Während Hunderttausende jüdischer Israelis auf die Straße gehen, um gegen die geplante Justizreform der Regierung zu protestieren, verhalten sich die arabischen Israelis eher zögerlich. Dabei hätten sie eigentlich am meisten von der geplanten Entmachtung des Obersten Gerichtshofes zu verlieren.
Von Ralf Balke
18 Wochen und kein Ende. Fast täglich protestieren Reservisten der Armee, Studierende oder Beschäftigte der Hightech-Industrie und des Gesundheitswesens gegen die von der Regierung geplante Justizreform und bringen das öffentliche Leben vielerorts zum Stillstand. Doch eine wichtige Gruppe der israelischen Gesellschaft fällt eher durch ihre Abwesenheit aus, und zwar die arabischen Israelis, die immerhin rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Selbstverständlich gibt es arabische Teilnehmer auf den Demonstrationen, vor allem in Haifa oder in den Ortschaften im Norden des Landes. Doch gemessen an ihrem demographischen Gewicht sind sie deutlich unterrepräsentiert. Zwar sieht man auf den Demonstrationen neben einem Meer von israelischen Flaggen vereinzelt auch einige palästinensische, doch werden diese fast immer von jüdischen Israelis aus dem äußerst linken politischen Spektrum geschwenkt.
Dabei müssten gerade die arabischen Israelis ein besonders großes Interesse daran haben, dass die von der Regierung intendierte Entmachtung des Obersten Gerichtshofes verhindert wird – schließlich könnten sie zu den größten Verlierern einer solchen Entwicklung gehören. Das jedenfalls ist in einer aktuellen Studie des Israel Democracy Institute zu lesen. Vor allem die sogenannte „Außerkraftsetzungsklausel“ dürfte für arabische Israelis zu ernsten Problemen führen, weil dann bereits eine einfache Mehrheit in der Knesset ausreichen würde, um Urteile des Obersten Gerichtshofes für ungültig zu erklären. „Sollte diese Klausel Wirklichkeit werden, wird es noch seltener geschehen, dass der Oberste Gerichtshof Gesetze verhindern kann“, betonen Muhammed Khalaily und Oded Ron, die beiden Autoren der Studie. „Allein diese Tatsache ist eine ernsthafte Bedrohung für die arabische Öffentlichkeit.“
Ein Beispiel: So hatte in der Vergangenheit der Oberste Gerichtshof ein Gesetz aufgehoben, das sich zwar nicht explizit auf arabische Israelis bezog, ihnen in der Praxis jedoch massive Nachteile beschert hätte. „Dabei ging es um eine Klausel, die es dem Staat erlaubte, Personen den Anspruch auf Sozialleistungen zu entziehen, wenn sie ein Auto benutzen.“ Das aber würde den in den Basisgesetzen fixierten Vorstellungen von Menschenwürde und dem Recht auf Freiheit widersprechen, befanden die obersten Richter. Das Urteil war deshalb für die arabische Gesellschaft von besonderer Bedeutung, weil viele in oftmals abgeschiedenen Dörfern leben und nur begrenzt Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln haben. Die Studie verweist ferner auf die möglichen negativen Auswirkungen der geplanten Änderungen am Richterwahlausschuss. Politische Erwägungen hätten dann endgültig Vorrang vor beruflichen Qualifikationen und die Wahl arabischer Richter in dem Obersten Gerichtshof wäre in Zukunft noch unwahrscheinlicher als ohnehin schon.
