„Historikerstreit 2.0“

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Der von Stephan Grigat u.a. herausgegebene Sammelband „Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-) Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“ kündigt viele Aufsätze zur Kontroverse um den Holocaust und den Kolonialismus an, wobei aber nicht alle Beiträge wirklich zum eigentlichen Thema passen. Das schmälert nicht deren Qualität, sollten aber Interessierte wissen.

Von Armin Pfahl-Traughber

Von einem „Historikerstreit 2.0“ ist seit gefühlt zwei Jahren die Rede. Darin geht es um die Frage, wie Holocaust und Kolonialismus im Verhältnis einzuschätzen seien. Einige Autoren sehen darin eine Kontinuität, andere Autoren kritisieren eine dem Holocaust gegenüber damit einhergehende Relativierung. Es handelt sich nach der Debatte in den 1980er Jahren, worin die Gulag-Lager als ein „kausaler Nexus“ für den antisemitischen Völkermord thematisiert wurden, um einen weiteren Streit. Während damals die bedenkliche Deutung von konservativer Seite formuliert wurde, gilt dies für die Gegenwart für die linke Seite. Mitunter ist bei den Kritikern gar die Rede von einem „linken Revisionismus“. Eine Auseinandersetzung dazu findet man jetzt in einem umfangreichen Sammelband. Er wurde von dem bekannten Antisemitismusforscher Stephan Grigat und anderen herausgegeben und erschien mit „Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-) Deutungen des Holocaust und der ‚Historikerstreit 2.0“ als Titel. 16 Aufsätze wurden dabei in drei Kapitel gegliedert, nicht alle Beiträge passen aber auch zum eigentlichen Thema.

Zunächst finden sich Aufsätze „zur Präzedenzlosigkeit des Holocaust“, welche eben eine wie auch immer gemeinte Gleichsetzung mit Kolonialverbrechen ausschließt. Die gegenteilige Auffassung war indessen von sich „post-kolonial“ verstehenden Publizisten und Wissenschaftlern vertreten worden. Insofern sahen die Herausgeber es offenbar als nötig an, hier noch einmal klarstellende Texte zu veröffentlichen. Dazu gehören Abhandlungen zum Kern des Holocausts oder zum Normalitätsbegriff in der neueren NS-Täterforschung. Indessen folgen diese Abhandlungen nicht unbedingt der konkreten Fragestellung, die eben einen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden ausgerichteten systematischen Vergleich voraussetzt. Bei dem Historiker Jeffrey Herf kann man solche Reflexionen finden, postuliert er doch nicht nur eine Einzigartigkeit, sondern liefert eine komparative Systematik. Sehr deutlich ist dann Yehuda Bauer als bekannter israelischer Historiker, der altersbedingt in einem Interview klar und stringent Position bezieht. Er wird bald 98 Jahre alt und argumentiert mit großer Klarheit auf den zentralen Punkt bezogen.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den „(Um-) Deutungen des Holocaust“, wobei aber auch hier bei den meisten Beiträgen der genaue Bezug zum Kernthema verloren geht. So beachtenswert die Ausführungen zu Grundfragen der Holocaustforschung in der bundesdeutschen Frühgeschichte oder zum Holocaust-Bild in der DDR-Literatur sind, so streifen sie doch nur das eigentliche Anliegen des Sammelbandes vom Thema her. Dies gilt ebenso für den Beitrag von Ingo Elbe, wobei es um Hanna Arendts Bild vom Holocaust geht. Hier wird auf erstaunliche Auffassungen der bekannten Philosophin verwiesen, hatte sie doch eine Nähe von Totalitarismus und Zionismus behauptet. Der einzige Beitrag in diesem Kapitel, der sich mit dem Kernthema des Sammelbandes beschäftigt, geht dann mit dem Literaturwissenschaftler Steffen Klävers ausführlicher auf die „postkolonialen“ Holocaust-Deutungen ein. Dabei erfolgt auch eine ausführlichere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem für derartige Fragen zentralen Autor A. Dirk Moses, wovon man sich aber in dem ganzen Sammelband mehr gewünscht hätte.

Und schließlich finden sich noch Aufsätze zu „Erinnerungsabwehr und Antisemitismus in der Gegenwart“, aber auch hier zu anderen Fragestellungen als zum eigentlichen Sammelband-Thema. Es gibt etwa Betrachtungen zur marginalen Holocaust-Erinnerung in Ostmittel- und Südosteuropa oder über die vielen Erinnerungsorten eigenen unauflösbaren Widersprüche. Andere Beiträge beschäftigen sich mit der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit oder Erinnerungsverweigerung und Schuldabwehr. Der letztgenannte Beitrag stammt von dem Politikwissenschaftler Samuel Salzborn und thematisiert auch treffend den besonderen Geschichtsrevisionismus der AfD. Den Blick in die andere politische Ecke wirft dann der Sozialwissenschaftler Niklaas Machunsky, dem es anhand von Aleida Assmann um die antizionistische Aufhebung der Vergangenheitsbewältigung von links geht. Und dann findet sich noch eine kritische Auseinandersetzung mit der „Jerusalemer Erklärung“, eine wenig überzeugende Antisemitismus-Definition laut dem Politikwissenschaftler Lars Rensmann.

Bilanzierend: Viele interessante Beiträge, doch zu wenig zum eigentlichen Thema.

Stephan Grigat/Jakob Hoffmann/Marc Seul/Andreas Stahl (Hrsg.), Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-) Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“, Berlin 2023 (Verbrecher-Verlag), 469 S., Euro 29.00, Bestellen?

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