Sorge über die politische Entwicklung in Deutschland

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"19 Grundgesetz-Artikel" von Dani Karavan am Jakob-Kaiser-Haus Berlin, Foto: Michael Rose / CC BY-SA 3.0

Offener Brief zu den zunehmenden Angriffen auf die Demokratie und die damit verbundene Gefährdung der Bildungsarbeit an NS-Gedenkstätten

Wir, die Unterzeichnenden, sind freiberufliche Mitarbeiter*innen der NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg. Wir melden uns aus Sorge über die politische Entwicklung in Deutschland zu Wort.

Rechtspopulistisches bis hin zu rechtsextremem Gedankengut ist bis weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Immer mehr Menschen äußern wieder offen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.

Erschreckt hat uns zudem, wie wenig Solidarität nach dem von palästinensischen Islamist*innen an Zivilist*innen in Israel verübten Massaker vom 7. Oktober 2023 mit Jüdinnen und Juden geübt und wie wenig Empathie öffentlich gezeigt wird. Zugleich erleben wir eine neue Welle antisemitischer Taten in unserem Land. Dazu gehören Brandanschläge auf Synagogen, Angriffe auf Menschen, die der Opfer gedenken, tätliche Angriffe auf Jüdinnen und Juden, Judenhass an deutschen Universitäten, Antisemitismus in Kunst und Kultur. Jüdinnen und Juden fühlen sich unsicher, angefeindet und bedroht.

Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter die nationalsozialistische Vergangenheit und Bestrebungen, diesen Teil deutscher Geschichte zu verharmlosen, nehmen zu.

Diese Entwicklungen zeigen, wie brüchig das „Nie wieder“ der Verantwortungsgemeinschaft der NS-Nachfolgegesellschaft ist.

Das merken wir auch in unserer täglichen Arbeit. Die Frage, wie wir an die Zeit des Nationalsozialismus, an die Shoah und ihre Opfer erinnern, dürfen wir nicht denen überlassen, die Rechtsstaatlichkeit und demokratische Prinzipien in Frage stellen und die Würde des Menschen und seine Gleichheit vor dem Gesetz verletzen. Mit unserer Arbeit fühlen wir uns dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet, das heißt: wissenschaftsorientiert, parteipolitisch neutral, aber nicht gleichgültig, sondern immer im Einsatz für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde.

Diese Prinzipien sind durch das Erstarken von Rechtspopulist*innen bis hin zu Rechtsextremist*innen gefährdet. Wenn diese Kräfte stärker in den Parlamenten vertreten sind, werden sie versuchen, demokratiefeindliche Ideen in die Bildungslandschaft einzubringen. Es ist wichtig, dass die angekündigte „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (Björn Höcke) nicht stattfindet. Politik und Gesellschaft müssen dagegen wehrhaft sein.

Wir verstehen es als unsere Bildungsaufgabe, die mancherorts zur Floskel verkommene Anforderung zu vermitteln, dass man aus der Geschichte lernen kann. Lernen aus der Geschichte bedeutet, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen. Das bedeutet auch, jeder Form des Antisemitismus entgegenzutreten – einschließlich dem israelbezogenen Antisemitismus, der wie eingangs beschrieben, seit dem Massaker vom 7. Oktober in neuer Vehemenz auftritt.[1]. Lernen aus der Geschichte bedeutet darüber hinaus, Verantwortung zu übernehmen und Antisemitismus und Rassismus nicht pauschal als Problem nur von jeweils anderen weltanschaulichen, religiösen, politischen und ethnischen Gruppen zu behandeln. Rassistische und antimuslimische Pauschalisierungen sind mit dem demokratischen Kampf gegen Antisemitismus unvereinbar.

Wir appellieren an alle in Deutschland lebenden Menschen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen – die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Lebens wie unserer Freiheit. Eine solche Verteidigung schließt notwendig mit ein, sich gegen jeden Judenhass, gegen jeden Rassismus, gegen jeden Populismus bis Extremismus von rechts bis links und religiös gerechtfertigten, gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu positionieren.

Die deutsch-israelische Journalistin und Autorin Inge Deutschkron, eine Überlebende des Holocaust, hat uns den Weg gewiesen, indem sie in ihren Begegnungen mit Jugendlichen stets riet: „Es ist gut, wenn ihr euch fragt, was ihr in der Zeit des Nationalsozialismus getan hättet. Aufrichtig beantworten könnt ihr aber nur die Frage, was ihr heute zum Erhalt der Demokratie tun könnt.“

Die NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg stehen allen Bürgerinnen und Bürgern offen, um individuell besucht zu werden. Viele Angebote sind kostenlos. Eine umfassende, nach Bundesländern und Themenfeldern durchsuchbare Übersicht findet sich auf der Website „Gedenkstättenforum.

Erstunterzeichner*innen:

Katja Kollmann
Imke Küster
Marc Ratzow
Dr. Gabriele Schneider
Trille Schünke
Dr. Stefan Bamberg
Simon Clemens
Karin Eickhoff
Dr. Gabriel Eikenberg
Ellen Fischer
Dr. Sylvia Foelz
Dr. Anke Geißler-Grünberg
Federica Ligaro
Jan Schmidt
Lothar Schnepp
Johannes Valentin Schwarz
Britta Tenczyk
Dr. Stefani Werle
Dr. Heinrich-Wilhelm Wörmann
Carolin Starke
Dr. Martina Voigt
Christine Meibeck
Boris Abel
Raimund Rutenberg
Manuela Müller
Lucas Frings
Mirjam Winkler
Merle Weißbach
Sarah Rehberg
Timon Strnad
Christian Luttrell
Elisabeth Anschütz

Wird ergänzt.

[1] Das Faltblatt „Was ist israelbezogener Antisemitismus?“ der Amadeu Antonio Stiftung erläutert diese Form des Antisemitismus und stellt klar, dass dieser nicht mit Kritik an israelischer Politik zu verwechseln ist. (www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/09/israelbezogener-antisemitismus-faltblatt.pdf) Das Faltblatt verweist zudem darauf, dass antisemitische Aussagen nicht immer bewusst geäußert werden und auch darauf, dass ohne weiteren Kontext nicht immer zu ermitteln ist, ob eine Aussage die Kriterien des Antisemitismus erfüllt.
Zum Umgang mit diesen Grauzonen, sowie zum Erkennen von und Intervenieren gegen die verschiedenen Formen von Antisemitismus siehe auch die Handreichung des Anne Frank Zentrums (kompetenznetzwerk-antisemitismus.de/wp-content/uploads/AFZ_Broschu%CC%88re-Antisemitismus_Doppelseiten.pdf).