Festrede von Dr. Sergey Lagodinsky anlässlich des Festakts zu 75 Jahre Gesellschaft für Christlich-Jüdischen Dialog München am 9. Juli 2023
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
ich stehe vor Ihnen und habe das Privileg, diese Festrede zu halten. Ich bin Jurist, ich bin Berliner, ich bin Abgeordneter, aber für viele von Ihnen, für viele von den Menschen da draußen, bin ich in erster Linie ein Jude und somit eine Kuriosität.
Dies ist kein Vorwurf, dies ist eine Feststellung. Wenn zwei Seiten miteinander sprechen, ist ein Gespräch nur deswegen möglich, weil die Seiten klar markiert sind. Ohne die Unterschiede der Seiten kann es keinen Dialog geben, denn Unterschiede sind für einen Dialog konstitutiv.
So funktionieren nun einmal Dialoge, aber die besten davon, sind die, die zu einer Hinterfragung von sich selbst und der eigenen Sicht auf den/die Gegenüber führen.
Der christlich-jüdische Dialog ist ein solcher Dialog – ein Dialog der Selbsthinterfragung, der Selbstentwicklung durch Selbstüberwindung ohne Selbstaufgabe. Für beide Seiten! Denn auch für die jüdische Seite war dieser Dialog nach 1945 eine Selbsthinterfragung und Selbstüberwindung. Keine Selbstverständlichkeit nach all den Jahren der Erniedrigung, Verfolgung, Vernichtung. Aus dieser Perspektive ist das, was Gesellschaften wie Ihre nach einer historisch gesehen sehr kurzen Zeit geschafft haben, eine historische Leistung. Denn die Ermöglichung des Dialogs, dieses bestimmten Dialogs, ist nicht nur Verdienst der Zeit, die unweigerlich voranschreitet und die die messerscharfen Kanten der Verletzungen abschleift. Dieser Dialog ist in erster Linie ein Verdienst von jüdischen Menschen, die es gewagt haben, aus ihren Communities der Trauer und Traumata auszubrechen und denjenigen zu begegnen, die sie jahrhundertelang als Gottesmörder terroririsierten und so den Boden für das Verbrechen des Völkermords bereiteten. Und auf der anderen Seite, ist es ein Verdienst derjenigen, die damals das Schwierigste gewagt haben: sich zur persönlichen Scham zu bekennen, häufig ohne persönlich schuldig zu sein. Denn nach einem Massenverbrechen ist ein jedes Aufeinanderzugehen, ein jeder Dialog, nur nach diesen beiden Schritten möglich: der Überwindung des eigenen Schmerzes und dem Akzeptieren der eigenen Scham.
Beides sind Schritte, die das ungeschmückt Öffentliche und das zutiefst Persönliche zusammentragen. Das zutiefst Persönliche wird öffentlich. Das Öffentliche wird durch persönliche Bezüge erst dialogfähig. Diese Bereitschaft schonungsloser persönlicher Öffnung ist das Wesen des christlich-jüdischen Dialogs. Neben all dem Intellektuellen und Klerikalen.
Aber dieser Dialog ist keine Selbsthilfegruppe. Christlich-jüdischer Dialog ist auch deswegen so wirkmächtig geworden, weil ihm der Sinn für eine historische Aufgabe und die gesamtgesellschaftliche Mission innewohnt. Denn gerade in Deutschland dient dieser Dialog dem Aufbau des Gemeinsamen.
Und das ist die Stärke dieses Dialogs – seine besondere christlich-jüdisch dialogische Dialektik: Den Ausgangspunkt bilden die unüberwindbaren Unterschiede der Verbrechen, Wunden und Identitäten, das Ziel ist aber ein gemeinsames Zusammensein, eine Einheit in Unterschieden. Die Betrachtung voneinander als unterschiedlich und als ebenbürtig zugleich. Dialogische Dialektik verläuft auch entlang der Zeitachse: Der Ursprungsort ist die schmerzliche Geschichte – der Entfaltungsraum ist aber immer die Gegenwart, die anders gedacht werden, die Geschichte ansprechen, aber nicht das Verhältnis historisieren und somit aus der Gegenwart auslagern soll.
