Die Uhr tickt

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Benjamin Netanyahus Tage als Regierungschef könnten gezählt sein. Denn Israels Ministerpräsident produziert seit dem 7. Oktober Negativschlagzeilen in Serie. So will er für die Versäumnisse aus der Zeit davor keine Verantwortung übernehmen. Und sein Agieren in den Wochen danach stieß zunehmend auf Kritik.

Von Ralf Balke

„Ich möchte als Beschützer Israels in Erinnerung bleiben.“ Mit diesen Worten antwortete Benjamin Netanyahu auf die Frage des Journalisten Fareed Zakaria, wie er sich sein politisches Erbe vorstellt. „Das würde mir schon reichen“, fuhr Israels dienstältester Ministerpräsident in dem Interview fort, das im Jahr 2016 stattgefunden hatte. Es war nicht das einzige Mal, dass Netanyahu in den Medien sich als „Mister Security“ präsentierte, also als der Regierungschef, in dessen quasi endloser Amtszeit Israel keine größeren Kriege hatte führen müssen. Egal, ob man ihn mögen würde oder nicht, immerhin wäre er immer derjenige gewesen, der sich stets um die Sicherheit des jüdischen Staates kümmere, so sein Mantra. „Die jüdische Nation hat sich noch nie darin hervorgetan, Gefahren vorherzusehen“, sagte er vor Jahren einmal in einer israelischen TV-Talkshow. „Wir wurden immer wieder überrascht – und das letzte Mal auf das Furchtbarste.“ Gemeint war damit der Überraschungsangriff der Ägypter und Syrer im Oktober 1973. „So etwas wird unter meiner Führung nie wieder geschehen.“ Unter Beifall fuhr Netanyahu fort: „Das ist es, was der Staat Israel von mir erwartet, und das ist es, wofür ich sorgen werde.“

Dann geschah der 7. Oktober. Und in Israel ist nichts mehr so wie vor diesem Datum. Das gilt ebenfalls für Benjamin Netanyahu. Er wird nun nicht als der Politiker in die Annalen eingehen, der Israel zu einem sichereren Ort machte oder zur Hightech-Supermacht aufsteigen ließ, sondern als der Ministerpräsident, in dessen Amtszeit die größte Katastrophe in der israelischen Geschichte seit 1948 geschehen konnte, und zwar das Massaker an über 1.200 Menschen. Zudem sorgte sein Agieren in den Wochen, die auf das Desaster folgten, für zahlreiche Irritationen und Empörung. Beispielsweise sollte es Tage dauern, bis Netanyahu sich mit Angehörigen der in den Gazastreifen verschleppten Menschen traf. Nachts twitterte er dann, dass allein die Geheimdienste und das Militär Schuld an der Katastrophe hätten, aber nicht er – einen Tweet, den der Ministerpräsident wenige Stunden wieder löschte, was die Sache kaum besser machte. Und als der Ministerpräsident am 12. November bei einem Interview mit dem Sender CNN gefragt wurde, ob er die Verantwortung dafür übernehmen würde, dass der Angriff auf Israel am 7. Oktober geschehen konnte, reagierte Netanyahu ausweichend. „Wir werden all diese Fragen beantworten, aber nach dem Krieg“, sagte er und fügte hinzu: „Im Moment denke ich, dass wir uns auf ein Ziel konzentrieren müssen, und zwar den Sieg zu erringen.“

