Uri Avnerys literarische Frühwerke (1949/50)

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Am 14. Mai 1948 wurde Israel gegründet. David Ben Gurion verkündete die, international anerkannte, Staatsgründung. Noch in der Nacht zum 15. Mai wurde Israel von fünf arabischen Truppen aus Ägypten, Transjordanien, Syrien, Libanon und dem Irak angegriffen. Im Januar 1949 endete der Krieg mit einem militärischen Sieg Israels.

Von Roland Kaufhold 

Der 24-jährige Uri Avnery kämpfte in seiner Kommandoeinheit Samsons Füchse für Israels Unabhängigkeit. Anfänglich hatte er sich als Jugendlicher sehr rechts beim Irgun engagiert, dann kam der Bruch. Avnery verstand sich zunehmend als links. Der Kampf für Israels Unabhängigkeit war für ihn eine Selbstverständlichkeit, wenn er auch recht bald, schon 1949, sehr andere politische Vorstellungen als die Mehrheit der Israelis hatte. Der Prozess der Entfremdung hatte bei Avnery früh begonnen (Kaufhold 2003).

Während sich seine Kampfgefährten nach den Einsätzen ausruhten entwickelte der junge Uri Avnery eine Leidenschaft: Er wollte schreiben – und tat das auch.

Beeinflusst wurde er hierbei durch die antimilitaristischen Schriften Erich Maria Remarques. Regelmäßig verfasste er – wie er es selbst einmal selbstironisch formulierte – „pazifistischen Kriegstagebücher“, die von Offizieren, obwohl das eigentlich verboten war, zu Redaktionen von Tageszeitungen transportiert wurden und dort erschienen. Der größte Teil seiner Texte erschien 1948 in der Tageszeitung Yom Yom (Tag für Tag) sowie in der Abendausgabe von Haaretz (Das Land). 1948, noch während des Unabhängigkeitskrieges, erschien eine Sammlung seiner Schriften auf hebräisch in Buchform unter dem Titel „In den Feldern der Philister“ („In the Fields of the Philistines“) und dem Untertitel: Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg; der Originaltitel lautete Bisdot Pleshet: Yoman Kravi. Dieses Erstlingswerk Avnerys wurde gleich ein Bestseller, mit 20 Auflagen allein im ersten Jahr. Das Buch bildete eine Grundlage für sein zukünftiges politisches und literarisches Engagement, aber auch für die zutiefst ambivalente Rezeption und Wertschätzung seines Wirkens in der israelischen Bevölkerung (vgl. Kaufhold 2003, 2018a).

Gegen Kriegsende, am 8.12.1948, wurde Avnery bei einem Gefecht in der Nähe des Kibbuz Negba durch Bauchschüsse schwer verletzt. Avnery musste seine Schreiben für einige Wochen einstellen. Am 31.12.1948 verfasste er seinen ersten Beitrag, in dem er das Erleben seiner Verletzung und Heilung beschrieb. Seine Heilungsphase in einem Genesungsheim begann am 31.12.1948 und dauerte bis zum 25.1.1949.

In den Wochen zuvor hatte Avnery durch Gespräche mit jungen Israelis realisierte, dass sein erstes Buch häufig als ein den Krieg romantisierendes Werk rezipiert wurde. Er beschloss, während seiner Genesungsphase ein neues Werk zu schreiben, in welchem er die Kehrseite des Krieges beschreiben wollte: Gewalt, Übergriffe, Vergewaltigungen, Vertreibungen, seelische Verrohungen. Dieses knapp 200 Seiten umfassende Werk, betitelt mit Die Kehrseite der Medaille, verfasste er „in drei bis vier Wochen auf meiner kleinen Hermes-Schreibmaschine“ (Avnery 2005, S. 12); es stellte eine Mischung zwischen nüchternen Alltagsbeschreibungen aus dem Krieg, politischer Stellungnahme gegen Ben Gurion und literarischer Fantasie dar.

Sein zweites Werk erschien 1950 unter dem Titel Hatzad Hasheni Shel Hamatbea bei Zohar („The Other Side of the Coin“).

Auf deutsch schienen beide Werke erst über ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2005 unter dem Titel In den Feldern der Philister beim Hugendubel-Verlag; da war Avnery 82 Jahre alt.

Die im Buch publizierten Beiträge begannen am 29.11.1947 und endeten am 25.1.1949.

