Die Zahl der durch den Hamas-Terror vom 7. Oktober ermordeten Israelis ist weitestgehend bekannt. Auch über die Gefallenen im Gazakrieg wird regelmäßig berichtet. Jetzt veröffentlichte das Verteidigungsministerium ebenfalls Daten über verwundete Armeeangehörige. Sie zeigen die ganze Dramatik eines weiteren Problems.
Von Ralf Balke
Vergangene Woche kursierte eine erschreckende Zahl in den Sozialen Medien und der Presse. Knapp 50 Besucher des Nova-Raves, die dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober entkommen konnten, sollen in den vergangenen Monaten Suizid begannen haben – das jedenfalls berichtete ein Überlebender anlässlich einer parlamentarischen Anhörung der staatlichen Prüfungskommission zur psychischen Behandlung von Terroropfern. Das israelische Gesundheitsministerium dementierte umgehend. „Daten und Zahlen zu den mutmaßlichen Suiziden sowie die Zahl der in Krankenhäuser eingewiesenen Überlebenden des Nova-Festivals sind dem Gesundheitsministerium sowie den psychiatrischen Einrichtungen nicht bekannt beziehungsweise falsch“, betonte Gilad Bodenheimer, seines Zeichens Direktor der Abteilung für psychische Gesundheit. Sehr wohl hätte es Personen gegeben, die sich das Leben genommen hatten, so der Experte. Er warnte aber vor Zahlen und Gerüchten.
Keine Gerüchte jedenfalls sind die Angaben der während der laufenden Militäroperation im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland verwundeten israelischen Soldatinnen und Soldaten. Diese gab das Verteidigungsministerium am Mittwoch bekannt. Bis zu diesem Zeitpunkt sind es genau 7.209. Davon haben 2.111 Militärangehörige, also 29 Prozent, mit psychischen Problemen zu kämpfen, in den allermeisten Fällen mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) infolge des im Krieg Erlebten. Für 60 Prozent aus dieser Gruppe sind solche verzögert auftretenden Reaktionen der Psyche sogar das gesundheitliche Hauptproblem. Und bei 95 Prozent der 7.209 Verletzten handelt es sich um männliche Reservisten im Alter von unter 30 Jahren. Erschreckend sind ebenfalls die Prognosen, die das Verteidigungsministerium bei der Veröffentlichung der Zahlen machte. So rechne man damit, dass bis Ende 2024 weitere 20.000 Soldatinnen und Soldaten Verletzungen erleiden werden, davon schätzungsweise 8.000 psychische Erkrankungen.
Die Dramatik dieser Angaben zeigt sich insbesondere in der Relation zu der Gesamtzahl aller seit 1948 bei Kriegen und sonstigen militärischen Auseinandersetzung verletzten Soldatinnen und Soldaten. Diese wird von den Statistikern mit etwa 62.000 angegeben. Warum im Vergleich aktuell so viele Verletzte zu beklagen sind, erklärt sich mit der zeitlichen Dauer des Konflikts. Denn in der Geschichte Israels war bisher nur der Unabhängigkeitskrieg länger als der Krieg im Gazastreifen. Und 11.000 von diesen 62.000, also nur 18 Prozent, hatten dem Verteidigungsministerium zufolge psychische Probleme entwickelt. Aber in dieser Gruppe waren es sogar 70 Prozent, für die das zum Hauptproblem werden sollte.
Auf die Frage, warum der Prozentsatz der Personen mit seelischen Schäden und PTBS in der aktuellen militärischen Auseinandersetzung so viel höher ist als in früheren, antworten die Vertreter des Verteidigungsministeriums, dass man das Thema psychische Probleme als Folge eines Kampfeinsatzes früher nicht ausreichend berücksichtigt habe. Mittlerweile hätte es aber bei den Verantwortlichen ein Umdenken gegeben, weshalb die Armee heute anders und aufgeschlossener agieren würde als in der Vergangenheit. Zudem möchte das Kriegskabinett, so war zwischen den Zeilen herauszuhören, auf diese Weise proaktiver reagieren, um sich später nicht den Vorwürfen ausgesetzt zu sehen, dass man sich um die Bedürfnisse von Soldatinnen und Soldaten mit psychischen Folgeschäden nicht ausreichend kümmern würde. Genau solche wurden bereits Ende Oktober 2023 laut, als Trauma-Spezialisten den Mangel an entsprechenden Hilfsangeboten beklagten.
