Humile Humanität

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Reflexionen über den posthumanistischen Humanismus der postmodernen Moderne

Von Thomas Tews

„Doch er wusste nicht, war er Zhuang Zhou, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder war er ein Schmetterling, der geträumt hatte, Zhuang Zhou zu sein?“ [1]
Zhuangzi (ca. 375–300 v. u. Z.)

„[…] und wenn ich mich im Zusammenhang des Universums betrachte, was bin ich […]“[2]
Ludwig van Beethoven (1770–1827)

„Doch wer ist der Mensch, der sich hinter der Synagoge, da, wo es keinen zweiten Eingang gibt, aufhält, der Mensch, der verlorener ist als ein Götzendiener? Ich frage mich, ob das nicht derjenige ist, der sich außerhalb der Riten und Gesetze, welche zusammen den Buchstaben darstellen, in der innersten Intimität des Seins ‚im Geist und in der Wahrheit‘ wähnt. Er findet sich in die Abgründe uferloser Innerlichkeit geworfen. Sie hat niemals wieder preisgegeben, die es ihr zu verführen gelang.“[3]
Emmanuel Levinas (1906–1995)

Vorbemerkung

55 Jahre nachdem Jacques Derrida (1930–2004) auf einem internationalen Colloquium in New York einen Vortrag unter dem Titel „Fines hominis“[4] (lateinisch für „Enden des Menschen“) gehalten hat, stellt sich die Frage des Menschen, die zugleich die Frage des Humanismus ist, mit ungebrochener Dringlichkeit.

Jean-François Lyotard (1924–1998) unterschied zwei Arten des Fragens: „Diesbezüglich müssen zwei Arten des Fragens unterschieden werden, je nachdem, ob der Akzent auf der Dringlichkeit der Antwort liegt oder nicht. Der Satz vom Grund ist diejenige Art des Fragens, die ihr Ende – die Antwort – überstürzt. Durch die bloße Voraussetzung, daß immer ein ‚Grund‘ oder eine Ursache für jede Frage gefunden werden könne, haftet ihm eine Art Ungeduld an. Die nicht-abendländischen Denktraditionen zeigen eine entgegengesetzte Einstellung. Bei ihrer Art des Fragens kommt es in keiner Weise darauf an, so schnell wie möglich die Antwort festzulegen, das heißt einen Gegenstand zu erfassen und auszuweisen, der als Ursache des fraglichen Phänomens gelten kann. Sondern es kommt für sie darauf an, von ihm in Frage gestellt zu werden und zu bleiben, sich durch die Meditation in einem ‚Responsorium‘ mit ihm zu halten, ohne die von ihm ausgehende Beunruhigung durch eine Erklärung zu neutralisieren. Im Herzen der abendländischen Kultur gibt und/oder gab es ein Analogon zu dieser Einstellung: in der Seins- und Denkweise, die aus der jüdischen Tradition hervorgegangen ist. Was in dieser Tradition ‚Studieren‘ und ‚Lesen‘ genannt wird, verlangt, daß jede Realität wie eine dunkle Botschaft behandelt wird, die von einer unerkennbaren, ja unnennbaren Instanz gesandt worden ist. Einem Phänomen muß man wie einem Vers aus der Thora Gehör schenken; es muß zwar entziffert und interpretiert werden, aber mit Humor und in dem Wissen, daß die Interpretation ihrerseits wie eine Botschaft interpretiert werden wird, die nicht minder rätselhaft – Levinas würde sagen: wunderbar – ist, als es das anfängliche Ereignis war. Die Derridasche Problematik der Dekonstruktion und der différance, das Deleuzesche Prinzip der Nomadisierung rühren – so unterschiedlich sie auch sein mögen – von diesem Zugang zur Zeit her. Die Zeit bleibt dabei unkontrolliert und läßt sich nicht bearbeiten, zumindest nicht in dem Sinn, wie man das Wort ‚arbeiten‘ gemeinhin versteht.“[5]

Dieser Text verortet sich in letzterer Denktradition. Daher seien alle, die seine Lektüre in der Erwartung einer Erklärung zur Frage des (Post-)Humanismus begonnen haben, gewarnt, dass er sie in dieser Hinsicht enttäuschen wird. Er versteht sich vielmehr als eine Einladung zu einem derrideanischen ‚Randgang‘, der möglicherweise mehr Fragen aufwerfen wird als er Antworten zu geben vermag. Dabei wird er in postmoderner Montagetechnik versuchen, seine Thesen durch Collagen wörtlicher Zitate unterschiedlicher Epochen Gestalt annehmen zu lassen.

Humanistische Humanitas

Der Begriff „Humanismus“ stammt von dem lateinischen Nomen „humanitas“, das als Abstraktum zum Adjektiv „humanus“ (menschlich) die Summe der geistigen Normen und praktischen Verhaltensweisen, die den Menschen zum Menschen machen, bezeichnet.

