Familienbesuch in Israel: Kein Wort vom Frieden

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Demonstration für ein Geisel-Abkommen, Foto: haGalil

Ende Juni fuhr ich nach Israel, um meine Familie zu besuchen. Israelische Kampfflugzeuge kreisten unablässig über unserem Haus in Haifa, und die Angst war ständig präsent. Die Zeitungen berichteten, dass der Sprecher der Israelischen Streitkräfte (IDF) erklärte, das Militär werde noch mindestens sechs Monate lang im Gazastreifen bleiben und die Grenze zu Ägypten kontrollieren. Es gibt keine Anzeichen für ein Geiselabkommen; die gesamte Region wird weiter zerstört, eine Beruhigung ist nicht in Sicht.

Von Mati Shemoelof
Zuerst erschienen bei: Berliner Zeitung, 14.07.2024

Besonders beunruhigend ist, dass auch Benny Gantz, der die israelische Regierung verlassen hat, offenbar nicht in der Lage ist, mit der Opposition einen Ausweg – im Sinne eines Friedensprozesses mit den Palästinensern – zu erarbeiten. Im Israel nach dem 7. Oktober werden der Friedensprozess, das Ende der Besatzung und die Gründung eines palästinensischen Staates nicht als Lösung für die Eskalation, sondern als Belohnung für die palästinensische Aggression angesehen.

Israel steht an einem Scheideweg: Der eine Weg führt zu einem Geiselabkommen und einem dauerhaften Waffenstillstand, der andere zu einer Verschärfung der Kämpfe, möglicherweise auch gegen die Hisbollah im Libanon und in Zukunft vielleicht sogar gegen den Iran.

Die Angst vor einem bevorstehenden Krieg mit der Hisbollah aus dem Norden ist unter meinen Familienmitgliedern spürbar. In Haifa gibt es schon jetzt kein GPS-Signal wegen des anhaltenden militärischen Konflikts mit der Hisbollah.

Westliche Länder, darunter die USA, Großbritannien und Frankreich, haben ihren Bürgern bereits geraten, den Libanon zu verlassen. Die New York Times veröffentlichte am 2. Juli einen Text, in dem auch Eyal Hulata zu Wort kommt. Der ehemalige nationale Sicherheitsberater Israels ist noch immer gut mit hochrangigen Militärs vernetzt. „Das Militär unterstützt ein Geiselabkommen und einen Waffenstillstand voll und ganz“, sagte er. Im Militär habe man begriffen, dass eine Pause in Gaza eine Deeskalation im Libanon wahrscheinlicher mache.

Ebenfalls am 2. Juli 2024 erklärte der stellvertretende Führer der Hisbollah, dass der einzige sichere Weg zu einem Waffenstillstand an der libanesisch-israelischen Grenze ein vollständiger Waffenstillstand im Gazastreifen sei.

Ich fuhr mit einem Freund ans Meer, der mir seine Ängste über die Zukunft Israels anvertraute. Das Klima war drückend heiß, und die Luft war schwer vor Feuchtigkeit. Die Quallen waren bereits nach Süden gewandert und hatten möglicherweise schon Ägypten erreicht. Ich hörte meinem Freund zu und spürte, wie sehr ihn der Gaza-Krieg verstörte.

Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen, der größtenteils von der israelischen Armee zerstört wurde, und Zehntausende von Unschuldigen wurden verletzt oder getötet. Der Krieg betrifft auch die Bewohner der besetzten Gebiete, die unter den gewalttätigen Aktionen der Siedlermilizen leiden, die häufig von der israelischen Armee und den Polizeikräften unter dem Einfluss des Sicherheitsministers Ben Gvir und Finanzminister Smotrich unterstützt werden. Die Armee marschiert wöchentlich in die besetzten Gebiete ein, wobei häufig unschuldige Menschen getötet werden. Die gewalttätigen Siedler greifen die Dörfer der Palästinenser an, es gibt niemanden, der sie aufhalten könnte.

Der wirtschaftliche Schaden des Gaza-Krieges wirkt sich auch auf die Nachbarländer Ägypten, Libanon und Jordanien aus. Nach einem Bericht der New York Times, der sich auf Schätzungen der Vereinten Nationen stützt, hat der Krieg in nur drei Monaten 10,3 Milliarden Dollar vernichtet, was 2,3 Prozent des gemeinsamen BIP dieser drei Länder entspricht.

Ägypten hat mit dem Verlust von Einnahmen aus dem Suezkanal-Verkehr und dem Tourismus zu kämpfen und befindet sich nach acht Monaten in einer schwierigen Lage.

Der Libanon, ohnehin schon eines der ärmsten Länder der Welt, sieht sich mit der Vertreibung von Hunderttausenden von Einwohnern aus dem Südlibanon konfrontiert, weil er einen Krieg befürchtet. Schon vor dem Krieg stand der Libanon am Rande des Bankrotts, und nun hat sich die Lage durch den Verlust der Einnahmen aus dem Tourismus und die drohende Gefahr eines Konflikts noch verschlimmert.

