Mehrere Monate ruhte das Vorhaben der Regierungskoalition, den Obersten Gerichtshof zu entmachten. Nun gibt es einen erneuten Anlauf. Am Montag soll in erster Lesung in der Knesset über die Abschaffung der Angemessenheitsklausel abgestimmt werden. Das treibt die Israelis verstärkt auf die Straße.
Von Ralf Balke
Jetzt gehen sogar die Shopping-Center in Opposition zur Regierung. Am Sonntag gab „Big“, Betreiber von rund zwei Dutzend Malls in Israel, bekannt, dass man am Dienstag seine Läden dicht machen werde, wenn die Knesset wie geplant in erster Lesung die Abschaffung der Angemessenheitsklausel über die Bühne bringt. Das sei ein „weiterer Schritt auf dem Weg hin zu einer Diktatur“, ließ das Management verkünden. „Eine solche Maßnahme wäre ein tödlicher Schlag für die Geschäftswelt sowie die wirtschaftliche Sicherheit in Israel und würde unsere Existenz als führendes Unternehmen in Israel direkt und unmittelbar gefährden“, hieß es weiter. „Wenn das ganze Land bebt und von innen heraus zerrissen wird, können wir nicht einfach abseits stehen.“ Das Unternehmen reiht sich damit ein in Riege der zahlreichen Hightech-Firmen und Startups, die in den vergangenen Monaten bereits damit gedroht hatten, im Falle einer Umsetzung dessen, was die Regierung „Justizreform“ nennt, aber auf eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofes und den Umbau der Judikative hinausläuft, das Land zu verlassen.
Denn aktuell plant die amtierende Koalition einen erneuten Anlauf, um ihr Projekt voranzutreiben. Ende März noch hatte Benjamin Netanyahu nach knapp drei Monaten heftiger Proteste das Vorhaben kurzzeitig eingefroren – zu stark war der gesellschaftliche Druck geworden, insbesondere nachdem der Ministerpräsident spontan Verteidigungsminister Yoav Gallant gefeuert hatte, nur weil dieser für eine Verschiebung der „Justizreform“ plädierte. Gallant blieb im Amt und Staatspräsident Yitzhak Herzog sollte zwischen Regierung und Opposition einen Kompromiss aushandeln. Genau dieser kam aber nicht zustande und die Proteste hielten unvermindert an. Aber als im Mai nach zähen Verhandlungen und unzähligen Streitigkeiten der Staatshaushalt verabschiedet werden konnte, fühlte sich die amtierende Koalition wieder stark genug, um jetzt in erster Lesung eine Abstimmung stattfinden zu lassen, die auf eine Abschaffung der Angemessenheitsklausel hinausläuft. Damit wäre ein erster konkreter Schritt zur Umsetzung der sogenannten Justizreform vollzogen. Insgesamt sind aber drei Lesungen notwendig, bevor diese Gesetzesinitiative Gültigkeit erhält.
Die Angemessenheitsklausel ist schon lange ein Thema in Israel. Neben der Aufhebungsklausel, die eingeführt werden soll, um mit einer einfachen Mehrheit im Parlament Urteile des Obersten Gerichtshofs für ungültig zu erklären, ist ihre Abschaffung einer der zentralen Punkte der „Justizreform“. Dieses Instrument ermöglicht es dem Obersten Gericht, Entscheidungen der Regierung und der Verwaltung außer Kraft zu setzen, wenn der Eindruck entstanden ist, dass nicht alle relevanten Erwägungen zu einem bestimmten Thema berücksichtigt worden sind oder man diesen Erwägungen unzureichend Bedeutung beigemessen hat. Ein solcher Schritt kann selbst dann eine Option sein, wenn Beschlüsse nicht gegen geltendes Recht verstoßen oder im Widerspruch zu anderen Entscheidungen stehen. Ein Beispiel aus der Vergangenheit: 2007 betrachtete es der Oberste Gerichtshof als „unangemessen“, dass die Regierung damals nur Mittel für den Ausbau einiger weniger Klassenzimmer zu Schutzräumen in Schulen in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen bereitstellen wollte. Die Richter verwiesen auf den Umstand, dass alle Kinder an den Schulen durch Raketenangriffe in Gefahr geraten können und verdonnerten die Regierung dazu, nicht nur einige, sondern jedes Klassenzimmer entsprechend umzubauen.