Der vehementen öffentlichen Reaktion im jungen Staat Israel auf sein Antikriegsbuch erinnert sich Avnery im Rückblick in dieser Weise:

„Der neue Band verursachte einen Skandal. Über Nacht wurde ich vom Helden des Tages zum Volksfeind Nummer eins. ‚Lüge! Betrug!‘, schrien die Patrioten, die im Krieg zu Hause geblieben waren. ‚So fluchen unsere Soldaten nicht! Unsere Soldaten morden und stehlen nicht! Sie haben keine Araber vertrieben! Es ist doch bekannt, dass die Araber aus eigenem Antrieb geflüchtet sind. Sie sind doch nur der Aufforderung ihrer Führung gefolgt! Unsere Waffen sind ‚rein‘! Unsere Armee ist die moralischste der Welt!“ (Avnery 2005, S. 12)

Und 1995 erinnert sich Avnery in einem Interview folgendermaßen an die Rezeption seiner beiden Frühwerke:

„Plötzlich war ich der Liebling der Gesellschaft und auch der Regierung. Das dauerte genau ein Jahr. Das hat mir sehr geholfen, denn vorher war ich schrecklich unpopulär. (…) Mit diesem Kriegsbuch, das ich einst als pazifistisches Kriegsbuch auffasste, ist dasselbe passiert wie mit den Büchern Erich Maria Remarques. Nämlich, dass Jugendliche es gelesen und sich dadurch für den Krieg begeistert haben – Kameradschaft, Abenteuer und so weiter. Daher schrieb ich noch ein zweites Buch, Die andere Seite der Münze (korrekt deutsche Titel: Die Kehrseite der Medaille), worin ich schilderte, was sonst noch im Krieg passiert war. Dieses Buch war ein nationaler Skandal ohnegleichen. Ich schrieb darin über Kriegsverbrechen, wie zum Beispiel die Tötung arabischer Flüchtlinge. Das Buch wurde dann boykottiert, und es erschien nur eine Auflage.“ (in Kaufhold 2003, S. 268)

In seinem 2005 hinzugefügten, mit Den Gefallenen der nächsten Runde überschriebenen Vorwort zur deutschen Erstausgabe zeichnet Avnery den Entstehungshintergrund dieser beiden scheinbar so disparaten Bücher nach. Beide Werke habe er bei der Abfassung seines Vorwortes zur deutschen Erstausgabe „nach 50 Jahren zum ersten Mal wieder gelesen.“ (S. 7) Sein Vorwort spiegelt eine psychologisch und historisch faszinierende Wiederbegegnung zwischen dem 25-Jährigen sowie dem 81-Jährigen Uri Avnery wieder: „Zwei unterschiedliche Menschen – und doch derselbe Mann. Der 25-Jährige ist ein Teil des 81-Jährigen. Der eine ist von den Erinnerungen des anderen nicht zu trennen. Aber er ist dennoch sehr weit entfernt, fast fremd, undeutlich erkennbar durch den Nebel der Jahre.“ (S. 7)

Als 81-Jähriger versuche er nun, die Gefühle des 25-jährigen Avnery zu verstehen, „dessen Ängste und Hoffnungen, gute und böse Taten, den Geist von damals. Das war nicht immer leicht für mich“, betont er in seinem Vorwort (S. 7).

Avnery analysiert, welche existentielle, kreative Bedeutung das eruptive Schreiben für den jungen, im 1948-er Befreiungskampf engagierten Aktivisten hatte:

„In den nächsten Monaten wurde mir das Schreiben zur Obsession. Ich schrieb und schrieb und schrieb. Es half mir, die Spannungen abzubauen, die Ängste zu überwinden, die Erlebnisse zu verarbeiten. Es wurde mir ein ständiges Bedürfnis.
Ich schrieb vor den Einsätzen, während der Einsätze und danach. Wenn eine anstrengende Aktion vorüber war, legten sich meine Kameraden auf den Boden und schnarchten. Ich nahm Papier und Bleistift zur Hand und schrieb. Ich schrieb auf dem Boden, in den Schützengräben und auf der Motorhaube eines Jeeps. Ich schrieb in der Kantine zwischen Hunderten von lärmenden Kameraden und ich schrieb nachts im Bett.“ (S. 8).

Avnery wusste, dass seine Berichte aus dem Krieg für eine breite Öffentlichkeit gedacht waren und dementsprechend gut lesbar sein mussten.