Max Horkheimer (1895–1973) schrieb zum Ursprung des Humanismus: „Der Humanismus geht aufs Forum zurück – Cicero!“[6] Letzterer gebrauchte den Humanitasbegriff in seinem Werk „De oratore“ (Über den Redner) wie folgt: „Age vero, ne semper forum, subsellia, rostra, curiamque meditere, quid esse potest in otio aut iuncundius aut magis proprium humanitatis quam sermo facetus ac nulla in re rudis? Hoc enim uno praestamus vel maxime feris, quod conloquimur inter nos et quod exprimere dicendo sensa possumus.“ (Und weiter, um nicht immer an das Forum, an Richterbänke, Rednerbühne und Kurie zu denken, was kann in der Muße angenehmer sein oder dem Menschen mehr entsprechen als ein geistreiches und in keiner Weise ungebildetes Gespräch? In diesem einen Punkt nämlich übertreffen wir die Tiere am allermeisten, dass wir miteinander reden und dass wir unsere Empfindungen durch Sprache ausdrücken können.)[7]

Die Dichotomie „Mensch – Tier“ sollte sich in der ‚abendländischen‘ Philosophie hartnäckig halten. So definierte beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ den Menschen in Abgrenzung vom Tier: „Der Mensch aber weiß um sich selbst, und dies unterscheidet ihn von dem Tier. Er ist denkend; Denken aber ist Wissen des Allgemeinen. Durch das Denken wird der Inhalt ins Einfache gesetzt, und so wird der Mensch selbst vereinfacht, d. h. ein Inneres, Ideelles. […] Das Tier hat seine Vorstellungen nicht als Ideelles, Wirkliches; darum fehlt ihm diese innere Selbständigkeit. Auch das Tier hat als Lebendiges die Quelle seiner Bewegung in sich selbst. Aber es wird von dem Äußern nicht erregt, wenn nicht der Reiz schon in ihm liegt; was nicht seinem Innern entspricht, ist für das Tier auch nicht vorhanden. Das Tier entzweit sich selbst aus sich selbst in ihm selbst. Es kann zwischen seinen Trieb und dessen Befriedigung nichts einschieben; es hat keinen Willen, kann die Hemmung nicht vornehmen. Das Erregende fängt bei ihm im Innern an und setzt eine immanente Ausführung voraus. Der Mensch aber ist nicht darum selbständig, weil die Bewegung in ihm anfängt, sondern weil er die Bewegung hemmen kann und also seine Unmittelbarkeit und Natürlichkeit bricht.“[8]

Dies dekonstruierte Derrida in seinem Buch „Glas“ wie folgt: „mächtige und weite Kette, von Aristoteles, wenigstens, bis in unsere Tage, sie bindet die onto-theologische Metaphysik an den Humanismus. Der Wesensgegensatz des Menschen zum Tier – oder eher zur Tierheit, zu einem eindeutigen, homogenen, obskurantistischen Begriff der Tierheit oder Animalität – dient dabei stets demselben Interesse. Das Tier hätte keine Vernunft, keine Gesellschaft, kein Lachen, kein Begehren, keine Sprache, kein Gesetz, keine Verdrängung. Von den drei Kränkungen des anthropischen Narzißmus scheint diejenige, die Freud durch den Namen Darwin anzeigt, unerträglicher zu sein als diejenige, die er selbst signiert hat. Man wird dem länger Widerstand geleistet haben“[9].

Den von Derrida zitierten drei freudschen Kränkungen des Anthropozentrismus fügte Lyotard eine vierte hinzu: „Eine der Implikationen dieser Denkströmung besteht darin, daß sie dem, was ich den Narzißmus des Menschen nennen würde, einen neuen Schlag versetzt. Freud hat schon drei berühmte aufgezählt: der Mensch steht nicht im Zentrum des Kosmos (Kopernikus), er ist nicht das erste Lebewesen (Darwin), er ist nicht Herr seiner Sinne (Freud selbst). Durch die zeitgenössische Techno-Wissenschaft erfährt er, daß er nicht das Monopol des Geistes, das heißt der Komplexifizierung besitzt, daß diese nicht wie ein Schicksal in die Materie eingeschrieben ist, sondern darin möglich ist, und daß sie – zufällig, aber vernehmlich (intelligiblement) – lange vor ihm selbst stattgefunden hat.“[10]

Der Neurowissenschaftler Christof Koch ist überzeugt, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, beispielsweise Insekten, ein Bewusstsein haben: „Gerade viele Insekten haben ein extrem komplexes Gehirn. Deshalb denke ich: Ja, warum sollte eine Biene, die an einem schönen Sommertag nach der Nektarernte heim zu ihren Schwestern fliegt, nicht Glück und Zufriedenheit empfinden?“ Selbst Lebewesen ohne Gehirn traut er ein Bewusstsein zu: „Wir neigen dazu, Bakterien, Pilze oder Pflanzen für nicht bewusstseinsfähig zu halten. Aber vielleicht unterschätzen wir sie, weil sie so radikal anders sind als wir. Gerade wenn es um uns so fremde Systeme geht, brauchen wir eine Theorie, die beschreibt, was Bewusstsein ist. Der integrierten Informationstheorie zufolge muss man jeweils analysieren, ob ein System genügend Komplexität hat, um ihm kausale Kraft zu verleihen. Möglicherweise erweist sich dabei, dass Bewusstsein viel verbreiteter ist, als wir glauben.“[11]