Doch Klassenzimmer und ähnliche Kleinigkeiten dürften Simcha Rothman, Abgeordneter der Religiösen Zionisten, Vorsitzender des Rechtsausschusses in der Knesset sowie einer der größten Befürworter des Umbaus des Justizwesens, nicht dazu motiviert haben, die Gesetzesvorlage zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel in der Knesset einzubringen. Ihm und den Befürwortern der Reform geht es um etwas ganz anderes, und zwar um eine Anwendung wie im Falle von Ari Deri. Der Vorsitzender der Shass-Partei sollte Gesundheitsminister sowie stellvertretender Ministerpräsident werden – so jedenfalls der Plan von Benjamin Netanyahu. Doch der Oberste Gerichtshof machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Denn Ari Deri hat ein recht ansehnliches Vorstrafenregister. Zuletzt stand er 2021 wegen Geldwäsche sowie Steuerhinterziehung vor Gericht und entging einer Gefängnisstrafe nur deshalb, weil er dem Gericht hoch und heilig versprochen hatte, sich aus der Politik zurückzuziehen. Einen solchen Mann derart verantwortungsvolle Ämter anzuvertrauen, das bewertete der Oberste Gerichtshof als „unangemessen“. Kippt also die besagte Klausel, steht einer Rückkehr Ari Deris in die Regierung nichts mehr im Wege. Oder anders formuliert: Man will sich vor weiteren Interventionen des Obersten Gerichtshofs in der Zukunft immun machen. Und zu erwarten ist, dass es danach weitergeht mit der Umsetzung der Pläne. Nach und nach würde dann – ganz im Stil einer Salamitaktik – der Umbau des Justizwesens vollzogen werden.
Doch bevor es zur Abstimmung in der Knesset kam, legten sich Minister der amtierenden Koalition am Sonntag erst einmal mit der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara an – nicht zuletzt deshalb, weil sie eine erklärte Gegnerin des Umbaus des Justizwesens ist und Benjamin Netanyahu im Januar dazu aufgefordert hatte, dem Urteil des Obersten Gerichtshofs Folge zu leisten und Ari Deri aus der Regierung zu entlassen. Mehrfach hat sie zudem in den vergangenen Monaten den Ministerpräsidenten dafür kritisiert, dass er die „Justizreform“ vorantreiben würde, was ihrer Einschätzung zufolge illegal sei. Nun hatte man Gali Baharav-Miara sowie andere hochrangige Beamte des Justizministeriums zu der gestrigen Kabinettssitzung vorgeladen, um mit ihnen darüber zu sprechen, wie die Polizei mit den Protesten umgehen soll, die angesichts der bevorstehenden Abstimmung eine neue Dimension angenommen hatten – ebenso wie die Gewalt der Ordnungskräfte gegen die Demonstranten. Immer wieder war es dabei zu Blockaden zentraler Verkehrsachsen gekommen, beispielsweise der Ayalon-Autobahn in Tel Aviv.