Brüderlicher Geist der Armee

Diese mehreren Dutzend Berichte erschienen unmittelbar nach ihrem Verfassen in  israelischen Tageszeitungen. Sie gelangten auf verschlungenen Wegen vom Kriegsgebiet zu den Redaktionen: Avnery übergab sie in passenden Situationen irgendwelchen Versorgungsfahrzeugen oder aber befreundeten Soldaten, die zu einem Heimaturlaub aufbrachen. Kein Bericht sei verloren gegangen. Tief beeindruckt war Uri Avnery in dieser Zeit von dem zutiefst demokratischen, antihierarchischen, brüderlichen Geist in großen Teilen der damaligen israelischen Armee – was seine spätere, sehr scharfe Kritik an bestimmten harten Gewaltmaßnahmen der israelischen Armee verständlicher erscheinen lässt. Avnery gibt hierfür ein aus eigenen Erfahrungen erwachsenes eindrückliches Beispiel. Eigentlich war es Soldaten verboten, ohne Genehmigung von militärischen Ereignissen öffentlich zu berichten:

„Jedes Wort in diesem Buch wurde unter klarer Missachtung eines eindeutigen Befehls geschrieben: Soldaten durften keine Interviews geben und sie durften auch nicht ohne ausdrückliche Genehmigung für Zeitungen schreiben. Meine Vorgesetzten drückten beide Augen zu. Als ein höherer Offizier aus der Etappe begann, Ärger zu machen, rief mich ein hoher Offizier aus unserem Bataillonsstab zu sich und erklärte sich bereit, meine Berichte persönlich und heimlich an die Zeitung weiterzugeben. Eines Tages, nachdem mir wieder mal ausdrücklich befohlen worden war, nicht mehr zu schreiben, wurde ich zum Bataillonschef bestellt. Voller Sorge meldete ich mich. Dort wurde mir ein kleiner, brauner Umschlag übergeben. Er enthielt den handgeschriebenen Brief des legendären Brigadekommandeurs Shimon Avidan. Er beglückwünschte mich zu einem Bericht, in dem ich die besondere Rolle des Infanteriesoldaten beschrieben hatte. So eine Armee waren wir damals.“ (S. 9)

Avnerys Texte spiegeln die Stimmung innerhalb seiner eigenen Kampfeinheit wieder, die von anfänglicher Begeisterung bei Kriegsausbruch „bis zu tiefen Enttäuschungen am Ende“ reichten (S. 9).

Als Avnerys erstes Buch 1948 erscheinen sollte musste dieses der Militärzensur vorgelegt werden. Hierdurch gingen Teile seines Ursprungsmanuskriptes verloren.

Die Veröffentlichung seines ersten Buches im Jahr 1948 erwies sich, wie er im Vorwort erinnernd bemerkt, als schwierig: Große Verlage sahen keine Absatzmöglichkeiten, weil niemand gerne an den gerade überstandenen Krieg erinnert werden wolle. Ein kleiner Verlag ging das Risiko ein – und sein Buch In den Feldern der Philister wurde ein absoluter Bestseller: „Im Laufe eines einzigen Jahres erschienen zehn Hardcover-Auflagen. Es gab keine Hochzeit und keine Bar-Mitzvah-Party, auf deren Geschenktischen nicht mehrere Exemplare davon lagen.“ (S. 11)

„Über Nacht wurde ich vom Helden zum Volksfeind Nummer eins“

Das Verfassen seines zweiten, politisch bewusst kontroversen Buches ein Jahr später, nach der Staatsgründung, sah er „als meine Pflicht an. (…) In großer Eile schrieb ich in drei bis vier Wochen auf meiner kleinen Hermes-Schreibmaschine das neue Buch. (…) Ich wollte darin die dunklen Seiten des Krieges beschreiben, als Ergänzung zu meinem ersten Buch. Nur beide Bände zusammen schildern die ganze Wahrheit, wie ich sie erlebte.“ (S. 12)

Avery erinnert sich eines ungeheuerlichen Skandals, den sein zweites, kritisches Werk auslöste: „Aus ihm erwuchsen Erschütterung, Wut und Hass. Über Nacht wurde ich vom Helden des Tages zum Volksfeind Nummer eins. „Lüge! Betrug!“, schrien die Patrioten, die im Krieg zu Hause geblieben waren.“ (S. 12)

Avnery schildert in seinem 2004 verfassten Vorwort zu der deutschen Erstausgabe die heftigen Kontroversen, die seine Methode auslöste, literarische Texte am Ende seines Werkes mit politischen Stellungnahmen zu verbinden. Das habe die Mehrzahl seiner Kollegen nicht zu akzeptieren vermocht.

Deshalb erinnert er am Ende seines Vorwortes (2004) an den Schwur, den er sich Anfang 1949 in seiner Genesungsphase im Spital gegeben hatte und der heute vielleicht als kitschig erscheinen könnte:

„Ich schwor, den Rest meines Lebens – das mir von vier aus Marokko stammenden Rekruten geschenkt wurde, die mich unter teuflischem Feuer nach meiner Verwundung retteten – dem Kampf für den Frieden zu widmen. Ich habe mich häufig an diesen Schwur erinnert, vor allem in Momenten der Enttäuschung, der Frustration und der Schwäche. Ich hoffe, dass ich diesen Schwur nicht gebrochen habe und dass ich ihn nicht brechen werde, solange ich noch auf dieser Welt lebe.“ (S. 14)

Eines ist gewiss: Diesem Grundsatz, der ihn mit zunehmendem Lebensalter von der großen Mehrheit der israelischen Gesellschaft entfremdete und ihn teils als einen Sektierer erscheinen ließ, ist Uri Avnery niemals untreu geworden (vgl. Kaufhold 2003).

