Am Dienstag kommt der Oberste Gerichtshof zusammen, um sich über den von der Knesset im Juli beschlossenen ersten Schritt des Umbaus des Justizwesens zu beraten. Sollte dieses Gesetz wieder kassiert werden, droht eine schwere Verfassungskrise. Denn es ist nicht sicher, dass die Regierung die Entscheidungen der Richter dann akzeptieren wird.
Von Ralf Balke
Der Termin steht seit einigen Wochen. So sollen am morgigen Dienstag alle fünfzehn Richter des Obersten Gerichtshofes unter dem Vorsitz seiner Präsidentin Esther Chayut zusammenkommen, um über acht Petitionen zu beraten. Das klingt erst einmal recht unspektakulär. Doch der Inhalt dieser Eingaben hat es in sich. Denn sie alle richten sich gegen die von der Knesset am 24. Juli beschlossenen Aufhebung der Angemessenheitsklausel, dem ersten Baustein dessen, was die Koalition von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu „Justizreform“ bezeichnet, aber auf einen Umbau des Justizwesens hinausläuft. Dem Obersten Gerichtshof wurde damit die Möglichkeit genommen, Regierungs- und Ministerialentscheidungen anhand von Angemessenheitsstandards zu überprüfen und gegebenenfalls außer Kraft zu setzen. Kritiker des Vorhabens befürchten, dass durch diesen Schritt das Prinzip der „Checks and Balances“ in Israel außer Kraft gesetzt werden könnte und das Land in Gefahr laufe, sich in Richtung einer illiberalen Demokratie zu entwickeln. Seine Befürworter dagegen verweisen auf die im Vergleich zu anderen westlichen Staaten ungewöhnlich starke Macht des Obersten Gerichtshofes, die man korrigieren müsse.
In den zur Diskussion stehenden acht Petitionen wird das Gesetz vom 24. Juli in gleich mehreren Punkten angefochten. Eines der Argumente lautet, dass die Knesset ihre verfassungsgebenden Befugnisse missbraucht habe, indem eine verfassungsähnliche Grundgesetzänderung verabschiedet wurde, die primär politisch motiviert war. Ihr Inhalt sei daher verfassungswidrig und ungeeignet, sich in das bestehende System der Verfassungsnormen einzufügen, die normalerweise die Aufgaben und Befugnisse des Staates regeln. Ihre Urheber haben sich darüber hinaus mit dem gesamten Vorlauf des Gesetzentwurfs befasst und sagen, dass seine Verabschiedung in Form einer übereilten Ausschussvorlage ein inakzeptables Verhalten darstellen würde.
Sollten die Richterinnen und Richter den Petitionen nun Folge leisten und die Entscheidung des Parlaments vom 24. Juli wieder kassieren, wäre das ein absolutes Novum. Denn bei der Aufhebung der Angemessenheitsklausel handelt es sich um eine Änderung eines der sogenannten „Basic Laws“, also jenen Gesetzen, die quasi Verfassungsrang haben. Und genau so etwas ist noch nie in der Geschichte Israels geschehen. „Die Regierungen Israels haben immer darauf geachtet, das Gesetz und das Urteil des Gerichts zu respektieren, und das Gericht hat immer darauf geachtet, die Grundgesetze zu respektieren“, hieß es Ende Juli in einer Erklärung des Likuds dazu. „Diese beiden Prinzipien bilden die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit in Israel und des Gleichgewichts zwischen den Gewalten in jeder Demokratie. Jede Abweichung von einem dieser Grundsätze wird die israelische Demokratie ernsthaft beschädigen, die gerade in diesen Tagen Ruhe, Dialogbereitschaft und Verantwortlichkeitsbewusstsein erfordert.“ Das ist eine klare Botschaft an die Richterinnen und Richter, die die Erwartung der Regierungspartei zum Ausdruck bringt, welches Urteil man sich vom Obersten Gerichtshof erhofft.
Doch ob das Gremium im Sinne der Koalition entscheiden wird, ist alles andere als garantiert – eher ist mit dem Gegenteil zu rechnen. Denn sowohl seine Präsidentin Esther Chayut als auch die Mehrzahl der fünfzehn obersten Richterinnen und Richter gelten als erklärte Gegner des Umbaus des Justizwesens – so wie die Mehrheit der Israelis, die seit Anfang des Jahres jede Woche zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um ihren Unmut über die „Justizreform“ Ausdruck zu verleihen. Auf ihrer Seite wissen sie dabei die Mehrzahl der Vertreter der Wirtschaft, die Bank of Israel, fast alle ehemaligen Geheimdienstchefs sowie viele hochrangige Militärs. Und tausende Reservisten der Armee haben in den vergangenen Monaten angekündigt, im Falle einer Umsetzung des Projekts der Regierung, nicht mehr zum Militärdienst zu erscheinen. Last but not least schwächelt infolge des Streits um dieses Vorhaben die Wirtschaft, selbst der Kurs des Schekels zeigte plötzlich nach unten.