Den Begriff „Humanismus“ prägte Hegels Freund Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) in seiner 1808 in Jena veröffentlichen Schrift „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit“ als Bezeichnung für die von ihm kritisierte Bildung an den Realschulen der Aufklärung: „Auf dieser einen Seite steht daß System des oben so benannten Humanismus, das bei aller Würde und Erhabenheit seiner Ansichten von dem Wesen und der Bestimmung des Menschen, bei aller Vortrefflichkeit seiner Forderungen an die Erziehung und Bildung desselben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einseitigkeit und Ueberspannung nicht freigesprochen werden kann, sofern es seiner Grundansicht consequent bleibt. Es ist wahr, das Unbedingte in dem Menschen ist die Vernunft, und seine geistige Natur begründet sein eigentliches Wesen; das Animale hingegen, was er mit der ganzen übrigen thierischen Welt gemein hat, wird nicht ohne Grund zu seinem Wesen so wenig gezählt, daß die Benennung der Menschheit, der Humanität, bloß seine geistige Natur, mit gänzlicher Abstraction von der animalen, bezeichnet. Es scheint daher auch vollkommen begründet, daß die Erziehung und Bildung des Menschen sich, mit Hintansetzung seiner niedrigen Natur, ausschließend mit dem beschäftige, was nicht nur als das Höchste in ihm, sondern sogar als sein Wesen selbst gedacht wird. Allein der Mensch ist weder jene geistige noch jene animale Natur allein, weder das eine noch das andre Abstractum allein; und nicht nur der Mensch selbst wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als der andre unterschiedne Theil seines Wesens allein gedacht wird, sondern auch der eine wie der andre Theil seines Wesens wird unrichtig gedacht, wenn er außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird.“[12]

Dazu passend schilderte Hegel in einem Brief an Niethammer vom 6. Januar 1814 folgenden Traum: „Da ich soeben von einem dergleichen Traum aufwache, so läßt er in mir nichts anders recht zum Worte kommen; ich muß ihn daher wohl erzählen, um seiner loszuwerden. Es schien mir ganz lebhaft, daß ich in großer Gesellschaft einer Dissertation beiwohnte, die 2 Physiologen (ich glaube nun, der ganze Traum rührte daher, daß mir ein Mediziner Ihren Brief brachte) über den Vorzug der Affen oder der Schweine gegeneinander hielten. Der eine bekannte sich als Anhänger des Philanthropismus, hatte einen großmauligen, breitleibigen Patron namens Pippel zur Seite und machte den bekannten physiologischen Satz geltend, daß die Schweine von allen Tieren den Verdauungsorganen und übrigen Eingeweiden nach am meisten Aehnlichkeit mit den Menschen haben. Der andere gab sich für einen Freund des Humanismus aus, setzte jene Aehnlichkeit nach den Verdauungswerkzeugen herab, dagegen die Affen wegen ihrer Possierlichkeit, humanem Aussehen, Manieren, Nachahmungsfähigkeit u. s. f. hinauf. […] — Da erwachte ich, und [es] fiel mir hart ein, daß ich in die Lektion solle und übers Recht Vorlesungen zu halten habe.“[13]

In seiner „Phänomenologie des Geistes“ beschrieb Hegel das seines Erachtens den Wesenskern von Humanität bildende Verhalten: „Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Exstenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e].“[14]

Eine andere Humanitätsdefinition schlug Albert Schweitzer (1875–1965) in seinem Werk „Kultur und Ethik“ vor: „Humanität besteht darin, daß nie ein Mensch einem Zweck geopfert wird.“[15]

In seinem Buch „Das Inhumane“ äußerte Jean-François Lyotard einen zweifachen Verdacht: „[…] und wenn die Menschen, im Sinne des Humanismus, einerseits gerade, gezwungenermaßen, inhuman würden? Und wenn, andererseits, das ‚Eigentliche‘ des Menschen darin bestünde, daß er von Inhumanem bewohnt wird?“[16]

Zur humanistischen Verklärung des Menschen der Antike notierte Friedrich Nietzsche (1844–1900) im Jahre 1875, wahrscheinlich bei der Lektüre von Jacob Burckhardts (1818–1897) Vorlesungen über griechische Kulturgeschichte, folgende Anmerkung: „Es ist wahr, der Humanismus und die Auklärung haben das Alterthum als Bundesgenossen inʼs Feld geführt: und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist es ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur usw. Die Bekämpfer des Humanismus sind im Irrthum, wenn sie das Alterthum mit bekämpfen: sie haben da einen starken Bundesgenossen.“[17]

In einem 1892 in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Die Neue Zeit“ unter dem Titel „Humanistische Märchen“ erschienenen Artikel kritisierte sein Autor mit dem Namenskürzel „H. M.“ die Idealisierung der klassischen Antike im gymnasialen Unterricht: „Ich behaupte, daß das Bild, insbesondere des griechischen Alterthums, das sich der Gymnasiast gestaltet, ein in wesentlichen Zügen gefälschtes ist. Der klassische Unterricht ist bei uns im Allgemeinen von der Bestrebung getragen, die griechische Welt als eine fleckenlose Verwirklichung des Menschheitsideals hinzustellen. Die höchsten Höhen, zu denen sich die damalige Entwicklung aufgegipfelt hat, lernen wir kennen, ohne von den Tiefen, auf denen allein sie sich erheben konnten, von den realen Mächten, die Wurzel und Stamm dieser Blüthen bildeten, viel zu erfahren […]. Um den Idealismus des Schülers zu schonen, wird ihm wohl kaum je klar gemacht, daß der Boden Griechenlands und Rom allʼ seine herrlichen Menschenblüthen nie getragen hätte, wenn er nicht mit dem Schweiß und Blut unzähliger Sklaven gedüngt wäre; daß die bewunderte Hingabe des Bürgers an die politischen Bethätigungen doch den vollkommenen Mangel eines warmen und innigen Familienlebens zum Korrelat hatte […]. Aus einer Zeit, deren Lebensbedingungen so völlig andere waren, deren Kultur sich auf der ausgedehntesten Sklavenwirthschaft und der niedrigsten Stellung der Frauen aufbaute, kann man wohl einzelne Erscheinungen zu ästhetisch befriedigenden Bildern zusammenstellen, aber man darf sich nicht einbilden, daß ihre wissenschaftliche Erkenntniß uns haltbare Lebensideale liefere.“[18]

