Showdown am Obersten Gerichtshof

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Im September werden sich die höchsten Richter Israels mit den bereits von der Knesset beschlossenen Maßnahmen zum Umbau des Justizwesens sowie einigen weiteren Gesetzen beschäftigen müssen. Sollte die Politik im Falle von Urteilen, die der amtierenden Regierungskoalition nicht gefallen, dem Obersten Gerichtshof die Gefolgschaft verweigern, droht eine schwere Verfassungskrise.

Von Ralf Balke

Am 12. September steht eine Premiere an. Erstmals in seiner Geschichte werden alle fünfzehn Richter des Obersten Gerichtshofes in Israel zusammenkommen, um sich mit den Petitionen – acht davon wurden zugelassen – zu beschäftigen, die im Kontext der Verabschiedung des ersten Teils des von der Regierungskoalition initiierten Umbaus des Justizwesens eingegangen sind, und zwar der wenige Tage zuvor von der Knesset beschlossenen Aufhebung der Unangemessenheitsklausel. Das jedenfalls gab Esther Chayut, Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, am 31. Juli bekannt. Der Hintergrund: Die Knesset hatte am 24. Juli im Rahmen dessen, was Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seine Minister „Justizreform“ nennen, ein erstes Gesetz durchgewunken, das dem Obersten Gerichtshof untersagt, Regierungs- und Ministerialentscheidungen anhand von Angemessenheitsstandards zu überprüfen. Weitere sollen noch folgen. Die Gegner dieses Gesetzes sind der Ansicht, dass diese Angemessenheitsstandards einen wichtigen Schutz gegen willkürliche oder diskriminierende Beschlüsse der Regierung darstellen – in Ermangelung eines Zweikammernsystems oder einer Verfassung, die Israel nun einmal nicht hat, und sozusagen eine Art Firewall sind. Die Befürworter dagegen argumentieren, der Oberste Gerichtshof hätte in der Vergangenheit sich zu oft in die Politik eingemischt und die Unangemessenheitsklausel missbraucht. Deshalb sei die „Justizreform“ notwendig.

Fakt aber ist, dass der Beschluss der Knesset vom 24. Juli eine Veränderung der bestehenden Grundgesetze darstellt. Und genau daran entzündet sich gerade ein Streit. Denn der Oberste Gerichtshof könnte die Abschaffung der Unangemessenheitsklausel wieder einkassieren. Das wäre ein absolutes Novum. Denn niemals zuvor in der Geschichte Israels wurde ein vergleichbares Gesetz von den höchsten Richtern für null und nichtig erklärt, nicht zuletzt deshalb, weil die Grundgesetze oder ihre Ergänzungen quasi Verfassungsrang haben. Und die nächste Frage lautet: Sollte das nach den Anhörungen der Petitionen am 12. September geschehen, wird die Regierung den Obersten Gerichtshof dann Folge leisten? Geschieht das nicht, droht womöglich eine schwere Verfassungskrise.

Mehrere Mitglieder aus dem Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu haben bereits durchblicken lassen, dass sie sich im Falle eines Urteils zugunsten derjenigen, die die Petitionen eingereicht hatten, nicht daran halten werden. So erklärte unter anderem Kulturerbeminister Amichai Eliyahu: „Wir müssen die Entscheidung des Gerichts nicht respektieren, genauso wie dieses nicht die Entscheidungen der Knesset respektiert.“ Und Orit Struck, Ministerin für nationale Missionen, drohte, dass der Oberste Gerichtshof sich in einem „wahnsinnigen Lauf Richtung Abgrund“ befände. „Das wird noch stärkere Auswirkungen auf unsere Pflicht haben, das Justizsystem zu reformieren.“ Benjamin Netanyahu selbst wollte sich noch nicht konkret dazu äußern. In mehreren Interviews mit amerikanischen Medien weigerte er sich zu sagen, wie seine Regierung handeln werde, wenn denn die höchsten Richter zu einem Urteil kommen sollten, dass ihm nicht gefällt. Zugleich sprach er davon, auf weitere Teile des Umbaus des Justizwesens womöglich verzichten zu wollen.

Zudem wurde von Vertretern der Regierung bereits mehrfach behauptet, dass die höchsten Richter sowieso nicht die Befugnisse hätten, ein solches Grundgesetz oder seinen Zusatz zu überprüfen, geschweige für null und nichtig zu erklären. Und von Seiten des Likud war folgendes zu hören: „Die israelischen Regierungen haben stets das Gesetz und die Urteile des Gerichts respektiert und das Gericht hat stets die Grundgesetze respektiert.“ Jedes Abweichen von dieser Haltung würde bedeuten, dass die man „die israelische Demokratie, die gerade in diesen Tagen Besonnenheit, Dialog und verantwortliches Handeln braucht, schwer beschädige.“ Diese Worte wiederum bewerteten Oppositionspolitiker sowie die Protestbewegung, die seit Beginn des Jahres gegen den Umbau des Justizwesens auf die Straße als „mafiöse Drohung“. Zuspruch erhielten die höchsten Richter auch von einer Gruppe von 140 Juristen, die die amtierende Koalition dafür kritisiert, dass sie dem Obersten Gerichtshof ein Mitspracherecht in der Angelegenheit verweigern würde. Die sich Forum für Demokratie nennende Gruppe von Juraprofessoren argumentiert, dass mit dieser Behauptung die Regierung jeder Form von Kontrolle zu verhindern versucht. Und von dem Obersten Gerichtshof selbst ist zu hören, dass man sehr wohl die Option zu Intervention in einem solchen Fall habe, dafür hätte man in der Vergangenheit eigens zwei Prinzipien entwickelt, die dies ermöglichen, und zwar immer dann, wenn die Demokratie in Gefahr sei.

