„Wir lassen uns nicht unterkriegen!“

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In ihrer vor kurzem veröffentlichten Publikation lassen Monty Ott und Ruben Gerczikow in verschiedensten Bereichen aktive junge Jüdinnen*Juden zu Wort kommen und zeichnen dabei ein schillerndes, facettenreiches Mosaik ihres Engagements. Dabei kommen die interviewten Menschen als mutige und selbstbewusste, zum Teil auch als kämpferische, immer aber als handlungsaktive Akteur*innen, als Gestalter*innen von Gesellschaft selbst zu Wort. „Wir wollten, dass die jungen Jüdinnen*Juden ihre Geschichten selbst erzählen“ (12).

Rezension von Stefan E. Hößl

Trotz des fragmentarischen Zugangs, der sich aus der Fokussierung auf Einzelpersonen ergibt, wird immer wieder – en passant – deutlich gemacht, wie vielfältig jüdisches Leben in der Gegenwart ist.

Das Buch gleicht kaum einem anderen bisher existierenden – es ähnelt einer Reportage, in der sich bei den Interviewten wie auch bei den Autoren immer wieder identitätsbezogene Reflexionen und Suchbewegungen sowie Fragen nach individuellen, aber auch politischen Standortbestimmungen in der deutschen Gesellschaft dokumentieren. Dies liegt ein stückweit natürlich in der Natur des Gegenstandes, dem sich die beiden jungen Autoren widmen. Sie fragen nach etwas sehr Komplexem und letztlich wohl nie abschließend zu Beantwortendem: Danach, wer die jungen Jüdinnen*Juden in Deutschland sind, die sich in diversen Bereichen zu Wort melden und sich politisch engagieren. Danach, was sie antreibt und danach, welche Zusammenhänge zwischen ihrem Jüdisch-Sein und ihrem Engagement bestehen.

„Das Buch zeigt Facetten der Erfahrungen, Wünsche, Hoffnungen, Ziele und Weltbilder einer jungen und selbstbewussten jüdischen Generation in Deutschland“ (208).

Monty Ott und Ruben Gerczikow setzen eine Vielzahl von Schwerpunkten. Sie gehen auf jüdischen Studierendenaktivismus ein, auf queere jüdische Organisationen wie Keshet Deutschland, auf umweltbezogenen Aktivismus, auf das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk, auf parteipolitisches Engagement junger Jüdinnen*Juden in SPD, FDP, CDU und bei den Grünen und in der Partei Die Linke, sowie auf ein Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus, aber auch Streetart und generell Kunst tauchen als Themen auf. Das siebte Kapitel widmet sich Jüdinnen*Juden in Fußball-Fanszenen. Immer wieder lernen die Leser*innen des Buches (meist) junge Menschen kennen, die neben vielem anderen auch jüdisch sind, und die für eigene Interesse eintreten, aber auch für darüber hinausgehende, wie es sich bspw. in einem Engagement gegen antidemokratische Phänomene zeigt, das wiederum sehr unterschiedlich aussehen kann.

Wenn die Autoren auf queere jüdische Zusammenhänge eingehen, so kann hier auf viel Expertise und viele Erfahrungen zurückgegriffen werden, war Monty Ott doch einer der Gründer*innen von Keshet Deutschland und von 2018 bis 2021 Gründungsvorsitzender. Im vierten Kapitel, in dem der Schwerpunkt hierauf liegt, wird das Spannungsfeld verdeutlicht, das über eine Identifikation als jüdisch und queer eine Wirkmächtigkeit entfalten kann. Ott und Gerczikow machen deutlich, wie wichtig geschütztere, diskriminierungsfreie bzw. mindestens -sensible Räume sind, wenn sie auf die Zeit eingehen, in denen solche nicht nutzbar waren: „Es war ein Zustand in dem man beim Betreten queerer Räume seine Jüdischkeit an der Garderobe abgeben musste, in jüdischen Gemeinden hingegen seine Queerness“ (52). Keshet verfolgt das Ziel, innerhalb jüdischer Communities gegenüber genderbezogener und sexueller Vielfalt zu sensibilisieren, insbesondere aber ist die Orientierung daran wichtig, Unterstützung für Menschen zu ermöglichen, die im Überschneidungsbereich von Antisemitismus und Homo-/Transfeindlichkeit von Ausgrenzungen, Anfeindungen oder Übergriffen bedroht und betroffen sind.