Über ein halbes Jahrhundert später erklärte Theodor W. Adorno (1903–1969) in einem zum Dies academicus der Technischen Hochschule Karlsruhe am 10. November 1953 gehaltenen Vortrag unter dem Titel „Über Technik und Humanismus“ das humanistische Bildungsideal für gescheitert: „Sie fragen schließlich nach der Heraufkunft eines neuen Bildungsideals. Am Scheitern des humanistischen Bildungsideals lassen die meisten von Ihnen ja wenig Zweifel, und ich bin darin mit Ihnen einig. Daß es scheiterte, daß es der Kultur nicht gelang, ihre eigene Menschheit zu kultivieren, ist nicht nur Schuld der Menschen, sondern auch der Kultur, die, losgetrennt vom Gedanken der verwirklichten Menschheit, ein Moment der Unwahrheit und des Scheins hat, dem nun heimgezahlt wird, indem die Menschen die Kultur von sich abwerfen. […] Heute gibt nur in der Kritik der Bildung und andererseits im kritischen Bewußtsein der Technik von sich selber und der Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in die wir verstrickt sind, die Hoffnung auf eine Gestalt der Bildung sich kund, die sich nicht mehr die Humboldtische, längst schattenhafte Pflege der Persönlichkeit zur Aufgabe setzt. Die Form, in der wir heute und hier allenfalls den Humanismus real erfahren können, ist die Unbestechlichkeit des Gedankens und die Unerschrockenheit im Angesicht der Unmenschlichkeit, die nicht von der Technik herrührt und nicht von den einzelnen Menschen, sondern von der Fatalität dessen, worin wir alle, ein jeder Mensch, auf der ganzen Welt eingespannt sind.“[19]

Dass Adorno und die Frankfurter Schule trotz ihrer Kritik einer humanistischen Perspektive verhaftet blieben, konstatierte Lyotard: „Das soll jedoch nicht heißen, daß man sich mit der von der Frankfurter Schule geäußerten Kritik an der Unterordnung des Geistes unter die Regeln und Werte der Kulturindustrie zufriedengeben kann. Ob positiv oder negativ, diese Diagnose rührt noch von einem humanistischen Standpunkt her. Die Fakten aber sind zweideutig.“[20]

Besonders scharf kritisierte Michel Foucault (1926–1984) „unser (vom Humanismus beherrschtes) höheres Bildungswesen“, was er wie folgt begründete: „Wir lernen absolut nichts über die grundlegenden Fächer, die es uns ermöglichen, zu verstehen, was hier bei uns und vor allem auch anderswo geschieht … Wenn der normale Bürger heute den Eindruck einer barbarischen, mit Zahlen und Abkürzungen gespickten Kultur hat, dann hat das nur eine Ursache: Unser Bildungssystem stammt aus dem 19. Jahrhundert, und immer noch herrschen darin die geistloseste Psychologie, der völlig veraltete Humanismus“[21].

Posthumanistische Humilitas

In seiner 1873 verfassten Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ verspottete Nietzsche den Hochmut der Spezies Mensch mit ihrer selbstproklamierten anthropozentrischen ‚Weltgeschichte‘: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt. Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen.“[22]

Auch die Philosophin Rosi Braidotti kritisiert in ihrem Buch „Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen“ „die humanistische Arroganz, die den Menschen nach wie vor ins Zentrum der Weltgeschichte stellt.“[23]

Hierzu schreibt die Kulturwissenschaftlerin Nada Rosa Schroer: „Die posthumane kritische Theorie, wie sie etwa die Philosophin Rosi Braidotti vertritt, unternimmt den Versuch, den Exzeptionalismus der Figur des ‚Menschen‘ – damit ist hier ein männliches, able-bodied und weißes Individuum gemeint – von seinem selbst gebauten Sockel zu holen und zu dekonstruieren. Denn die ‚Menschheit‘ ist keine einheitliche Kategorie. Sie entstand als humanistische Denkfigur vor dem geschichtlichen Hintergrund von kolonialer Gewalt, Rassismus und der Unterdrückung von Frauen.“[24]