Avnery erinnert sich an die Monate vor der Staatsgründung Israels: Als die UNO-Vollversammlung am 29.11.1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Teil beschloss, jubelte die ganz große Mehrzahl der 635.000 jüdischen Einwohner Palästinas. Avnery hingegen war enttäuscht. Er sah einen großen Krieg vor sich, der auf beiden Seiten zahllose Opfer hervorrufen würde. Und doch kämpfte er in ihm auf der israelischen Seite.

In den Feldern der Philister

Das Buch beginnt mit dem 29.11.1947, an dem der internationale Teilungsplan Palästinas im Radio verkündet wurde: „Keiner schläft. Alles sitzt an den Radioapparaten. Und über den Äther kommt die Nachricht: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat die Gründung eines jüdischen und eines arabischen Staates beschlossen.
Wie ein wilder Sturm explodiert die Freude. Die Jugend strömt auf die Straße, versammelt sich, tobt. Eine solche Demonstration massenhafter Begeisterung hat das Land bisher noch nicht gesehen. Man drängt sich zusammen, Kopf an Kopf, es wird gesungen. (…) Die Freude überspült jeden Gegensatz, Grenzen und Unterschiede fallen in sich zusammen. In einem Meer von Fahnen, in einem Rausch von Begeisterung feiert die junge Bevölkerung die große Nachricht.“ (S. 23)

Avnery zeichnet die Gefühle jener Tage kurz vor der Staatsgründung nach: „Diese Jugend freute sich nicht über die Teilung, die Palästina geradezu in kleine Teile zerfetzen würde. Sie freute sich nicht auf den anstehenden Kampf. Die Freude war Ausdruck von Freiheit. Die Mauern des Ghettos sind gefallen, der Weg in die Weite ist frei, neue Horizonte für Aktivität und Lebensgestaltung werden sich öffnen.

Aber es gab auch einige, die in dieser Nacht ruhig blieben. Sie bewegten sich mit finsteren Gesichtern, ohne auch am Jubel zu beteiligen. Sie schauten der tanzenden, jauchzenden Jugend zu und fragten sich: Wer von diesen wird im nächsten Jahr noch leben?“ (S. 24) notiert Avnery am 29.11.1947.

Eine Armee ohne Abzeichen und Ränge…

Einen Tag später feiert Avnery in seinen Aufzeichnungen das spontane Entstehen der neuen israelischen Armee, bestehend vor allem aus Freiwilligen: „Eine Armee ohne Namen, ohne Abzeichen, Ränge oder Uniform – die Armee der jungen Israelis.“ (S. 26)

Und dann: „Als ich am 30. November las, dass der erste israelische Bus von arabischen Kämpfern angegriffen worden war, wusste ich, dass ich nur noch eine Pflicht hatte: mich zu melden.“ (S. 27)

Am 4.3.1948 – „im Urlaub“ notiert er unter der Überschrift „Wir sind Soldaten“ – schreibt Avnery:

„Der Sohn, Bruder oder Freund wird eingezogen. Nach zwei Wochen kommt er das erste Mal auf Urlaub nach Hause. Oberflächlich betrachtet hat er sich nicht verändert.“ (S. 33) Und doch schildert er die Veränderungen bei den Soldaten, erwachsend auch aus der Notwendigkeit, Befehlen zu gehorchen:

„Man treibt dich, schreit dich an, hetzt dich. (…) Das stärkste Erlebnis während der ersten Übungsphase ist die absolute Trennung von der Außenwelt.“ (S. 33)

Die ersten Gefallenen

Am 4.4.1948 schreibt Avnery über „Die ersten Gefallenen“ (S. 41). Die Spannung ist Alltag: „Die Kugeln pfeifen weiter. Plötzlich Ruhe. Hat sich der Feind zurückgezogen? Auch neben dem arabischen Dorf wird geschossen. Ich kann die arabischen Rufe deutlich hören: „Achmed!, Taal Hon!“ (S. 43)

Am 7.4.1948 beschreibt Avnery ihre „Welt voller Erlebnisse: Ich habe ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Ist das die Angst? Ich frage Shlomo. Er hat das gleiche Gefühl. Es wird unser erster Kampf werden. Werden wir ihn bestehen? Ja, da sind wir sicher. Und dennoch: Wir sind bedrückt.“ (S. 47)

