Schockstarre bezeichnet einen Zustand nach einer, die Routine störenden dramatischen Situation, in der man nicht bereit oder fähig ist, die Lage vollumfänglich zur Kenntnis zu nehmen und angemessen zu reagieren. Das klingt ungeheuer fachlich und hilft nicht die Bohne weiter. Schon gar nicht, wenn man versucht die Seele, die aufgrund des Schocks in zig Scherben in der Wohnung verstreut liegt, wieder zusammenzusetzen, um die Realität zu begreifen und wieder angemessen reagieren zu können.
Von Ramona Ambs
Der Überfall der Hamas in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober hat uns in genau diesen Zustand gebracht. Schockstarre. Der massive Raketenbeschuss, die Überfälle auf die Kibbuzim, das Musikfestival – wir Juden in Deutschland haben das ja nicht Samstagabend abstrakt in den Nachrichten gesehen, sondern es kam pling pling pling über die sozialen Netzwerke in unser Zuhause. Es waren Familienmitglieder, Freunde und Freunde von Freunden in Israel, die anfingen, verzweifelt nach ihren Töchtern, Söhnen, Eltern, Neffen, Nichten, Partnern, Enkeln zu suchen… Fotos und Standorte wurden mitgeteilt und mit jedem pling gabs eine Ungewissheit mehr. Mit jedem pling eine weitere große Sorge.
Nach einigen Stunden trafen die ersten Videos von Verschleppten per Messengerdiensten ein: eine offensichtlich vergewaltigte Frau wird in ein Auto gezerrt… pling… gefesselte Menschen werden geschlagen…. pling… ein Mann wird vor den Augen seiner Frau erschossen… pling… Hamasterroristen drangsalieren eine alte jüdische Frau im Rollstuhl…pling… ein jüdischer Junge wird in Gaza von palästinensischen Kindern verhöhnt…pling … die nackte Leiche einer jungen Frau wird einer jubelnden Meute präsentiert…pling …Allahu Akbar… pling – und man sitzt und versucht zu erkennen, ob eines der Opfer ein Gesicht hat, was man vorher schon mal auf einem der Vermissten-Bilder gesehen hat…man muss doch irgendwie helfen, irgendwas tun….pling… aber irgendwann merkt man, dass man garnix mehr tun kann, weil die eigene Seele zersplittert auf dem Boden liegt… einfach kaputt gegangen- pling…. nicht mehr in der Lage nach der, die Routine störenden dramatischen Situation, normal zu funktionieren.
Und während man dann dennoch versucht, die Seele wieder zusammen zu setzen, und die einsetzende Traurigkeit bemerkt, tut Deutschland Deutschlandsachen: In mehreren Städten feiern Hamas-Sympathisanten das Oktoberpogrom, sie feiern, verteilen Süßigkeiten und die Polizei steht daneben und schaut zu. Politiker fordern im TV, dass sowas nicht sein darf und sichern Israel die volle Solidarität zu, – die Linken mit dem Nebensatz, dass man aber weiterhin Israel kritisieren dürfen sollen können muss; und die Rechten mit dem Nebensatz, dass die vielen Migranten hier das eigentliche Problem sind. Aber immerhin: das Brandenburger Tor hat mal kurz nen neuen blau-weißen Look! – und einige FB-Postings geben einem durchaus das warme Gefühl, dass auch nichtjüdische Deutsche verstanden haben, was da grade zerbrochen ist…- aber am Abend wird dann die AFD bei den Landtagswahlen die zweitstärkste Kraft, -also die Partei, bei der Antisemitismus zum »programmatischen Kern« gehört und mir wird plötzlich klar, dass die Schockstarre der letzten Tage wohl ein Dauerzustand bleiben wird. Dass es sich im Grunde nicht lohnt, die zersplitterte Seele zusammen zu setzen, dass man sich besser an den neschumigen Scherbenhaufen gewöhnt.
Es wird keine Routine mehr geben. In Israel sowieso nicht- aber hier auch nicht. Es gibt nach diesem Oktoberpogrom nämlich auch keine Rückversicherung mehr für uns Juden in Deutschland. Kein: im Notfall haben wir einen jüdischen Staat, da ist es halbwegs sicher. Denn genau da wurden ja nun soviele Juden auf einmal ermordet wie seit der Shoa nicht mehr. Und auch wenn sich Israel nun verteidigen wird, bleibt klar: Es gibt keinen sicheren Platz für uns. Nirgends.
Bild oben: Kfar Aza, Screenshot Kan 11