Dass es eine Zeit vor dem Menschen, d. h. eine Geschichte ohne den Menschen, gab und es eine Zeit nach dem Menschen geben kann, legte Foucault am Ende seines Buches „Die Ordnung der Dinge“ dar: „Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die europäische Kultur seit dem sechzehnten Jahrhundert –, kann man sicher sein, daß der Mensch eine junge Erfindung ist. Nicht um ihn und um seine Geheimnisse herum hat das Wissen lange Zeit im dunkeln getappt. Tatsächlich hat unter den Veränderungen, die das Wissen von den Dingen und ihrer Ordnung, das Wissen der Identitäten, der Unterschiede, der Merkmale, der Äquivalenzen, der Wörter berührt haben – kurz inmitten all der Episoden der tiefen Geschichte des Gleichen –, eine einzige, die vor anderthalb Jahrhunderten begonnen hat und sich vielleicht jetzt abschließt, die Gestalt des Menschen erscheinen lassen. Es ist nicht die Befreiung von einer alten Unruhe, der Übergang einer Jahrtausende alten Sorge zu einem lichtvollen Bewußtsein, das Erreichen der Objektivität durch das, was lange Zeit in Glaubensvorstellungen und in Philosophien gefangen war: es war die Wirkung einer Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“[25]

In seinem Aufsatz „Humanismus und An-archie“ schließt sich Emmanuel Levinas (1906–1995) der Kritik am Anthropozentrismus an: „Der moderne Anti-Humanismus hat vermutlich recht, wenn er für den als Individuum einer Gattung oder einer ontologischen Region begriffenen Menschen – für ein Individuum, das wie alle anderen Substanzen im Sein beharrt – kein Privileg findet, das ihn zum Zweck der Wirklichkeit machen würde.“[26]

Stefan Herbrechter wünscht sich in seinem Plädoyer „für einen kritischen Posthumanismus“ eine „wohlwollende Misanthropie […], die sich aus eigentlicher Liebe zur Spezies Mensch gegen dessen hybris stellt und eine Art selbstkritische aber nicht selbstbemitleitende humilitas einfordert“[27].

Den von Herbrechter gebrauchten lateinischen Begriff „humilitas“ (Demut) definierte Baruch de Spinoza (1632–1677) wie folgt: Humilitas est tristitia orta ex eo, quod homo suam impotentiam sive imbecillitatem contemplatur.” (Demut ist eine Trauer, die dem entsprungen ist, daß ein Mensch seine eigene Ohnmacht oder Schwäche betrachtet.)[28]

Universalismus vs. Pluralismus

Der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner (1892–1985), ab 1926 außerordentlicher Professor in Köln, veröffentlichte 1931, zwei Jahre vor seiner Entlassung auf Grund der jüdischen Herkunft seines Vaters, die Schrift „Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“, in der er den humanistischen, eurozentristischen Universalismus kritisierte: „Es muß offenbleiben, um der Universalität des Blickes willen auf das menschliche Leben in der Breite aller Kulturen und Epochen, wessen der Mensch fähig ist. Darum rückt in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen, und die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst zum Menschen macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen. […] Und nur sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir die Suprematiestellung gegen andere Kulturen als Barbaren und bloße Fremde, geben wir auch die Stellung der Mission gegen die Fremde als die noch unerlöste unmündige Welt auf und entschränken damit den Horizont der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auf die zu den heterogensten Perspektiven aufgebrochene Geschichte. In dieser Richtung vollzieht sich der Abbau jener Vorstellung eines einlinigen Fortschritts, der den Blick der Historiker, Soziologen und Psychologen von vornherein auf das Abendland des 18., 19. und 20. Jahrhunderts fixiert hielt, als ob ihre Zivilisation, da sie rationale Geschichtserkenntnis und Sozialforschung in Freiheit gesetzt hatte, das letzte und höchste Stadium der Menschheit repräsentiere. In dieser Blickrichtung vermag allein jene Gerechtigkeit einer rationalen Geisteswissenschaft Wurzel zu schlagen, die mit der Desillusionierung ihrer selbst mit den bevormundenden und gönnerhaften Urteilen über außereuropäische und vergangene Dinge aufräumt. Relativ auf das eigene Wert- und Kategoriensystem erblickt die Geisteswissenschaft, die um die Errungenschaft dieser Blickstellung weiß, darin einen Fortschritt, ohne ihn zum Maßstab ihrer Objekte zu machen und ohne in ihm einen stillen Prozeß zu sehen, der den Gang des Geistes bis zu einer nunmehr erreichten endgültigen und absoluten Freiheit vorangetragen hätte.“[29]

Eine eurozentristische Konzeption des Menschen vertrat beispielsweise Hegel, der in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ den Bewohner*innen im „Innern“ Afrikas – unter Verwendung des rassistischen N-Wortes – alles Humane in ihrem vermeintlichen Charakter absprach: „Der N* stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“[30]

Dagegen forderte Franz Boas (1858–1942) aus kulturrelativistischer Perspektive, „die Vielfalt der Formen menschlichen Denkens und Tuns zu achten und zu pflegen“ und nicht „ein einziges Gedankenschema ganzen Nationen oder gar der gesamten Welt aufzuzwingen, weil das die vollkommene Erstarrung bedeuten würde.“[31]