Und zuletzt: Der Ausgangspunkt dieses Dialogs sind Verbrechen – das Ziel ist aber eine Gesellschaft der Demokratie und des Respekts.
Mit dieser dialogischen Dialektik verlässt der christlich-jüdische Dialog das Partikulare und wird zum paradigmatischen Modell für unsere demokratische Gesellschaft.
Wenn unsere deutsche Demokratie auf Lehren aus dem Nationalsozialismus aufbaut, so basiert unser gesellschaftliches Bekenntnis auf der Übereinkunft, dass wir die Gegenwart und Zukunft unseres Landes dialogisch aufbauen. Und während die Überwindung der deutschen und der christlichen Sünden aus der Vergangenheit die Staatsraison unserer verfassungsrechtlichen Beschaffenheit ist, ist der christlich-jüdische Dialog eine paradigmatische Kulisse für die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft Unterschiede regeln, Vergangenheit aufarbeiten, unsere inneren anti-demokratischen Dämonen bekämpfen.
Es ist mehr als symbolisch, dass wir dieses Jubiläum des wichtigsten paradigmatischen Dialogs ausgerechnet jetzt begehen. In Zeiten dieser Umfragewerte, in Zeiten dieser Wahlkampfslogans, in Zeiten dieser Verunsicherung.
In einer Zeit, in der die Welt von Kriegen, Konflikten und neuen Völkermorden erschüttert wird, in dieser Zeit ist der Dialog kein Add-on, kein Luxus und keine Ablenkung. Für eine Demokratie mitten in multiplen Krisen ist Dialog überlebenswichtig. Unsere Wirtschaft und unsere Sicherheit werden durch starke und kluge Führung gerettet. Unsere Demokratie – nur durch die Stärke des Dialogs.
Zur Dialogfähigkeit gehört aber eben auch die Fähigkeit und der Wille, das Gegenüber zu hören. Vorletzte Woche war ich in Cottbus unterwegs und habe flammende Plädoyers darüber gehalten, wie wichtig es ist, einander zuzuhören, wie wichtig es ist gerade abseits der Metrolopolzentren Mensch mitzunehmen und dass wir als Parteien, und zwar alle Parteien, weniger mit Bürgerbelehrungen und gegenseitigen Beschimpfungen beschäftigt sein sollten, als vielmehr mit einem ernsthaften Dialog. Die Lausitzer Rundschau berichtete über die Veranstaltung. Sie schimpfte über die Grünen und zitierte auch mich, aber nur mit einem einzigen Satz. Zur Situation in Russland. Was ich eigentlich zu sagen habe, blieb ungehört. Ich erlebte, was ich häufig erlebe: Das Teilunsichtbarsein. In Dialogen und Auseinandersetzungen, bei Diskussionen und Veranstaltungen äußern wir uns zu vielem, werden aber nur als diejenigen wahrgenommen, womit wir den anderen ins Auge springen: Frausein, Migrantsein, Judesein.
Doch so funktioniert kein Dialog. Ein Dialog, der funktionieren soll, muss die Quadratur des Kreises schaffen: Dialogteilnehmende in ihren Besonderheiten annehmen, aber nicht ausschließlich als Träger dieser Besonderheiten vereinnahmen. Wir leben in spannenden Zeiten: Wir sind viele und jeder von uns ist heutzutage sehr viel. Ein Dialog ist aber nur möglich, wenn wir im Laufe des Dialogs uns nicht auf das Naheliegende reduzieren, sondern zuhören, zuhören, zuhören. Raus aus unseren Rollen, raus aus unseren Namen, raus aus unserer Haut. Unsere Geschichten sollen unsere Dialoge bereichern, aber nicht verflachen.
Gegen diese lückenhafte Wahrnehmung, diese Teilsichtbarkeit, müssen wir heute kämpfen, um einen Dialog auf Augenhöhe führen zu können, der aus einzelnen Puzzlesteinen, der aus zwei Hälften, ein Ganzes macht. Es ist ein Drahtseilakt, unser aller Besonderheiten als Besonderheit anzuerkennen und sie nicht zu einem aussondernde, kategorisierenden Element zu machen. Das betrifft auch den christlich-jüdischen Dialog. Aber nicht nur den.