Am 14.5.1948 ist der Unabhängigkeitstag Israels. Avnery sieht die Vororte Jerusalems, bereitet sich mit seiner Kampfeinheit auf den Einmarsch in Jerusalem vor:
„Keiner von uns wird diese Augenblicke vergessen. Hunderte von Fahrzeugen und ihre Begleiter fahren in die wartende Stadt, die Jubelrufe der Einwohner, die sich auf den Straßen versammeln, auf den Balkonen, auf den Dächern. (…) Diese Einfahrt nach Jerusalem hat uns für alles entschädigt, was wir in den letzten Wochen durchgemacht haben.“ (S. 61)

Dann treffen sie einen britischen Konvoi, der in die entgegengesetzte Richtung fährt. Sie sind begeistert, ermutigt:

„Ein eigenwilliges Erlebnis: Israelis mit Gewehren und automatischen Waffen tauschen finstere Blicke mit englischen Soldaten die Gewehre und automatische Waffen dabeihaben. Mit einer gewissen Bewunderung starren sie auf unsere Waffen. Die Länge des Konvois scheint sie zu beeindrucken.“ (S. 62)

„Wir sind keine besonderen Helden“

Am 17.5.1948 erlebt Uri Avnery seinen ersten Kampf, um Latrum. Avnery beschreibt die interne Stimmung vor dieser wichtigen militärischen Operation. Als „Helden“ empfinden sich seine Kampfkammeraden nicht: „Wir sind keine besonderen Helden und freuen uns nicht mehr als jeder normale Mensch über die Gefahren, in die wir geschickt werden. (…) Nach einer halben Stunde hörten wir aus der Ferne Kanonendonner. Aber das hielt uns nicht davon ab, Marmelade zu schlecken und Groschenromane zu lesen.“ (S. 63)

Die Atmosphäre ändert sich binnen weniger Sekunden, als ein militärischer Pick-Up auf sie zurast und ihnen eine Anweisung für eine unmittelbar bevorstehende militärische Operation zuruft. Die Situation ist ernst:
„Wir fahren los. Zwischen den Fahrzeugen liegen jeweils etwa 40 Meter. Unsere Laune ist gut. Wir erzählen Witze und treiben Schabernack. Als wir zum ersten Mal in den Kampf zogen, bei der Operation Nachschon, waren wir noch aufgeregt und angespannt. Jetzt spüren wir nichts davon. Der Kampf ist nicht länger eine fremde und beängstigende Welt (…) Wir haben gelernt, dass nicht jede Kugel trifft. Kurzum – wir sind inzwischen „erfahrene Frontsoldaten“. Oder es scheint uns zumindest so.“ (S. 64)

Als Avnery Jahrzehnte später, unter Bruch der internen Vorgaben, als Israeli Arafat im belagerten Beirut und die palästinensischen Politiker Sartawi und Hamami in europäischen Hotels trifft, um auf privater Initiative „Geheimdiplomatie“ zu betreiben, ist Avnery vollständig angstfrei. 1948 wurden die Grundlagen hierfür geschaffen (vgl. Kaufhold 2003, S. 277-282).

Der Scharfschütze

Avnery beschreibt zahlreiche Situationen des Kampfes, der Angst. Er hat ein Maschinengewehr, betätigt sich als Scharfschütze:
„Von dieser Stellung aus sehe ich den Feind jetzt deutlich. Neben dem Kloster Latrun steht ein Panzer. Hunderte von Arabern kommen durch die Weizenfelder auf uns zu. Noch sind sie etwa 800 Meter entfernt. Sie sind gut ausgebildet. Bewegen sich nach den Regeln der Kriegskunst. Inzwischen strömt Unterstützung für die Araber aus Ramle herbei. Sie nähern sich uns von links. Es ist klar, dass wir in einer halben Stunde verloren sind. Wir schießen ununterbrochen auf den Feind vor uns, damit unsere Kameraden die Verletzten wegschaffen können. Die Araber gehen in einer breiten Kette vorwärts, und unsere automatischen Waffen erwischen viele von ihnen“, notiert er im Mai 1948 (S. 69).

Selbst in dieser Situation schreibt Avnery weiter, zwischendurch, in den Pausen. Und seine Zeilen werden wenig später in israelischen Zeitungen gedruckt.

„Wir, wir haben den Staat gegründet“

Dann die Nachricht der Staatsgründung. Sie erfahren auf dem Kampffeld hiervon:
„Am Nachmittag des 14. Mai stürmte einer der Kameraden in unser Zeltlager und berichtete, er habe im Radio gehört, dass der israelische Staat ausgerufen wurde. Wir drängen uns im großen Speisesaal des Kibbuzes Chuldah – den Soldaten auf keinen Fall betreten durften – und hörten die Rede von Ben Gurion auf Englisch. Die hebräische Sendung hatten wir verpasst.