Wiederkehrend schimmert im Buch die Frage durch, was es vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und der Shoah „bedeutet, als Jüdin*Jude in Deutschland zu leben“ (30). Damit verbundene identitäts- und identifikationsbezogene Fragen werden ebenso thematisiert wie jene Zumutungen, denen sich junge Jüdinnen*Juden zum Teil alltäglich ausgesetzt sehen. In einem Interview mit dem 33-jährigen Mike Samuel Delberg erzählt dieser so bspw. von seiner teils erzwungenen Politisierung im Zusammenhang mit einem beständigen Othering. ‚Othering‘ hat seinen begrifflichen Ursprung in rassismuskritischen Debatten und ist nur schwer ins Deutsche übersetzbar; am ehesten als machtvoller Prozess der Ver-Anderung: Menschen werden so nicht mehr als die Menschen wahrgenommen, die sie mit ihren vielfältigen Bezügen in die Welt sind, sondern nur noch als Stellvertreter*innen eines tatsächlichen oder imaginierten Kollektivs, dem oftmals auch bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden – so auch bei Delberg, der erzählt:

„Immer wenn es um den Nahostkonflikt oder Antisemitismus oder den Zweiten Weltkrieg ging, dann hieß es immer: ‚Mike, du bist doch Jude, du hast doch Ahnung davon.‘ Und deswegen musste ich immer etwas dazu sagen“ (134).

Otheringprozesse entfalten auch dahingehend eine Wirkmächtigkeit, dass sich viele davon Betroffene gezwungen sehen, sich wissensbezogen mit damit in Verbindung stehenden Themen zu beschäftigen – um etwas entgegenhalten zu können, um sprechfähig zu werden, um sich zu behaupten.

Gesellschaftliche Zumutungen und Problemlagen sowie damit verflochtene, diverse Spannungen, aber auch Selbstermächtigung und selbstbewusster Aktivismus, das sich-nicht-unter-kriegen-lassen – darum kreisen die Inhalte dieses einzigartigen und gut zu lesenden Buches.

Bei einer Lesung in Köln, bei der die Publikation am 9. März 2023 präsentiert wurde, wehrten sich die beiden Autoren recht vehement gegenüber der Wahrnehmung und Bezeichnung der Portraitierten als Vorbilder. Auch wenn natürlich verständlich ist, dass es den beiden um anderes geht, dass Ikonisierungen problematisch sind und jede*r einzelne Gesprächspartner*in seine*ihren eigenen Weg geht und nicht als Orientierungsfolie für spezifische Verhaltensweisen herangezogen werden kann, wird doch deutlich, wie bedeutend das jeweilige Engagement derjenigen ist, die im Buch zu Wort kommen; ebenso aber auch das der Autoren selbst, für die das „Schreiben […] auch eine Form des Aktivismus“ (13) darstellt. Letztere tragen ihren Teil dazu bei, statischen, eindimensionalen und anderweitig reduktionistischen Vorstellungen von ‚Juden‘ etwas entgegenzusetzen, indem sie den Geschichten vielfältig engagierter und aktiver junger Jüdinnen*Juden und dem, was ihnen wichtig ist, eine Plattform geben.

Ott, Monty/Gerczikow, Ruben (2023): ‚Wir lassen uns nicht unterkriegen‘ – Junge jüdische Politik in Deutschland. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2023, 226 S., Euro 24,90, Bestellen?

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