Und da ist es wieder – das Dialektische an unserem Dialog: Die Kirche setzt sich kritisch mit ihrer hasserfüllten Vergangenheit auseinander und fördert den Dialog. Aber das ist nur die eine Seite. Welche Hoffnungen und Erwartungen an diesen Dialog hat die andere? Ich möchte als einer von Euch wahrgenommen werden, als Teil des Gemeinsamen, nicht nur als eine Hälfte des Dialogs. Ich will als Jude wahrgenommen werden, sichtbar sein, fordere aber weder Mitleid noch Bedauern. Wir Juden wollen ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein. Und als Gesellschaft müssen wir die Ambivalenz zwischen dem Anspruch der Menschen aushalten, die durch positive Integration fast unsichtbar unter uns werden, sich aber trotz allem ihre Identität nicht nehmen lassen wollen. Das muss Dialog können.
Dieses Dialektische zwischen dem Partikularen einerseits und dem Anspruch auf selbstverständliche Zugehörigkeit andererseits, ist an Diskussionen um Adressierung der jüdischen Seite besonders spannend. Die Juden haben nichts dagegen, sich als Juden bezeichnen zu lassen. Doch das Sprachgefühl in unserer Gesellschaft war durch Jahrhunderte antisemitischer Verfolgungen verbrannt. Und so waren Juden in der Sprache nicht mehr willkommen, nur „jüdische Mitbürgerinnen“. Natürlich sind wir Mitbürgerinnen und Mitbürger. Aber wird hiermit nicht, ungewollt, eine Grenze gezogen zwischen „Denen“ und „Uns“? Während ein Großteil der bundesdeutschen Neujahrsansprachen mit „Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger“ beginnt, um so mehr Nähe zu den Menschen zu schaffen, so merkwürdig würde es uns doch aber auch erscheinen, wenn wir in einer Zeitung von „christlichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ lesen würden.
Der Unterschied zwischen einem „das wird man wohl noch sagen dürfen“ und der Freiheit zu sein, der man ist, liegt in der emotionalen Ignoranz gegenüber dem Adressaten. Begrüße ich Sie mit „Liebe Jüd*innen“ erzeugt das Ungewohnte womöglich Dissonanz. Begrüße ich Sie mit „Liebe jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger“ erzeuge ich Ausgrenzung. Bei den Christinnen und Christen im Saal würde ich keine Regung erzeugen, sehr wohl aber bei den Jüdinnen und Juden. Sie sind betroffen. Denn diese Betitelung will zum Ausdruck bringen „Du bist einer von uns“, aber er sagt zugleich, dass du das von unseren Gnaden bist – weil du anders bist. Wir umarmen dich, aber eben nur als einen jüdischen Mit-Bewohner. In meinem persönlichen und politischen Alltag schenke ich solchen Diskussionen keine Zeit und keine Mühen. Dafür sind diese scheinbaren Detailfragen den großen Krisen unserer Zeit untergeordnet. Aber dass wir an diesem Beispiel die Ambivalenz unseres Verhältnisses und ja auch unseres Dialogs mit unserem Sprachgefühl immer noch nachempfinden können, auch das ist eine Errungenschaft und zugleich Komplexität unserer Dialoge.
Und die Tatsache, dass wir hier und jetzt Raum und Zeit finden, über diese scheinbaren Details so selbstverständlich zu reden, ist die Stärke dieser Dialogkultur: Die Selbstverständlichkeit ihrer Selbstreflektion! Kein Beiseite-Wischen nach dem Motto „tu doch nicht so“, sondern ein Innehalten und Nachdenken. Egal zu welchen Ergebnissen wir am Schluss dieser Debatten kommen mögen.