Nun lautet die ganz große Frage: Wird die Regierung eine in ihrem Sinne negative Entscheidung des Obersten Gerichtshofes akzeptieren oder nicht? Denn bereits im März betonte Justizminister Yariv Levin, der Architekt des geplanten Umbaus des Justizwesens, dass er Entscheidungen des Obersten Gerichts bereits dann schon ignorieren würde, falls diese gegen die Umstrukturierung des Richterwahlausschusses opponieren. Jede Zurückweisung durch die höchsten Richterinnen und Richter „wäre völlig ungerechtfertigt. Meiner Meinung nach würde damit jede rote Linie überschritten werden. Wir werden das ganz sicher nicht akzeptieren“. Ähnliches ist von ihm zu erwarten, falls nun in diesem Punkt ein Urteil gefällt werden sollte, das dem Justizminister nicht behagt. Und seit Wochen schon gibt es zahlreiche Äußerungen von prominenten Politikern, die darauf hindeuten, dass sie das Einkassieren des Gesetzes vom 24. Juli nicht dulden würden. „Der Oberste Gerichtshof hat keine Befugnis, in Grundgesetze einzugreifen,“ erklärte beispielsweise Tali Gotlieb, Knesset-Abgeordnete des Likuds, bereits am 1. August in einem Tweet. „Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Ihr Richter des Obersten Gerichtshofs. Sie stehen definitiv nicht über dem Gesetz. Eine Entscheidung ohne Autorität ist nichtig … daher werde ich einen Eingriff in die Grundgesetze nicht respektieren.“ Ähnliches war auch von Kommunikationsminister Shlomo Karhi, ebenfalls Likud, zu hören. Auf das Nachhaken von Journalisten, wie er sich verhalten werden, wenn es zum Veto kommt, antwortete er: „Fragen Sie die Richter, ob sie beabsichtigen, die Demokratie im Staat Israel anzuerkennen. Das wäre die richtige Frage.“
Je näher der Termin morgen rückte, desto heftiger fielen auch die verbalen Interventionen aus. Auffällig ist, dass dabei ein Riss durch die Regierungspartei Likud geht. So verkündete Verteidigungsminister Yoav Gallant, dass er auf jeden Fall das Urteil des Obersten Gerichtshofes anerkennt, egal wie es ausfällt – schließlich sei Israel ein Rechtsstaat, weshalb man auch unbequeme Entscheidungen der höchsten Richterinnen und Richter akzeptieren müsse. Seine Parteikollegin, die Geheimdienstministerin Gila Gamliel, erklärte Ähnliches. Anders dagegen Knesset-Sprecher Amir Ohana. Am vergangenen Mittwoch hielt er eine Rede, in der er davor warnte, dass eine Entscheidung gegen die Aufhebung der Angemessenheitsklausel „uns in den Abgrund stürzen“ könnte, und schwor, dass die Knesset „es nicht zulassen werde, dass man auf ihr herumgetrampelt wird“. Benjamin Netanyahu zitierte daraufhin in den sozialen Medien die Worte des Knesset-Sprechers, was durchaus als Anzeichen dafür gewertet werden kann, dass der Ministerpräsident, der sich in dieser Frage bis dato eher bedeckt gehalten hatte, eine ähnliche Haltung einnehmen könnte und sich womöglich ebenfalls weigert, das Urteil der höchsten Richter anzuerkennen. Parallel dazu waren in den vergangenen Wochen immer wieder Äußerungen des Regierungschefs, vor allem in amerikanischen Medien, zu vernehmen, wonach er um des gesellschaftlichen Friedens Willen auf weitere Teile der „Justizreform“ verzichten will – Worte, die weder seinem Justizminister Yariv Levin oder den meisten Ministern gefielen, noch seinen Koalitionspartnern und von der Opposition ohnehin als Trick bewertet werden, die Protestbewegung zu schwächen.
Aber bei Benjamin Netanyahus Koalitionspartnern herrscht ebenfalls keine Einigkeit. Moshe Arbel, Innen- und Gesundheitsminister von der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei, erklärte, man müsse jedem Urteil des Obersten Gerichtshofes „unmissverständlich“ Folge leisten, Wohnungsbauminister Yitzhak Goldknopf von dem aschkenasischem Pendant Vereintes Torah Judentum dagegen will, dass man im Falle eines Abschmettern des Gesetzes vom 24. Juli „gemeinsam neu entscheidet“, was immer das heißen mag. Wenig überraschend sind dazu die Worte von Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit. Sie klingen beinahe schon wie eine Drohung. „Wenn der Oberste Gerichtshof das Gesetz aufheben sollte, käme das einem Putschversuch gleich“, so der Vorsitzende der rechtsextremen Otzma Yehudit Partei, der zugleich betonte, dass „der Oberste Gerichtshof nicht über allem steht“. Er hoffe deshalb, dass die Richterinnen und Richter „keinen Fehler begehen“.
Israel stehen damit einige turbulente Wochen bevor. Sollte die Regierung – wonach es derzeit aussieht – die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes nicht anerkennen, würde das Land in eine Verfassungskrise stürzen, deren Folgen niemand so richtig einzuschätzen vermag, weil es keine Präzedenzfälle gibt. Fakt aber wäre in diesem Fall, dass es zum Konflikt zwischen Exekutive und Judikative käme, was wiederum eine ganz zentrale Frage aufwirft: Wer wird in diesem Szenario eine Lösung herbeiführen? Alle Augen sind deshalb auf die Institution Armee gerichtet, deren Vertreter sich bereits klar positioniert haben, und zwar dahingehend, dass für sie letztendlich die höchsten Richterinnen und Richtern zählen. Offen aber bleibt, wie sie dann handeln würde.
Foto: Demonstration in Tel Aviv am 9.9.23, Foto: Giti Palti