Auch wenn wir weit weg von der Politik und von den Reden der Politiker waren bewegte uns die Nachricht doch. Die Kämpfe waren also nicht umsonst gewesen. Wir schauten uns an und hatten alle den gleichen Gedanken: Wir, wir haben diesen Staat gegründet! Mit unserem Blut und mit unserem Schweiß. Als Ben Gurion vom Anteil der verteidigenden Einheiten an diesem historischen Augenblick sprach, nahmen wir seine Worte als den Dank des Jishuv an.“ (S. 71f.)

Uri fühlt sich bei der Staatsgründung im Mai 1948  noch als Teil der Nation, auch wenn er „den Politikern“ bereits seinerseits nicht viel Respekt entgegen bringt und rasch sehr andere Pläne bzgl. einer Kooperation von Israelis und Palästinensern hat.

Der Partisan Abba Kovner

Am 1.6.1948 begegnet er „im Bataillonslager“ (S. 89) einem ganz außergewöhnlichen Helden des Widerstandes: Er erlebt Abba Kovner (1918-1987), litauisch-israelischer Schriftsteller und Partisan gegen die Deutschen. Im Untergrund hatte Kovner in den Wäldern um Wilna ein Manifest gegen die Deutschen veröffentlicht, dass sie sich „nicht wie Schafe zur Schlachtbank“ führen lassen dürfen.  

Nach der Shoah plante Abba Kovner, zusammen mit Kameraden von der Bricha Rache für den Holocaust zu nehmen und Deutsche zu vergiften – in Nürnberg: Eine Geschichte des heldenhaften jüdischen Widerstandes, die Jim G. Tobias & Peter Zinke in ihrem Buch „Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern“ (Hamburg 1995) nacherzählt haben.

Avnery ist kurz zuvor zum Funker ernannt worden, weil man einen brauchte. Avnery fängt die Situation ihrer Begegnung in dieser Weise ein:

„Die Kameraden hocken auf dem Boden. Einige reinigen ihre Waffen. (…) Abba Kovner spricht. Er ist direkt vom Partisanenkampf aus Russland zu uns gekommen und ist in der Briga für die Informationen nach innen und außen zuständig. Es ist das erste Mal, dass jemand vom Brigadestab direkt zu uns spricht. Mehr als alles andere macht dies die Bedeutung der bevorstehenden Operation deutlich. Es herrscht eine eigenartige Stimmung.“ (S. 89)

„… Jetzt lieben wir plötzlich das Leben“

Eine Woche später bekommt Avnery einen „kleinen Job“: Zusammen mit fünf Kameraden soll er eine Stellung in Beith Darrass gegen Ägypter verteidigen. Einige Kameraden meinen gleich spöttich, er habe diesen Job wohl nur übernommen, „damit ich wieder etwas habe, worüber ich in der Zeitung schreiben kann.“ (S. 100)

Avnery fühlt sich wie ein Partisan in einer libertären Armee – wie sie der Schriftsteller und Psychoanalytiker Paul Parin in seinen erinnerten Werken über Titos Partisanenarmee („Es ist Krieg und wir gehen hin“, 1992) beschrieben hat:
„Wir gehen los. Hier gibt es keinen Chef. Wir müssen uns nichts beweisen. So rücken wir gern aus – wenige Kameraden, die sich verstehen und wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können. (…) Die Sonne brennt. Diesmal habe ich meinen Stahlhelm mitgenommen, und er ist lästig. Unsere Kleider sind verschwitzt, aber wir kommen schnell voran. Jede Minute ist wichtig, denn jeden Augenblick kann eines der Fahrzeuge getroffen werden. Der kurze Weg dauert dennoch mehr als eine halbe Stunde.“ (S. 101)

Die Operation gelingt. Bei der Rückfahrt sind sie leichtsinnig, beflügelt vom Erfolg, und nehmen einen kürzeren Weg:

„Im Lager werden wir wie Sieger empfangen. Jerach drückt Jank und mir die Hand. Die Kameraden flüstern, sie hätten aus „erster Quelle“ bereits gehört, wir sollten im Tagesbefehl erwähnt werden. Wir sind vor allem froh, dass wir heil zurück sind. Während des Einsatzes hatten wir keine Zeit, über die Gefahren nachzudenken. Jetzt lieben wir plötzlich das Leben. Wir fühlen uns nicht als Helden, aber wir fühlen uns besonders wohl.“ (S. 102)