Das Wort „Frieden“ kommt in den Medien nicht vor

Während meines Besuchs ist mir aufgefallen, dass das Wort „Frieden“ in den Medien nicht vorkommt und dass es kein wirkliches Gespräch über die Zukunft der israelisch-palästinensischen Beziehungen gibt. Doch wie soll es weitergehen, sollten eines Tages die Geiseln freikommen und ein Waffenstillstand erreicht werden? Es gibt mindestens drei Möglichkeiten:

1. Vollständige Annexion des Gazastreifens und Errichtung von israelisch-jüdischen Siedlungen auf dem Gebiet des Gazastreifens. Diese Option wird von den rechtsextremen Ministern Ben Gvir und Smotrich favorisiert. Es gibt sogar noch radikalere Stimmen in der rechtsextremen Bewegung, die eine Wiederbesetzung und Besiedlung des Südlibanon in Erwägung ziehen.

2. Der Gazastreifen wird von der israelischen Armee kontrolliert. Dieses Szenario würde wahrscheinlich zu zivilem Widerstand und einer Stärkung der Hamas führen.

3. Ein umfassender Friedensprozess mit den Palästinensern, der unter der Schirmherrschaft internationaler Mächte und unter Vermittlung gemäßigter islamischer Länder wie Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und Katar stattfindet. Dies würde die Ausweisung der Hamas-Führer, der Wiederaufbau des Gazastreifens und die Übertragung der Kontrolle über den Gazastreifen an die Palästinensische Autonomiebehörde beinhalten.

In einem Interview mit Channel 14 lehnte Netanjahu die erste Option ab und nannte die Annexion des Gazastreifens eine unrealistische Idee. Netanjahu strebt die zweite Möglichkeit an. Warum diskutieren weder Netanjahus Koalition noch Gantz’ Opposition über die dritte Option?

Offenbar hat inzwischen selbst die Opposition Angst vor einem palästinensischen Staat, selbst wenn dieser entmilitarisiert wäre. Die Mentalität des „ewigen Volkes“ hat sich anscheinend etabliert. Diese Sichtweise entmenschlicht die Palästinenser als „Amalek-Saat“, die eine kollektive Schuld an den Aktionen der Hamas trügen.

Der Begriff „Am HaNetzach“ (Das ewige Volk) drückt die Vorstellung aus, dass das Volk Israel ewig sei, seit der Antike existiere und trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen für immer weiterbestehen werde. Die „Saat von Amalek“ bezieht sich auf die Nachkommen von Amalek, einem Volk, das in der hebräischen Bibel erwähnt wird. Amalek gilt als einer der traditionellen, mythischen Feinde der Israeliten. Nach dem Massaker am 7. Oktober verwendete das israelische Regime diesen Begriff für die Palästinenser im Allgemeinen und nicht nur für die Hamas.

Bidens Vorschlag: Geiselabkommen und die Beendigung des Gaza-Konflikts

Dennoch könnten sich mutige Führungspersönlichkeiten über die öffentliche Meinung hinwegsetzen, wie es der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin tat, als er das Osloer Abkommen verfolgte, obwohl er anfangs für ein hartes Vorgehen gegen palästinensische Demonstranten während der ersten Intifada eintrat. Rabins Engagement führte zu einem Friedensabkommen mit Jordanien, das Israel sogar gegen iranische Raketenangriffe verteidigte.

Eine Umfrage des israelischen Senders Channel 11 (2. Juni 2024) zeigt, dass 40 Prozent der Bevölkerung den von Präsident Biden vorgeschlagenen Rahmen für ein Geiselabkommen und die Beendigung des Gaza-Konflikts unterstützen, wobei ebenso viele glauben, dass damit die Feindseligkeiten beendet werden könnten. Im Gegensatz dazu lehnen 27 Prozent den Vorschlag ab, und 34 Prozent rechnen mit einem neuen Konflikt nach dem Abkommen.

Trotz der Unterstützung der israelischen Öffentlichkeit für Bidens Vorschlag ignoriert Netanjahu diese Stimmen weiterhin. Seine Zurückhaltung hat mehrere Gründe: Er muss nach einer Befriedung des Konflikts mit einer internen Untersuchungskommission zum Massaker vom 7. Oktober rechnen. Er könnte bei den bevorstehenden Wahlen seine Koalition verlieren. Und er könnte seine Immunität verlieren und sich in der Folge wegen Korruptionsvorwürfen und vor dem Internationalen Strafgerichtshof verteidigen müssen.

In Israel werden Andersdenkende oft als Radikale abgetan oder als Antisemiten abgestempelt, wobei die Millionen von Palästinensern, die neben ihnen ohne grundlegende Rechte leben, außer Acht gelassen werden.

Während meiner Rückreise nach Deutschland sehe ich auf dem Weg zum Flughafen unzählige Anti-Netanjahu-Graffiti, und am Flughafen selbst prangen die Bilder der Geiseln. Der Krieg schadet Israel auch international, das Land wird zunehmend isoliert und international boykottiert. Netanjahu und seine Anhänger haben die Stimmen, die die Rückkehr der Geiseln fordern, bereits als „links“ bezeichnet und sie abgetan. Während ich in den Flieger steige, frage ich mich, ob hier je Frieden einkehren wird. Vielleicht in einer fernen Zukunft nach meiner Zeit.

Mati Shemoelof ist Schriftsteller, Dichter, Aktivist und Kurator und lebt in Berlin.