Trotzdem ist die arabische Beteiligung an den Demonstrationen eher verhalten. „Ich persönlich sehe mich dort einfach nicht“, erklärte der Aktivist und Anwalt Amal Oraby, zuständig für die Kontakte mit arabischsprachigen Medien beim New Israel Fund, gegenüber der Nachrichtenagentur AP und bringt damit exemplarisch die Haltung vieler arabischer Israelis auf den Punkt. Und Sami Abu Shehadeh, ein ehemaliger Knesset-Abgeordneter der arabisch-nationalistischen Balad-Partei ergänzt: „Bei diesen Demonstration wird nicht über Rassismus oder Diskriminierungen gesprochen. Und sie nennen es einen Kampf für Demokratie.“ Manche nehmen die Auseinandersetzungen um die geplante Justizreform deshalb als eine exklusiv jüdische Angelegenheit wahr und sehen keinen Grund, sich ebenfalls an den Protesten zu beteiligen. „Die Leute sagen, es sei ein Kampf von Juden gegen Juden“, fasst Mohammed Ali Taha, ehemals Vorsitzender des arabischen Schriftstellerverbands, die Stimmung zusammen. „Andere sagen, sie wollen uns dort nicht haben, warum sollten wir also hingehen? Und wiederum andere verweisen auf Zeiten, in denen der Oberste Gerichtshof sich immer mal wieder gegen uns entschieden hat.“
„Einige aus unserer Community schließen sich den Demonstrationen an“, weiß Aida Touma-Suleiman, arabische Knesset-Abgeordnete der kommunistischen Hadash-Partei, zu berichten. „Es sind aber nicht so viele, wie man eigentlich von denjenigen erwarten sollte, die von diesen Reformen am meisten betroffen sein werden. Wir bemühen uns um diejenigen, die bereits politisiert sind, und fordern sie auf, sich Gehör zu verschaffen, indem man sich entweder mit den Anführern der Demonstrationen zusammensetzt oder gemeinsam mit dem Anti-Besatzungsblock auftritt.“ Zwar erklärten auch die Organisatoren der Demonstrationen, dass sie wiederholt arabische Israelis eingeladen hatten. „Es gibt keine andere Gruppe in der israelischen Gesellschaft, für die so viele Anstrengungen unternommen wurden, um sie in die Proteste einzubinden“, betonte Shir Nosatzki, eine der Organisatoren der Demonstrationen. Selbstverständlich sei man sich der Komplexität ihrer Situation bewusst und sehe Defizite. Doch die Resonanz sei bisher stets eher verhalten gewesen.
Dabei haben sich in den vergangenen Monaten durchaus zahlreiche prominente Vertreter der arabischen Minderheit den Massenprotesten gegen die Pläne der Netanyahu-Regierung angeschlossen. „Wenn die Regierung mit ihren Plänen Erfolg hat, werden unsere Chancen auf Gleichberechtigung und einen gerechten Frieden geringer“, erklärte beispielsweise Suheil Diab, ehemals stellvertretender Bürgermeister von Nazareth, Israels größter arabischer Stadt, und Befürworter einer überparteilichen Initiative, die die Araber dazu motivieren will, zusammen mit den jüdischen Israelis auf die Straße zu gehen. Mitte Februar hatten bereits über 200 prominente arabische Israelis eine entsprechende Petition gegen die geplante Justizreform verfasst und dazu aufgerufen, die Demonstrationen zu unterstützen oder selbst welche zu organisieren. „Es findet ein Regimewechsel statt, der sich auf das Leben aller Bürger auswirken wird, sowohl auf persönlicher als auch auf allgemeiner Ebene – und die arabische Öffentlichkeit wird das erste Opfer sein“, heißt es darin. „Sollten wir die Attacken auf die Justiz nicht abwehren können, werden wir mit unserer Agenda nicht weiterkommen“, so Diab gegenüber der Jewish Telegraph Agency (JTA). „Ich möchte, dass die Araber endlich aktiver werden und wissen, dass es auch in ihrem Interesse ist, mitzumachen.“