In seinem Buch „Wie wir den Krieg der Kulturen noch vermeiden können“ übte Jonathan Sacks (1948–2020) – als orthodoxer Jude und Oberrabbiner von Großbritannien und dem Commonwealth – fundamentale Kritik am Universalismus: „Der Universalismus ist eine unzureichende Antwort auf das Stammesdenken und er ist nicht weniger gefährlich als dieses. Er führt zum Glauben, der oberflächlich gesehen bestrickend, aber rundweg falsch ist: dass es nur eine einzige Wahrheit über die Wesenszüge des menschlichen Daseins gebe, und dass diese für alle Menschen aller Zeiten gelte. Von da her gilt dann: Wenn ich Recht habe, dann hast du Unrecht. Wenn, das, was ich glaube, die Wahrheit ist, dann muss dein Glaube, der sich vom meinigen unterscheidet, ein Irrtum sein, von dem du bekehrt, geheilt und erlöst werden musst. Aus dieser Überzeugung erflossen etliche der großen Verbrechen der Weltgeschichte, manche unter religiösen Vorzeichen, andere […] unter dem Banner säkularer Philosophien, aber beide unter dem Bann von Platons Geist.“[32]

Beispielhaft sei an dieser Stelle die von Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ postulierte Superiorität der christlichen Religion gegenüber anderen Religionen genannt: „Diese Dreifaltigkeit ist es, wodurch die christliche Religion höher steht als die andern Religionen.“[33]

Dagegen betonte der Theologe und Religionsphilosoph John Hick (1922–2012) in seiner Philosophie des religiösen Pluralismus, „dass keine Religion vernünftigerweise den Anspruch erheben kann, die einzig wahre Religion zu sein und damit alle anderen Religionen als falsch abzutun.“[34]

Herbrechter betont in seiner kritischen Einführung in den Posthumanismus, „dass der Humanismus trotz allen zivilisatorischen Fortschritts, als Ideologie, entweder schon immer in verdeckter Weise und heutzutage immer offener, wegen seines vorgeblichen Universalismus, bei gleichzeitiger Spezifizität seines (westlichen bürgerlichen) Trägers, nicht so progressiv ist wie angenommen und daher auf massiven Widerstand in einer globalisierten Welt stößt. […] Das Defizit des Humanismus ist also sein ideologischer Glaube an eine essentielle Menschlichkeit, die außerhalb geschichtlichen Wandels und politischer und sozialer Beziehungen universell und fortwährend verfügbar existiert.“[35]

Braidotti kritisiert den Versuch, „das Subjekt des europäischen Denkens als einheitlich und hegemonial zu definieren und ihm – das Geschlecht ist hier kein Zufall – als dem Motor der Geschichte eine souveräne Stellung zuzuerkennen.“ Sie fordert, „den menschlichen Akteur von dieser universalistischen Position abzukoppeln, ihn dazu aufzurufen, sich sozusagen zu verlegen auf die Formen seines konkreten Handelns.“ Dabei weist Braidotti darauf hin, „dass das vermeintlich abstrakte Ideal des Menschen als Symbol klassischer Humanität ein in hohem Maße männliches“ und „noch dazu weiß, europäisch, stattlich und wohlproportioniert“ sei. Feministische Kritiken patriarchaler Selbstdarstellung durch weiße Männlichkeit hätten „deutlich gemacht, dass dieser humanistische Universalismus nicht nur aus epistemologischen, sondern auch aus ethischen und politischen Gründen angreifbar“ sei, und „den Eurozentrismus der europäischen Ansprüche auf Universalität“ in Frage gestellt.[36]

Die eurozentristische Perspektive in Wissenschaft, Ethik und Politik kritisierte auch Lyotard: „Es gibt nämlich eine Koppelung zwischen der Sprachgattung, die sich Wissenschaft nennt, und jener anderen, die sich Ethik und Politik nennt: Die eine wie die andere gehen von derselben Perspektive aus, oder, wenn man so will, von demselben ‚Entschluß‘, und dieser heißt Abendland.“[37]

In seinem Werk „Die Verdammten dieser Erde“ ging der antikoloniale Denker Frantz Fanon (1925–1961) mit dem europäischen Humanismus hart ins Gericht: „Mit Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. Seht, wie der Schatten seiner Monumente sich ausbreitet und vergrößert. Jede Bewegung Europas hat die Grenzen des Raumes und des Denkens gesprengt. Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. […] Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: wir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat.“[38]

Posthumanistischer Humanismus der postmodernen Moderne

In seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ stellte Lyotard folgende Definition des Begriffes „postmodern“ auf: „Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ‚postmodern‘. […] Aber die Skepsis ist nunmehr eine solche, daß man […] keinen Heilsweg mehr erwartet, wie Marx es tat. […] Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.“[39] Lyotard kritisierte das „Gegensatzdenken […], das den lebendigsten Weisen des postmodernen Wissens nicht entspricht“[40].