Doch sind diese Selbstreflektionsübungen zur Sisyphus-Arbeit des Dialogs verkommen? Zu den Schattenseiten gehört die Tatsache, dass Selbstreflektion ein Privileg der wenigen geworden ist und noch keinen Einzug in so viele Wohn- und Klassenzimmer gehalten hat. Am 27. Juni wurden in Cottbus die Ergebnisse der diesjährigen Brandenburger Jugendstudie vorgestellt. Fast die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler stimmten der Aussage zu, es müsse „Schluss mit dem Gerede über unsere Schuld gegenüber den Juden“ sein. Etwa ein Viertel der Jugendlichen gibt an, am Nationalsozialismus auch Positives zu finden und sieht die Deutschen gegenüber anderen Völkern als grundlegend überlegen an. 41% finden, es gäbe zu viele Ausländer in Deutschland und 72% sind der Meinung diese nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. Antisemitische und rassistische Einstellungen schlummern in unserer Gesellschaft. Warten sie auf ihren großen Auftritt? Es blühen die dialogfreien und reflexionsfreien Landschaften in Deutschland.
Im letzten Jahr sind antisemitische Straftaten um 29% gestiegen. Der Großteil davon kommt aus dem rechten Spektrum, aber nicht nur. Wenn wir heute also sehen, dass rechtsextreme Parteien ganze Landstriche regieren und ein Drittel der Menschen in unserem Land rechts wählen würden, dann müssen wir deutlich darüber sprechen, was das für den weiteren Dialog bedeutet?
Wie führen wir, wie führe ich einen Dialog mit Menschen, die am heimischen Küchentisch mir nicht nur Dialogrechte, sondern auch Bürgerrechte absprechen?
Meine Antwort ist und bleibt: Als Demokrat werde ich nicht müde, Dialog zu suchen. Nicht mit Nazis. Und nicht mit Parteien, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft werden. Und es ist mir besonders wichtig, hier in München, mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wir spielen nicht mit solchen Parteien. Wir übernehmen nicht ihre Rhetorik. Und wir reden nicht unsere Demokratie klein. Denn trotz aller Probleme leben wir in der besten historischen Zeit Deutschlands – in der Zeit einer funktionierenden liberalen Demokratie. Und ja, diese Demokratie lebt und gedeiht. An dieser Feststellung kann kein Heizungsgesetz der Welt etwas ändern!
Aber wir müssen bereit sein, mit Menschen zu reden, die das Recht haben, von Politiker*innen aller Parteien in dieser Demokratie gehört zu werden, auch von meiner eigenen Partei. Auch mit ihren anderen Ansichten und auch mit ihrem Unsinn und Irrsinn. Ich rede mit diesen Menschen. Und dann erklären ich Ihnen warum das, was sie sagen, nicht richtig ist und wenn es nötig ist, dann streite ich auch mit diesen Menschen, wie neulich während meiner Gespräche in Neuruppin, wo ich mich bei der Frage unserer Ukraine-Politik allen Besuchern zur Diskussion gestellt habe. Auch denen die mit der AfD sympathisierten. Ich frage keinen danach, wen sie oder er bei der letzten Wahl gewählt hat. Es ist unsere demokratische Aufgabe, eine neue Form zu finden, miteinander zu reden. Bei dieser Suche schaue ich auf die historischen Errungenschaften und Erfahrungen aus dem christlich-jüdischen Dialog. Sie haben einen langen Weg zurückgelegt von einer ausschließlich historisch geprägten Sicht, die uns Jüdinnen und Juden mit ihrer Theatralik erdrückte, hin zu einem inkludierenden, lebendigen Zusammensein – ohne Pathos und Scheuklappen. Die Zuwanderungen von Jüdinnen und Juden in den 90er Jahren hatte daran ihren Anteil gehabt. Und auch sie waren für diesen Dialog ein wichtiger Beitrag. Diese Gruppen von Menschen schenken uns allen die Möglichkeit der Begegnung. Denn allzu lang hat diese Gesellschaft mit toten Jüdinnen und Juden geredet. Nun kamen die Lebenden, wie ich. Und mehr noch: Wir kamen in dieses Land, weil wir diese Demokratie und dieses Land schätzen. Weil wir dieser Demokratie in diesem Land vertrauen! Lasst uns alle daran zusammenwirken, dass dieses Vertrauen nicht umsonst war. Wir müssen um unsere gemeinsame Demokratie weiter ringen!
Ich beglückwünsche Euch zu 75 Jahren ringen um Dialog. Auf viele weiteren gemeinsamen Jahre!
Bild oben: Screenshot Twitter von Sergey Lagondinsky