Im Juli 1948 beschreibt Avnery eine Situation im Schützengraben. Das Kämpfen ist für ihn zu einer Selbstverständlichkeit geworden, seine Reflexe sind darauf eingestellt:
„Ich nehme das Gewehr eines Verwundeten, und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich freie Sicht und schieße. Sofort stecken mehrere Kugeln in der Erde um uns herum. Ich funktioniere instinktiv. Habe aufgehört zu denken.“ (S. 128)

„Über all das erzählt er euch nichts, um eure Gefühle zu schonen“

Wenige Tage später beschreibt Avnery in dem Beitrag „An die Eltern“ die Situation des Soldaten, der nach Wochen oder Monaten des Kampfes zu einem Heimaturlaub bei seinen Eltern aufbrechen darf. Häufig fühlt dieser sich nicht verstanden, die unterschiedlichen Lebenswelten sind kaum miteinander in Verbindung zu bringen:

„Die Waffen schweigen und die Soldaten kriechen aus ihren Gräben. Da ist der Wunsch groß, einige Worte an die Eltern zu richten. (…) Euer Sohn kommt zu einem kurzen Urlaub zurück. Er ist müde und schweigsam. Und er spürt, dass da etwas ist zwischen euch und ihm, an dem ihr nicht teilhabt. Ihr würdet so gern verstehen. An dem teilhaben, was ihn bedrückt. Ihr stellt ihm Fragen. Aber er entzieht sich. Er schweigt und rückt von euch ab, oder er verdrängt es mit einem gequälten Lächeln. (…) Über all das erzählt er euch nichts, um eure Gefühle zu schonen. Er kann euch von diesem schillernden Leben und dem grausamen Tod nichts erzählen, weil ihr zu einer anderen Welt gehört.“ (S. 150f.)

Jochanan: Portrait eines Helden

Am 28.8.1948 verfasst der 25-Jährige ein „Portrait eines Helden“ (S. 170-172). Er erzählt über das kurze Leben seines Freundes Jochanan Silbermann: Dieser war „einfacher Schütze“ in seiner Kompanie, die Beith Darrass gegen einen großen Angriff verteidigte. Innerlich verbunden war Avnerys Kampfgruppe durch das Gefühl einer tiefen Solidarität:

„Die Kameradschaft der Front überdeckte jedes andere Gefühl. Sie war ein  elementares Bedürfnis. Ohne sie hätten wir keine Hoffnung gehabt zu überleben.“ (S. 170)

Jochanans Kompanie gehörte zur Sturmspitze, die den Zugang zum Negev freikämpfen soll:

„Unsere Jeeps wurden zum Einsammeln der Verwundeten eingesetzt. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass Jochanan gefallen war.“ (ebd.)

In seinem Kriegstagebuch führt Uri Avnery über seinen gefallenen Freund aus:

„Als die zweite Waffenruhe kam, dachte er, er sei an der Reihe, ein wenig auszuruhen, Urlaub zu bekommen, einige Tage mit der geliebten Freundin zu verbringen. Aber als die Meldung einging, die Ägypter blockierten den Weg in den Negev, und der Befehl kam, anzugreifen, beschwerte er sich nicht und zögerte auch nicht. (…) Als sie mit einem teuflischen Feuerteppich aus befestigten Stellungen in Iray al-Manshijef eingedeckt wurden, bekamen viele von ihnen Angst. Da stand Jochanan auf, um ihnen ein Vorbild zu sein, um ihnen die Furcht zu nehmen. Die Salve eines Maschinengewehrs traf ihn in die Brust. Er war auf der Stelle tot.“ (S. 171)

Sein soeben verstorbener Freund „war keiner jener Vielschwätzer, die in den Kaffeehäusern von Tel Aviv sitzen und mit Heldentaten protzen. Häufig lag ein scheues Lächeln auf seinem Gesicht. Das Lächeln eines Menschen, für den Bescheidenheit eine Grundtugend war.“ (ebd.)

Avnery beschreibt seine tiefe Sorge um seinen empfindsamen Freund Jochanan, der gerne und häufig selbstvergessen Klavier spielt, auch während der Kampfpausen. Der sich nicht für Politik interessiert, von Gefühlen des „menschliche Anstandes“ (S. 172) angetrieben wird – und der sich doch, zur ausgeprägten Überraschung Uris, innerhalb der jungen israelischen Armee zu behaupten vermag. Uri zieht ein (im Buch kursiv gesetztes) Resümee:

 „Jonathans Tod regte mich an, einen Soldaten zu beschreiben, der den Krieg hasst, der im Inneren seines Herzens ein Pazifist ist, der sich aber dennoch im Kampf auszeichnet. Im Krieg lernten wir, uns als Zyniker zu geben und über Ideale zu lästern. Aber das war Täuschung. Das Erlebnis des Krieges hat den Kämpfenden zum praktischen Idealisten erzogen.“ (S. 172)