Später schrieb Lyotard in seinem Buch „Das Inhumane“: „Ich habe bekanntlich selbst den Terminus ‚postmodern‘ verwendet. Das war eine etwas provokative Art und Weise, die Debatte über die Erkenntnis ins volle Licht zu rücken. Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk.“[41]

Ähnlich argumentiert Wolfgang Welsch in seinem Buch „Unsere postmoderne Moderne“: „Die Postmoderne ist keineswegs, was ihr Name suggeriert und ihr geläufigstes Mißverständnis unterstellt: eine Trans- und Anti-Moderne. Ihr Grundinhalt – Pluralität – ist von der Moderne des 20. Jahrhunderts selbst schon propagiert worden, gerade von Leitinstanzen wie Wissenschaft und Kunst. In der Postmoderne wird dieses Desiderat der Moderne nun in der Breite der Wirklichkeit eingelöst. Daher ist die Postmoderne im Gehalt keineswegs anti-modern und in der Form nicht einfach trans-modern, sondern ist als die exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen. Wofür man auch sagen kann: Sie ist eigentlich radikal-modern, nicht post-modern. Und auch: Sie gehört – als eine Transformationsform derselben – der Moderne zu. Das will der Titel ‚Unsere postmoderne Moderne‘ zum Ausdruck bringen. ‚Moderne‘ ist das Substantiv. ‚Postmoderne‘ bezeichnet nur die Form, wie diese Moderne gegenwärtig einzulösen ist. Unsere Moderne ist die ‚postmodern‘ geprägte. Wir leben noch in der Moderne, aber wir tun es genau in dem Maße, in dem wir ‚Postmodernes‘ realisieren.“[42]

Der*die Ethiker*in Janina Loh schreibt in ihrer Einführung in den Trans- und Posthumanismus Folgendes über den von ihr vertretenen kritischen Posthumanismus (kPH): „Ebenso wie die Postmoderne notwendig an die Moderne gebunden bleibt und der Poststrukturalismus an den Strukturalismus, enthält der kPH auch in seiner Transzendierung des Humanismus immer zumindest die Erinnerung an diesen“[43].

In ihrem Buch „Erstickte Worte“ postulierte die Philosophin Sarah Kofman (1934–1994), deren Vater, ein Rabbiner, in Auschwitz ermordet worden war, für die Zeit nach Auschwitz „die Möglichkeit einer neuen Ethik“: „Eines neuen ‚Humanismus‘, könnte man sagen, wenn man dieses verbrauchte und idyllische Wort noch aussprechen dürfte, da ja ‚kein feierlich klingendes Wort nach Auschwitz unverändert ein Recht behält‘ (Antelme), denn die Lehre des Lagers ist es auch, dass die Figur des Menschen für immer erschüttert wurde.“[44] Zum Humanismusbegriff merkt sie an: „All dem zum Trotz, was diesen Ausdruck heute für uns inakzeptabel macht […], möchte ich ihn beibehalten, indem ich ihm einen anderen Sinn gebe, ihn verrücke und verwandle: ich behalte ihn bei, denn welches andere neue ‚Wort‘ könnte soviel Zugriff auf den alten Humanismus erlauben?“[45]

Da Kofman eng mit Derrida zusammenarbeitete, schließt sich nun in gewisser Weise unser ‚Randgang‘.

Schlussbemerkung

Das Schlusswort soll dem kambodschanischen Dokumentarfilmer Rithy Panh, der im Alter von 13 Jahren innerhalb weniger Wochen seine gesamte Familie durch die Gräueltaten der Roten Khmer verlor, gehören. Er schreibt am Ende seines Buches „Auslöschung“: „Ich habe von der früheren Welt erzählt: damit das, was schlecht war an ihr, nicht wiederkehren kann. Damit sie in unserem Gedächtnis und den Büchern fortlebt, im Fleisch der Überlebenden und den Grabstätten der Verstorbenen: und damit sie dort bleibt. Ich habe mich dieser Geschichte gestellt mit der Idee, dass der Mensch nicht von Grund auf schlecht sei. Das Böse ist nicht neu; das Gute auch nicht – aber, und das habe ich geschrieben, es gibt auch eine Banalität des Guten; und eine Alltäglichkeit des Guten. Das, was gut war an ihr, die Kindheit, das Lachen meiner Schwestern, das Schweigen meines Vaters, das Toben meiner Nichten und Neffen, der Mut und die Güte meiner Mutter, dieses Land der in Stein gehauenen Gesichter, die Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, die Freude am Wissen, an Bildung – das alles kann nicht ausgelöscht werden. Das ist nicht einfach vergangene Zeit, sondern Mühe und Arbeit: Es ist die menschliche Welt.“[46]

Bild oben: Die Installation „Deconstructing Male Gaze“ am StadtPalais – Museum für Stuttgart, Foto: © T. Tews

