„Die Stimmen erheben und laut sein!“

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Die angehende Rabbinerin Helene Shani Braun trifft den Zeitzeugen Peter Finkelgruen

Von Roland Kaufhold

Die Arolsen Archives haben eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht: Über Jahrzehnte hatte sie in einigen Kreisen einen eher bedenklichen Ruf. Sie galt auch als eine Institution, die den deutschen Staat vor allem von der Zahlung von Entschädigungsgeldern für NS-Verfolgte schützen sollte. In den letzten Jahren hat sich dies, auch durch Druck von Außen, grundlegend gewandelt. Arolsen fühlt sich nun dem Erbe von Zeitzeugen verpflichtet.

Die letzten Zeitzeugen der Shoah sterben. Die Arolsen Archives haben deshalb ein Videoformat entwickelt, bei dem ein jüngerer Mensch in Dialog mit einem Zeitzeugen der Shoah tritt. 10 Minuten lang sind diese, filmisch professionell gestalteten Dialoge, die nach und nach online gehen.

Im Januar 2024 kam es in Berlin zu der Begegnung zwischen der angehenden Rabbinerin Helene Shani Braun und dem in Köln lebenden Journalisten und Autor Peter Finkelgruen.

Helene Braun, die von der Universität Potsdam 2021 – da war sie 24 –  als „Jung, jüdisch, queer“ portraitiert wurde, versteht sich als eine Vertreterin der jungen jüdischen Community. Sie wolle, wenn sie später einmal als Rabbinerin arbeite, das „Rabbinat diverser gestalten.“

Im ersten Teil ihres Dialogs werden mehrere aktuelle Themen berührt: Sie sprechen über das Thema der Vaterjuden, aber auch über die Möglichkeiten einer Präventionsarbeit gegen Antisemitismus: „Seid wachsam und passt auf. Und seid misstrauisch“, das habe er Jugendlichen bei seinen Lesungen in Schulen immer wieder mitgegeben, hebt Peter Finkelgruen, dessen Lebensthemen kürzlich in einem Buch (Kaufhold 2022) erzählend aufgearbeitet worden sind, hervor.

Ihre Nachbarinnen wüssten, dass sie jüdisch sei. Da habe sie bisher noch nichts Negatives erlebt, erzählt Helene Braun. Es gäbe selbst heute, nach dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober, vereinzelt positive Überraschungen, so die starken Demonstrationen für den Erhalt der Demokratie gegen die Rechten.

Man müsse trotz aller desillusionierenden Erfahrungen den Mut aufbringen, den Mund aufzumachen, wenn man Antisemitismus höre. Aber dabei habe man immer wieder die – meist enttäuschende – Erfahrung gemacht, dass die nicht-jüdische Umwelt, die gesellschaftliche Majorität selbst bei offenkundig antisemitischen Äußerungen schweige. Diese Erfahrung teilen beide.

Das 2. Video: „Am Ende wird Europa Sie immer verraten…“

In dem zweiten Teil der Video-Dialoges, das sich vor allem auf die zurückliegenden drei Monate seit dem Hamas-Pogrom vom 7.10. bezieht, berichten beide von Phasen tiefer Verunsicherung und Angst. In ihren Reaktionen sind sie sich beide sehr ähnlich. „Es gibt auch Tage da kann ich das Haus nicht verlassen.“ Er schaue seit dem Pogrom täglich zwei bis sechs Stunden israelisches Fernsehen in seiner Kölner Wohnung, erzählt der gesundheitlich stark angegriffene, in Israel aufgewachsene 81-jährige Finkelgruen.

„Ich schaue nicht in öffentliche Kommentarspalte nach meinen Auftritten“, berichtet Helene Braun. Das erledigten vereinzelt Freunde für sie. Das tue sie sich nicht mehr an. Ansonsten könne sie nicht mehr öffentlich wirken.

Prag 1946: „Peter, Du darfst hier nicht deutsch sprechen!“

Helene Baum fragt ihn nach frühen Erfahrungen von Antisemitismus in Deutschland: Im ersten Jahr, 1962 in Köln „wurde an meine Wohnungstür geklopft und es wurde gesagt: Euch hat man vergessen zu vergasen!“ Die über Jahrzehnte regelmäßig auftretenden Konfrontationen mit Antisemitismus hätten ihm „ein paar Jahrzehnte des Lebens versaut.“

15 Jahre zuvor, bei seiner Ankunft in Prag Ende 1946, da war er noch nicht fünf Jahre alt, da habe man ihm, dem in Shanghai geborenen und mit deutsch, chinesisch und etwas englisch aufgewachsenen deutschen Juden als wichtigste Warnung mitgeteilt: „Peter, Du darfst hier nicht deutsch sprechen!“ Da sei er erneut und erst einmal im wörtlichen Sinne sprachlos gewesen.

Wenn ihn heute jemand nach seiner Identität frage, würde er sagen: „Ich bin jüdisch. Punkt.“

Er habe gemeinsam mit seiner 2021 verstorbenen Ehefrau Gertrud Seehaus-Finkelgruen  das Kinderbuch „Oma und Opa hatten kein Fahrrad“ veröffentlicht. Dies haben sie gemeinsam in zahlreichen Schulen vorgestellt. „Migrantische Kinder verstanden das Thema sofort!“

Heute klinge der Antisemitismus weniger brutal als früher, reagiert Finkelgruen auf eine von Helene Braun vorgelesene Frage. Dafür habe dieser neue Begrifflichkeit kreiert, „Ostküste“ usw., die ihr Publikum erreichten und unterhalb der Strafbarkeit liege. Heute dominiere gesellschaftlich ein „ganz klug formulierter Antisemitismus.“ Die Angst sei übermächtig in ihm, wie die Welt mit den Juden und Israel umgehe. Eine Politikerin habe ihm vor Jahrzehnten, in den 1980er Jahren, als er sechs Jahre lang für die Friedrich Naumann Stiftung in Jerusalem arbeitete, einmal resignierend gesagt: „Am Ende wird Europa Sie immer verraten…“

Er verlasse heute seine Kölner Wohnung, nach dem Hamas-Pogrom, nur noch selten, berichtet Finkelgruen. Er wolle einfach keine antiisraelischen Sprachfetzen mehr hören, die ihn stören; die sein Gefühl der physischen Sicherheit beeinträchtige. Eine Grundangst bestimme ihr Alltagsgefühl, da sind sich beide einig.

Er wünsche sich eine Jugend, die selbstbewusst und kritisch sei, so Peter Finkelgruen. Sie sehne sich nach Weltfrieden und „sozialer Gerechtigkeit“, so die Hoffnung der angehenden Rabbinerin, die in der „großen liberalen Gemeinde in Hannover groß geworden“ ist.


 

Literatur

Roland Kaufhold (2022):„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland, BoD 2022, https://www.hagalil.com/2022/10/finkelgruen-kaufhold/

Peter Finkelgruen (2020): „Soweit er Jude war…“. Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln. Herausgeber: Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Engelhart. Books on Demand. Norderstedt 2020

Roland Kaufhold (2012): Keine Heimat. Nirgends. Von Shanghai über Prag und Israel nach Köln – Peter Finkelgruen wird 70, haGalil, 5.3.2012: https://www.hagalil.com/2012/03/finkelgruen-7/

Gertrud Seehaus (2017): Vatersprache. Books on Demand, ISBN: 978-3744835497, https://www.hagalil.com/2017/11/vatersprache/