„Ich brauche eure Gedenkfeier nicht!“

Überspringen wir Vieles. Der 27-jährige Uri Avnery lässt sein zweites, gleichfalls in diesem Band erstmals auf deutsch publiziertes Antikriegsbuch Die Kehrseite der Medaille (1950) mit einer Erinnerung an einen der vielen toten Kameraden ausklingen. Der junge, tote israelische Soldat spricht aus dem Grab zu seinen Verwandten und Freunden:

„‚Ich bin tot. Hört ihr? Tot. T o t! Ich brauche eure Gedenkfeier nicht! Ich mache euch keine Vorwürfe. Aber ihr könntet etwas für andere Söhne, für andere Eltern tun. Geht auf die Straße und schreit! Hört ihr? Schreit! Dass ihr mich 24 Jahre lang für nichts versorgt habt. Dass ich starb, bevor ich irgendetwas im Leben tun konnte. Schreit anderen Eltern zu, sie sollen nicht zulassen, dass man ihre Kinder in den Krieg schickt. Die sollen das verbieten!’“ (S. 413)
Sein Buch lässt der 27-jährige Uri Avnery einige Zeilen später so enden:

„Der Regen hat aufgehört.
Eine merkwürdige Stille herrscht im Zimmer. Eine unnatürliche Stille.
Etwas fehlt. Etwas ist verschwunden.
Was ist es?
Das Röcheln hat aufgehört.
Der Verwundete mir gegenüber liegt regungslos da. Sein Kopf ist zur Seite geneigt.
Er atmet nicht mehr.
Ein Mensch ist gestorben.“ (S. 414)

Noch vor Kriegsende hatte Uri Avnery weitere politische Artikel verfasst, in denen er sich für eine Beendigung des Krieges und für eine wirkliche Verständigung mit den Arabern einsetzte. Gustav Schocken, aus Chemnitz nach Israel eingewanderter legendärer Publizist, Chefredakteur der auflagenstarken Tageszeitung Haaretz, interessierte sich für den Autor und bot ihm an, regelmäßig Leitartikel in Haaretz zu verfassen – eine hohe Auszeichnung für einen 25-jährigen, der keine professionelle journalistische Ausbildung durchlaufen hatte. Dennoch gab Avnery diese verlockende Tätigkeit bereits nach einem Jahr freiwillig auf, da er nicht zu inhaltlichen Konzessionen beim Schreiben bereit war, welche von ihm erwartet wurden. (Kaufhold 2013)

Vorgestelltes Buch:

Avnery, U. (2005): In den Feldern der Philister. Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg. Kreuzlingen/München (Diederichs/ H. Hugendubel), 429 S.

Bild oben: Uri Avnery als Soldat 1948, (c) Uri Avnery / CC BY-SA 4.0

Literatur

Kaufhold, R. (2003a): Uri Avnery: Ein Porträt, in: Uri Avnery (2003): Ein Leben für den Frieden. Heidelberg (Palmyra), S. 258-287.
Kaufhold, R. (2003b): Vom Irgun zur israelischen Friedensbewegung. Zum 80. Geburtstag des israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery, psychosozial Nr. 93 (2003), S. 107-122 https://www.psychosozial-verlag.de/25919
Kaufhold, R. (2013): Ein westfälischer Trotzkopf. Der linke israelische Friedensaktivist Uri Avnery wird 90 Jahre alt, haGalil, 9.9.2013: https://www.hagalil.com/2013/09/avnery-3/
Kaufhold, R. (2017) Eine Jugend zwischen Graz und Tel Aviv. Die Zeitzeugin Gerda Eisler erzählt aus ihrem Leben, haGalil 11/2017: https://www.hagalil.com/2017/11/gerda-eisler/
Kaufhold, R. (2018a): Der Provokateur. Der umstrittene Journalist und Aktivist Uri Avnery ist im Alter von 94 Jahren gestorben, Jüdische Allgemeine, 20.8.2018: https://www.juedische-allgemeine.de/israel/der-provokateur-2/
Kaufhold, R. (2018b): Sein Freund, der Feind. Beirren ließ er sich von nichts: zum Tod des israelischen Publizisten und Aktivisten Uri Avnery, Neues Deutschland, 20.8.2018: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1097872.uri-avnery-sein-freund-der-feind.html
Kaufhold, R. (2023): Lebenslang im Widerspruch. Vor 100 Jahre wurde Uri Avnery geboren, haGalil, 10.9.2023: https://www.hagalil.com/2023/09/uri-avnery-100/