[1] Zhuangzi: Das Buch der daoistischen Weisheit. Gesamttext. Aus dem Chin. von Viktor Kalinke. Reclam, Ditzingen 2019, S. 36.
[2] Beethoven: Der Brief an die Unsterbliche Geliebte. Faksimile der Handschrift mit Übertragung und Kommentar. Hrsg. von Sieghard Brandenburg. Beethoven-Haus, Bonn 2001, S. 20.
[3] Emmanuel Levinas: Vom Sakralen zum Heiligen. Fünf neue Talmud-Lesungen. Aus dem Franz. von Frank Miething. Neue Kritik, Frankfurt am Main 1998, S. 146.
[4] Jacques Derrida: Fines hominis, in: Ders.: Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Gerhard Ahrens, Henriette Beese, Mathilde Fischer, Karin Karabaczek-Schreiner, Eva Pfaffenberger-Brückner, Günther Sigl und Donald Watts Tuckwiller. 3. Auflage. Passagen, Wien 2023, S. 133–157.
[5] Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Christine Pries. Passagen, Wien 1989, S. 90 f.
[6] Max Horkheimer: Aristotelische Betrachtung über Zivilisation, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 14: Nachgelassene Schriften 1949–1972. 5. Notizen. Hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr. S. Fischer, Frankfurt am Main 1988, S. 64.
[7] Cic. de orat. 1,32. Übersetzung nach: Marcus Tullius Cicero: De oratore. Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Sammlung Tusculum. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, S. 21.
[8] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Neue kritische Ausgabe. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. Band 18: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Teilband 1 – Einleitung: Die Vernunft in der Geschichte. 5., verb. Auflage. Felix Meiner, Hamburg 1955, S. 56 f.
[9] Jacques Derrida: Glas. Aus dem Franz. von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. Wilhelm Fink, München 2006, S. 33.
[10] Lyotard (Anm. 5), S. 59.
[11] „Computer sind wie Vampire – sie saugen uns aus“. Spiegel-Gespräch mit dem Wissenschaftler Christof Koch über die Grenzen der künstlichen Intelligenz, in: Der Spiegel Nr. 37 / 9.9.2023, S. 100–102, hier S. 102.
[12] Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Friedrich Frommann, Jena 1808, S. 39.
[13] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke. Neue kritische Ausgabe. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. Band 28: Briefe von und an Hegel. Teilband 2: 1813—1822. Felix Meiner, Hamburg 1953, S. 17 f.
[14] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 3: Phänomenologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 64 f.
[15] Albert Schweitzer: Kulturphilosophie. Band 2: Kultur und Ethik. C. H. Beck, München 1926, S. 221.
[16] Lyotard (Anm. 5), S. 12.
[17] Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Frühling–Sommer 1875, Nr. 5[60], in: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abteilung IV, Band 1: Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen IV). Nachgelassene Fragmente Anfang 1875 bis Frühling 1876. Walter de Gruyter, Berlin 1967, S. 134.
[18] H. M.: Humanistische Märchen, in: Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, 10. Jahrgang, Band 2, Heft 49, 1892, S. 713–718, hier S. 714 f.
[19] Theodor W. Adorno: Über Technik und Humanismus, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 20,1: Vermischte Schriften I, S. 310–317, hier S. 316 f.
[20] Lyotard (Anm. 5), S. 79.
[21] Michel Foucault: Gespräch mit Madeleine Chapsal, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 1: 1954–1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Franz. von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, S. 664–670, hier S. 669.
[22] Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abteilung III, Band 2: Nachgelassene Schriften 1870–1873. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1973, S. 367–384, hier S. 369 f.
[23] Rosi Braidotti: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Aus dem Engl. von Thomas Laugstien. Campus, Frankfurt am Main 2014, S. 28.
[24] Nada Rosa Schroer: Wässrige Wesen, in: Missy Magazine Nr. 4/2023, S. 58–60, hier S. 58.
[25] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Franz. von Ulrich Köppen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 462.
[26] Emmanuel Levinas: Humanismus und An-archie, in: Ders.: Humanismus des anderen Menschen. Übers. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler. Felix Meiner, Hamburg 1989, S. 61–83, hier S. 81.
[27] Stefan Herbrechter: Posthumanismus. Eine kritische Einführung. WBG, Darmstadt 2009, S. 13.
[28] Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke. Band 2: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch. Neu übers., hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. 4., durchges. Auflage. Felix Meiner, Hamburg 2015, S. 352 f.
[29] Hellmuth Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 5: Macht und menschliche Natur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 135–234, hier S. 161.
[30] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 122.
[31] Franz Boas: Das Geschöpf des sechsten Tages. Aus dem Engl. von Eva Heilmann und Gerdt Kutscher. Colloquium, Berlin 1955, S. 242.
[32] Jonathan Sacks: Wie wir den Krieg der Kulturen noch vermeiden können. Aus dem Engl. übers. von Bernardin Schellenberger. Mit einem Geleitwort von Hans Küng. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2007, S. 77 f.
[33] Hegel (Anm. 8), S. 59.
[34] John Hick: Auf dem Weg zu einer Philosophie des religiösen Pluralismus, in: Ulrich Dehn, Ulrike Caspar-Seeger und Freya Bernstorff (Hrsg.): Handbuch Theologie der Religionen. Texte zur religiösen Vielfalt und zum interreligiösen Dialog. Herder, Freiburg im Breisgau 2017, S. 146–171, hier S. 171.
[35] Herbrechter (Anm. 27), S. 43–45.
[36] Braidotti (Anm. 23), S. 29–31.
[37] Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Otto Pfersmann. Passagen, Wien 1999, S. 34.
[38] Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre. Aus dem Franz. von Traugott König. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 263.
[39] Lyotard (Anm. 37), S. 14. 16.
[40] Lyotard (Anm. 37), S. 52.
[41] Lyotard (Anm. 5), S. 47.
[42] Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. VCH, Acta humaniora, Weinheim 1987, S. 6.
[43] Janina Loh: Trans- und Posthumanismus zur Einführung. Junius, Hamburg 2018, S. 134.
[44] Sarah Kofman: Erstickte Worte. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Birgit Wagner. 2., überarb. Auflage. Passage, Wien 2005, S. 84.
[45] Kofman (Anm. 44), Anm. 117.
[46] Rithy Panh mit Christophe Bataille: Auslöschung. Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet. Aus dem Franz. von Hainer Kober. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, S. 234 f.