historisches Faktum: Der Angriffskrieg von 1948 ging nicht von Israel, sondern von den arabischen Staaten aus. Sie beabsichtigten von Anfang an Israels Vernichtung. Dabei agierten häufig antisemitische Fanatiker wie etwas Mohammed Amin al-Husseini, was bei Morris immer wieder Thema ist. Er korrigiert darüber hinaus viele Legenden, etwa die von einem zionistischen Vertreibungsplan. Dabei handelt es sich um eine bloße Erfindung, darf doch eher von einem kumulativen Prozess ausgegangen werden. Diese Auffassung macht viele Ereignisse nicht weniger schlimm, eine differenzierte Einordnung des Verlaufs wird so aber besser möglich. Auf derartige Einsichten machen die abschließenden Schlussfolgerungen aufmerksam, worauf man aber als Leser mit Positionierungsinteressen lange warten muss. Bilanzierend betrachtet handelt es sich um eine bedeutsame und gewichtige Studie, die ein Namens- und Sachverzeichnis bei über 600 Seiten verdient gehabt hätte. Und dann noch: Die anderen Bücher von Morris warten auf ihre Übersetzung.
Benny Morris: 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg, Hentrich & Hentrich 2023, 646 S., Euro 32,00, Bestellen?