Das Thema psychische Gesundheit ist bei den Streitkräften immer noch mit einem gewissen Stigma behaftet, glaubt Hilla Hadas. „Angehörige der älteren Generationen haben dieses geschaffen und aufrechterhalten“, so die Direktorin von Enosh, – The Israeli Mental Health Association, einer NGO, die sich für mehr Bewusstsein für psychische Erkrankungen einsetzt und entsprechenden Support anbietet, bereits vor einigen Monaten gegenüber der „Jerusalem Post“. „Aber nun gibt es eine andere Generation, die jung ist, und Bereitschaft zeigt, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.“ Zu oft werde Soldatinnen und Soldaten auch unterstellt, sie würden sich unter dem Vorwand psychischer Probleme vor dem Militärdienst drücken wollen.
Dabei hat das wenig mit der Realität zu tun. Laut Verteidigungsministerium sind mehr als drei Viertel der Armeeangehörigen, die sich aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen nach dem 7. Oktober einer Therapie unterzogen hatten, wieder zu ihrer Einheit zurückgekehrt. „Die Tatsache, dass sie in ihre in ihren Aufgabenbereich oder generell in die Armee zurückkehren, ist so etwas wie ein Schutzschild, das mit dazu beiträgt, die Entwicklung einer langfristigen psychischen Erkrankung zu verhindern“, lautet dazu die Erklärung von Oberstleutnant Dr. Michal Lifshitz, Leiter der klinischen Abteilung des psychischen Gesundheitsdienstes der Armee, gegenüber den TV-Sender Kan. Für Lifshitz seien diese positiven Ergebnisse auf eine gute Vorbereitung sowie eine ausreichende Personalausstattung im Bereich der psychischen Gesundheit zurückzuführen. So hätten bis Ende Februar, so eine weitere Statistik der Armee etwa 30.000 Soldaten an Gruppendiskussionen mit den 270 zum Reservedienst einberufenen Experten für psychische Gesundheit teilgenommen sowie rund 3.450 Soldatinnen und Soldaten eine Hotline für psychische Gesundheit angerufen.
Manche sehen das anders. Bereits vor dem Krieg im Gazastreifen gab es von Seiten zahlreicher Militärärzte Kritik an den bürokratischen Hürden, die viele verwundete Soldatinnen und Soldaten davon abhalten würden, Hilfe zu beantragen, insbesondere dann, wenn sie an posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Krankheiten leiden. Die entsprechenden Gremien, die in der Vergangenheit oftmals eine Blockadehaltung eingenommen hatten, wenn es um die Anerkennung und Finanzierung beispielsweise von Rehabilitationsmaßnahmen geht, hätten derzeit aber wenig Einfluss, weiß Limor Loria, verantwortlich für entsprechende Programme im Verteidigungsministerium zu berichten. Im Moment sieht es so aus, dass Veteranen, die eine Anerkennung ihrer Status als Kriegsversehrte beantragen, in 90 Prozent der Fälle eine sofortige Unterstützung erhalten würden. 70 Prozent der als verwundet anerkannten Soldatinnen und Soldaten müssten aber noch weitere administrative Prozesse durchlaufen. Viele von denen, die Anspruch auf Hilfsleistungen hätten, wissen nichts davon, weil es keinen oder mangelhaften Zugang zu Informationen gibt, hieß es bereits vor Monaten.
Zugleich kritisierte Limor Loria die Tatsache, dass die Knesset es versäumt hatte, ein formelles Gesetz zu verabschieden, um alle relevanten Fragen in diesem Kontext zu klären. Man arbeitet im Moment mit einem Provisorium, dass nur deshalb funktioniert, weil aufgrund der aktuellen Notsituation finanzielle Mittel nach Bedarf rascher verteilt werden können. All das müsse dringend geändert und auf eine gesetzlich solidere Basis gestellt werden.
Zu Pessach stehe man vor einer weiteren Herausforderung, wie Noa Rofe betont, einer Sozialarbeiterin, die ebenfalls zum Stab der Rehabilitationsabteilung im Verteidigungsministerium gehört. Gerade zu Feiertagen machen sich psychische Probleme besonders oft bemerkbar, weshalb die Wahrscheinlichkeit steigt, dass betroffene Personen Suizidversuche unternehmen. Man habe deshalb verschiedene neue Programme gestartet, beispielsweise zwei Notrufnummern für Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen sowie anderen psychischen Erkrankungen, die ebenfalls Angehörigen offen stehen. Des Weiteren hat Anfang des Jahres das Sheba Medical Center in Tel Hashomer ein spezielles Behandlungszentrum für genau diese Personengruppen eingerichtet.