Denn manche Befürworter der geplanten Justizreform wollen mehr als nur eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofes. Ihre politische Agenda beinhaltet zugleich ein Roll-back der Rechte zahlreicher gesellschaftlicher Gruppen, darunter Frauen, Angehörigen der LGBT-Community oder nicht-orthodoxen Israelis. Und natürlich der arabischen Israelis. Diab und andere arabische Politiker befürchten, dass die arabische Minderheit im Fall eines Erfolgs der Justizreform plötzlich ohne den Schutz des Obersten Gerichtshofes dasteht und mit Entscheidungen konfrontiert werden könnte, die sie bei der finanziellen Ausstattung ihrer Kommunen, dem Zugang zu Arbeitsplätzen und letztendlich den Möglichkeiten einer politischen Partizipation massiv benachteiligt. Angesichts des Einflusses von Extremisten wie Itamar Ben Gvir oder Bezalel Smotrich in der Regierung sei sogar eine Ausweisung von unliebsamen arabischen Israelis ein realistisches Szenario. „Wir müssen einen deutlichen Teil der jüdischen Mehrheit davon überzeugen, dass wir alle beide bedroht sind“, so Diab weiter. „Der einzig gangbare Weg ist ein gemeinsamer jüdisch-arabischer Kampf.“
Und Malik Azzem, stellvertretender Bürgermeister der arabischen Stadt Tayibe, glaubt, dass trotz der durchmischten Bilanz in der Vergangenheit ein unabhängiger Oberster Gerichtshof für die israelischen Araber unerlässlich bleibt. „Er ist unsere letzte Bastion bei Verteidigung für unserer Rechte als Minderheit“, betont er. „Der Kampf um unsere Rechte ist deshalb nicht von diesem Kampf zu trennen.“ Arabische Israelis sollten daher zu einer der treibenden Kräfte der Demonstrationen werden. „Wir sind bereits zu spät dran in dieser Entwicklung.“ Aber offensichtlich kann man kann sich irgendwie nicht richtig entscheiden. Wie eine aktuelle Untersuchung des in Haifa ansässigen Mada al-Carmel Centers zeigt, lässt sich unter dem arabischen Israelis ein etwas widersprüchliches Verhalten konstatieren. So erklärten laut einer Umfrage 57 Prozent der Befragten, dass sich arabische Israelis an den Demonstrationen beteiligen sollten. Nur 27 Prozent waren explizit dagegen. Zwölf Prozent waren ebenfalls der Meinung, dass man eigene Proteste in den arabischen Ortschaften organisieren sollte. Auf die Frage, ob sie denn an den Demonstrationen persönlich teilnehmen würden, sagten aber 53 Prozent der Befragten israelischen Araber, dass sie das keinesfalls vorhätten. Nur 22 Prozent gaben an, auf jeden Fall sich daran beteiligen zu wollen.
Bemerkenswert ist in diesem Kontext ebenfalls eine Untersuchung des Viterbi Family Center for Public Opinion and Policy Research am Israel Democracy Institute, die der Frage auf den Grund ging, wie es um das Vertrauen der arabischen Israelis in den Obersten Gerichtshof bestellt ist. Demnach ist dieser Anteil derer, die an diese Institution glauben, in Jahren zwischen 2012 und 2022 von 78 Prozent auf 40 Prozent gesunken – Grund dafür waren aller Wahrscheinlichkeit nach die Urteile im Rahmen der Debatte um das Nationalstaatsgesetz im Jahr 2018, das von vielen arabischen Israelis als diskriminierend empfunden wurde. Aber auch bei den jüdischen Israelis hat der Oberste Gerichtshof in diesem Zeitraum an Vertrauen verloren – nur fiel diese Entwicklung deutlich moderater aus. Dennoch gibt es keine andere staatliche Institution, einschließlich der politischen Parteien, der Regierung oder der Knesset, denen die arabischen Israelis so viel Vertrauen entgegenbringen wie dem Obersten Gerichtshof, weil es trotz aller Kritik immer wieder Urteile gab, die ihre politischen oder sozialen Rechte als Minderheit schützte. Und die ist derzeit in Gefahr.
Bild oben: Aufkleber mit dem Slogan „Das Nationalstaatsgesetz ist schrecklich“ des Grafikkünstlers, der als Shoske auftritt, Foto: haGalil