All das und die offensichtliche Unfähigkeit der von Netanyahu angeführten Regierung, die Folgen des 7. Oktober – angefangen von den Problemen bei der Unterbringung der über 200.000 aus dem Umland des Gazastreifens und nahe der Grenze zum Libanon geflüchteten Israelis bis hin zu der unzureichenden Hilfe für die Wirtschaft – zu managen, führten zu einem Absturz seiner Partei in den Meinungsumfragen. Wären jetzt Wahlen zur Knesset, käme der Likud gerade einmal auf 17 bis 18 der 120 Sitze in der Knesset. Benny Gantz und seine Partei der Nationalen Einheit könnten dagegen 37 bis 39 Abgeordnete stellen und wären der klare Favorit. Selbstverständlich ist das nur eine Momentaufnahme und jeder weiß, dass sich bis zu einem erneuten Urnengang eine Menge ändern kann. Außerdem ist die israelische Politik für Überraschungen und ihre Volatilität bekannt wie berüchtigt, weshalb auch ein anderer Kandidat, den gerade niemand auf dem Radar hat, irgendwann die Nachfolge antreten könnte. Nur so viel ist sicher: So lange der Krieg im Gazastreifen anhält, wird es keinen Wechsel an der Spitze der Regierung geben. Doch sobald die Waffen schweigen und – sehr wahrscheinlich im Rahmen einer Untersuchungskommission – die Verantwortlichen dafür genannt werden, was vor dem 7. Oktober alles schief gelaufen ist, dürften die Karten neu gemischt werden.

Doch Netanyahu wäre wohl kaum Netanyahu, wenn er nicht alles unternehmen würde, sich im Amt zu halten und jegliche persönliche Verantwortung von sich zu weisen. Jüngstes Beispiel dafür sind seine Äußerungen während einer Sitzung des Knesset-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung vor einigen Tagen. So sagte Netanyahu dort: „Die Mutter aller Sünden war Oslo – nicht das Abkommen selbst, sondern die Tatsache, dass man das antizionistischste Element aus Tunesien hierher ins Herz des Landes gebracht hatte.“ Ferner erklärte er: „Der Unterschied zwischen der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde besteht nur darin, dass die Hamas uns hier und jetzt vernichten will, während die Autonomiebehörde dies in Etappen erledigen will.“ Die Reaktionen fielen entsprechend negativ aus. „Es ist unmöglich, das Ausmaß an Realitätsverlust und Zynismus des Ministerpräsidenten zu begreifen, der selbst in Zeiten des Krieges eine üble politische Kampagne führt, deren einziger Zweck darin besteht, sich selbst von der Verantwortung freizusprechen, andere zu beschuldigen und Hass zu schüren. Das Volk hat eine andere Führung verdient“, sagte unter anderem Yair Lapid, Vorsitzender der oppositionellen Yesh Atid-Partei.

Und Benjamin Netanyahu legte nach. Wenige Tage später erklärte er auf einer Pressekonferenz im Verteidigungsministeriums, er sei „stolz“ darauf, die Gründung eines palästinensischen Staates verhindert zu haben, und sprach sich selbst den Verdienst zu, den Friedensprozess von Oslo „ausgebremst“ zu haben. In seiner Rede an der Seite von Verteidigungsminister Yoav Gallant und dem Minister des Kriegskabinetts, Benny Gantz, bekräftigte der Premierminister ferner seine Ablehnung gegenüber Plänen für eine Nachkriegsordnung, in denen es darum geht, der Palästinensische Autonomiebehörde die Kontrolle des Gazastreifens zu übertragen. Denn dieses Konzept wird derzeit von der amerikanischen Regierung favorisiert. Bereits am 15. Oktober hatte US-Präsident Joe Biden betont: „Es muss eine Palästinensische Autonomiebehörde geben und es muss ein Weg hin zu einem palästinensischen Staat gezeigt werden.“ Genau das will aber Netanyahu auf jeden Fall vermeiden, weshalb er ebenfalls erklärte, dass es „unter Freunden wichtig ist, keine Illusionen zu schüren“.