Doch einigen Vertretern der Koalition gehen die Maßnahmen gegen die Gegner der „Justizreform“ nicht weit genug, weshalb sie die Generalstaatsanwältin offen angriffen, weil ihnen diese als hinderlich bei der Umsetzung einer deutlich härteren Gangart gilt. Verkehrsministerin Miri Regev forderte ihre Entlassung, weil sie es nicht verhindern würde, dass Demonstranten auch vor den Häusern vor Politikern auftauchen würden. Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit und Chef der extremistischen Otzma Yehudit-Partei verlangte mehr Verhaftungen und Justizminister Yariv Levin schlug sarkastisch vor, sie solle doch einfach verkünden, dass Blockaden der Ayalon-Autobahn legal seien. Baharav-Miara konterte, indem sie den Ministern attestierte, sich aus politischen Gründen in die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden einzumischen. „Ich hoffe, die Regierung verlangt nicht von mir, dass ich erklären soll, man wolle eine deutlich aggressivere Vorgehensweise, um die Proteste gegen sie zu unterdrücken, und das auch noch entgegen dem professionellen Einschätzung seitens der Polizeikommandanten vor Ort und der Staatsanwaltschaft.“
Am Ende der Sitzung vom Sonntag wurde Gali Baharav-Miara dennoch aufgefordert, dem Kabinett innerhalb von sieben Tagen ein Dokument vorzulegen, in dem sie bitteschön erklären solle, wie die Ordnungskräfte mit Straßenblockaden, Protesten vor den Häusern von Politikern und Aufrufen zur Verweigerung des Reservedienstes sowie anderen Formen des Ungehorsams umzugehen haben. Zudem muss sie bis Dienstag, wenn mit erneuten Massenprotesten vor dem Ben-Gurion-Airport zu rechnen ist, Richtlinien formulieren, wie die Gesetze zur Anwendung gebracht werden können. Die Art und Weise des Umgangs mit der Generalstaatsanwältin in der Kabinettssitzung empfanden viele Israelis als Skandal – zumal laut dem TV-Sender „Kan“ Benjamin Netanyahu nach der Zusammenkunft seinen Ministern versprochen haben soll, sie zu feuern. Staatspräsident Yitzhak Herzog verurteilte diese „völlig enthemmten“ Angriffe gegen Beamte des Staates und bezeichnete diese als „unerträglich und inakzeptabel“.
All das treibt nun weiterhin hunderttausende Israelis auf die Straße und das bereits in der 27. Woche in Folge – und nicht nur zu den wöchentlichen Demonstration auf der Kaplan Straße in Tel Aviv. Als Mittwoch vergangene Woche bekannt wurde, dass Tel Avivs Polizeichef Amichai Eshed das Handtuch wirft, weil man von ihm verlangt haben soll, mit mehr Gewalt gegen Demonstranten vorzugehen, um die Ayalon-Autobahn zu räumen – selbst wenn dies bedeute, „die Notaufnahme des Ichilov-Krankenhauses mit verletzten Demonstranten zu füllen“ –, was er wiederum nicht wollte, weshalb seine Versetzung auf einen anderen Posten verkündet wurde, kam es noch am selben Tag auf dem Ayalon zu Blockaden, wobei 15 Personen verhaftet sowie mindestens 14 weitere verletzt wurden. Darüber hinaus kam es zu Verhaftungen von zwölf Personen bei ähnlichen Protesten in Jerusalem und Herzliya. Sogar in Rehovot blockierten Demonstranten die Kreuzung vor dem Weizmann-Institut. Mit von der Partie war dort der ehemalige Minister für öffentliche Sicherheit, Omer Bar Lev, der von einem drohenden Zerfall des Staates sprach, der durch die extremistischen Minister der Regierung vorangetrieben werde.
Und wenn die Abschaffung der Angemessenheitsklausel wie zu erwarten – schließlich verfügt die amtierende Koalition über eine Mehrheit von 64 Sitzen in der Knesset – in erster Lesung am Montag beschlossen wird, dürften noch mehr Demonstrationen anstehen. Geplant ist für Dienstag ein „Tag des Widerstandes“, der bereits morgens um 8 Uhr mit Protestzügen beginnt. Auf diese Weise will man das öffentliche Leben zum Stillstand bringen. Später dann soll es zum Ben Gurion-Airport gehen, dessen Verkehr ebenfalls lahm gelegt werden soll. Damit ist das Ende der Fahnenstange aber noch lange nicht erreicht. Doch wie die Ordnungskräfte auf die vermehrten Proteste reagieren, welche Direktiven sie erhalten und inwieweit ein Eskalationspotenzial besteht, bei dem es zu noch mehr Verhaftungen und Verletzungen, das wird sich erst in den kommenden Tagen zeigen.
Bild oben: Demonstrationsaufruf für Dienstag