Der September wird also spannend. Sollte der Oberste Gerichtshof also zugunsten derjenigen entscheiden, die die Petitionen gegen die Abschaffung der Unangemessenheitsklausel eingebracht haben, woraufhin die Regierung den höchsten Richtern nicht Folge leisten würde, weil es zwei völlig konträre Auslegungen der Gesetze gäbe, würde Israel in eine Verfassungskrise stürzen. In seiner solchen Situation müssten sich auch die Streitkräfte, die Polizei sowie die Geheimdienste positionieren und erklären, ob sie dem Obersten Gerichtshof in seiner Argumentation folgen oder aber der Regierungskoalition. Selbst einige Minister im Kabinett von Benjamin Netanyahu könnten dann ausscheren. Denn im Likud sind nicht alle glücklich über die Entwicklungen, die das Projekt „Justizreform“ ausgelöst hat, allen voran Yuli Edelstein, ehemaliger Knessetsprecher, oder Kultur- und Sportminister Miki Zohar. Auch Verteidigungsminister Yoav Gallant gilt als potenzieller Kandidat, der eher dem Obersten Gericht Folge leisten würde und nicht dem Ministerpräsidenten.

Und noch mehr steht an. Bereits am 7. September wird der Oberste Gerichtshof über Petitionen verhandeln, die sich mit dem Versäumnis von Justizminister Yariv Levin auseinandersetzen sollen, den Richterwahlausschuss des Landes länger nicht einberufen zu haben. Dafür wurde er bereits von Esther Chayut, der Obersten Richterin, gerügt. Sie nähme das „sehr ernst“, weil so ein Mangel an Richtern aufgetreten sei, der zu einer Überlastung der Gerichte und damit zu einer Beeinträchtigung der Rechtsprechung geführt hätte. Das wiederum wäre nachteilig für die Gesellschaft. Offensichtlich wolle man so lange warten, bis die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses geändert werde, um so als Politiker eine größere Kontrolle über die Auswahl der Richter ausüben zu können, die dann die frei gewordenen Posten erhielten. Das ginge aber nicht.

Last but not least steht ein weiteres Gesetz zur Disposition, und zwar am 28. September. Dabei geht es um eines, das im März von der Knesset verabschiedet wurde und sich um das Thema Amtsenthebung des Ministerpräsidenten dreht. Eine solche kann demzufolge nur dann noch möglich sein, wenn psychische oder andere gesundheitliche Gründe vorliegen. Außerdem ist für eine derartige Maßnahme nun eine Mehrheit von mindestens 80 der 120 Abgeordneten in der Knesset erforderlich, was quasi jeden Schritt in diese Richtung unmöglich macht. Dieses Gesetz ist ebenfalls eine Änderung eines der Grundgesetze und soll – so seine Kritiker – den Ministerpräsidenten, gegen den seit Jahren wegen Vorteilnahme im Amt und anderer Delikte ermittelt wird, wohl vor einer möglichen Amtsenthebung durch den Obersten Gerichtshof oder die Generalstaatsanwaltschaft schützen.

Während einer Anhörung des Obersten Gerichtshofes am Donnerstag zu Petitionen gegen das Gesetz brachten die drei vorsitzenden Richter, darunter Esther Chayut, ihre Meinung zum Ausdruck, dass das Gesetz sehr genau auf die individuelle Situation von Benjamin Netanyahu zugeschnitten sei, was sie als unvereinbar mit der Gesetzeslage betrachten. Chayut zitierte dabei einige Likud-Abgeordnete, die ganz deutlich erklärt hätten, dieses Gesetz sei allein Netanyahu zuliebe vorangetrieben worden. Sein personenbezogener Charakter werde „durch nichts deutlicher als das“. Und Richter Uzi Vogelman ergänzte: „Es ist eine Tatsache, dass das Gesetz ganz persönlicher Natur ist.“ Genau das sei aber der springende Punkt, heißt es in den Petitionen gegen das Gesetz vom März. Es ginge darin primär um Schutz des Machtmissbrauchs von Bejamin Netanyahu. Dennoch wollte sich Chayut nicht für eine Aufhebung dieses Gesetzes aussprechen. Für alle Seiten steht also viel auf dem Spiel. Aber erst nach dem Showdown am Obersten Gerichtshof weiß man, wie es konkret weiter gehen wird, ob es zu einer Verfassungskrise kommt, deren Ausgang niemand vorhersehen kann, oder aber der Umbau des Justizwesens nach den Vorstellungen der Regierungskoalition Bestand haben wird.