Äußerungen dieser Art dürften in Washington gewiss nicht mit Begeisterung aufgenommen worden sein. Dort habe man ohnehin den Eindruck, dass Netanyahu schon jetzt in eine Art Wahlkampfmodus übergegangen ist, um seine Haut zu retten – daher die verschärfte Rhetorik gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde. „Das ist kein regierungsweiter Ansatz“, lautet denn auch die Einschätzung zweier namentlich ungenannten hochrangigen Mitarbeitern der Biden-Administration, die sich gegenüber der „Times of Israel“ dazu äußerten. „Es kommt hauptsächlich vom Premierminister, was ziemlich aufschlussreich ist.“ Sie sehen ausschließlich persönliche, aber keine sicherheitspolitischen Motive hinter den Worten Netanyahus, was dazu beiträgt, dass Washington über das Handeln des Ministerpräsidenten zunehmend frustriert ist. Nichtsdestotrotz wiederholte Netanyahu seine Verbalattacken gegen Ramallah. Zwar betonte ein namentlich ebenfalls anonym gebliebener Mitarbeiter aus dem Umfeld der israelischen Regierung, dass man eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde in den Gazastreifen nicht ausdrücklich ausschließen würde, sondern lediglich auf zuvor implementierte „signifikante Reformen“ ihrer Strukturen und ihres Personals beharre. Doch der Ministerpräsident ließ wenig Spielraum für Interpretationen zu und twitterte am 6. Dezember, dass eine Übernahme der Kontrolle über den Gazastreifen durch die Palästinensische Autonomiebehörde niemals geschehen werde so lange er im Amt ist.

Das könnte sich jedoch schneller ändern, als Netanyahu lieb wäre – wohlgemerkt erst nach dem Krieg. Denn rein technisch ist ein Wechsel an der Spitze kein Problem, wenn mehr als 60 Abgeordnete in der Knesset einen Misstrauensantrag gegen die Regierung voranbringen, was schließlich zu vorzeitigen Neuwahlen führt. Alternativ könnte es aber auch zu einem „konstruktiven Misstrauensvotum“ kommen. Dabei müssten mindestens fünf der 64 Abgeordneten der aktuellen Koalition erklären, dass sie nicht nur bereit wären, gegen die amtierende Regierung zu stimmen, sondern ebenfalls mit von der Partie sind, eine andere, auf die man sich bereits im Vorfeld verständigt hätte, zu unterstützen. Daraufhin könnte sofort und ohne Urnengang eine neue Regierung mit einem anderen Ministerpräsidenten gebildet werden. Ob eines dieser beiden Szenarios Realität werden könnte oder etwas völlig anderes geschieht – all diese Fragen lassen sich derzeit schwer beantworten. Aber gewiss wird es in der Regierungskoalition einige Personen geben, die sich schon heute Gedanken um die Zukunft machen. So dürften manche Vertreter der beiden ultraorthodoxen Parteien wenig Verlangen verspüren, mit in den Strudel eines unfreiwilligen Abgangs von Netanyahu gerissen zu werden, falls ihm die Verantwortung für das Desaster vom 7. Oktober mit zugesprochen wird. Und auch im Likud rumort es zusehends angesichts der katastrophalen Umfragewerte. „Ich werde ihn nie wieder unterstützen“, sagte kürzlich beispielsweise Wirtschaftsminister Nir Barkat. „Nach dem Krieg müssen wir uns auf jeden Fall an die Bevölkerung wenden und neues Vertrauen gewinnen. Der Likud braucht einen Wechsel.“

Aber nicht nur im Likud gibt es die Frage, wer sich als erster aus der Deckung wagt und seinen Anspruch auf den Posten anmeldet. Denn es gibt ein gravierendes Problem: Selbst wenn eine überwältigende Mehrheit in Israel gegen Netanyahu ist, lautet die eigentlich große Herausforderung, die ansteht, sich auf eine Person zu einigen, die dann in den Ring steigt, um der nächste Ministerpräsident werden zu wollen. Und dieser Kandidat muss ebenfalls in der Lage sein, Partner für eine Koalition an Bord zu holen, sodass diese mindestens 61 Sitze in der Knesset hinter sich weiß  – allesamt keine einfachen Hürden, wie man aus der Vergangenheit weiß.

Bild oben: Premier Netanyahu während einer Pressekonferenz am 16.12.2023, GPO Screenshot