Gefährliche Distanz

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Die geplante Justizreform entzweit derzeit nicht nur die israelische Gesellschaft. Auch das Verhältnis zwischen Israel und der jüdischen Diaspora wird durch den Streit belastet. Vor allem die jüdischen Gemeinden in den Vereinigten Staaten gehen zu der aktuellen Regierung und ihren Plänen zunehmend auf Abstand.

Von Ralf Balke

Israel Staatspräsident brachte es auf den Punkt. „Es gibt keine größere existenzielle Bedrohung für unser Volk als die, die von innen kommt: Unsere eigene Polarisierung und Entfremdung voneinander“, so Yitzhak Herzog am Sonntagabend in einer Rede vor Vertretern der Jewish Agency for Israel, der World Zionist Organization sowie den Jewish Federations of North America und dem Keren Hayesod. „Tatsache ist, dass wir uns in den jüdischen Gemeinschaften immer weiter voneinander entfernen. Die Kluft zwischen uns wird immer größer“, warnte er. Seine mahnenden Worte treffen den Kern des Problems. Denn offensichtlich ist es mit den Beziehungen zwischen Israel und den im Ausland lebenden Juden gerade nicht zum besten bestellt. Und genau darauf will der Staatspräsident aufmerksam machen.

„Israel ist im Moment nicht mehr das Band, das unser Volk in den schwierigen Zeiten des vergangenen Jahrhunderts immer vereint hat“, betonte Yitzhak Herzog ferner. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, um eine Initiative anzukündigen. „Kol HaAm“ soll sie heißen, zu deutsch: „Stimme des Volkes“. Auf diese Weise will man den inneren Spannungen entgegenwirken. Als eine Art „jüdisches Davos“, wie der Staatspräsident es bezeichnet, sollen Vertreter des Staates Israel mit Vertretern aus möglichst vielen jüdischen Gemeinschaften aus aller Welt in einen Dialog treten, um so eine weitere Entfremdung Israels von der Diaspora zu verhindern.

Wie dringlich eine solche Initiative ist, zeigte sich in den vergangenen Tage, als die Jewish Federations of North America (JFNA) anlässlich des 75. Jahrestags der Gründung des Staates Israel ihre Generalversammlung in Tel Aviv abhalten wollte. Rund 3.000 Vertreter jüdischer Gemeinden aus ganz Nordamerika waren deshalb eigens angereist. „Unsere Anwesenheit in so großer Zahl und zu diesem bedeutsamen Anlass ist ein Beweis für unsere tiefe Sorge um das Wohlergehen Israels und die unverbrüchlichen Bande zwischen unseren beiden Gemeinschaften“, erklärte JFNA-Vorstandsmitglied Julie Platt. Damit war klar, dass es um mehr ging als nur den Austausch von Höflichkeiten oder der Teilnahme an einer der vielen Feiern zum Unabhängigkeitstag. Denn bereits im März war eine 30-köpfige Delegation der JFNA nach Jerusalem gereist, um sich mit Politikern der Regierung und der Opposition zu treffen und ihnen zu erklären, dass man die geplante Justizreform äußerst kritisch sehe. So hieß es in einem offiziellen Statement der JFNA, man habe „auf die Gefahren hingewiesen, die dieser Vorschlag für Israels Gewaltenteilung und den Schutz von Minderheitenrechten haben könnte“.

Das ist äußerst ungewöhnlich. Normalerweise halten sich Vertreter der Diaspora weitestgehend aus den internen israelischen Diskussionen heraus, ergreifen aus Prinzip nicht die Seite für die eine oder andere politische Partei. Diese Haltung scheint sich gerade zu verändern. Beispielhaft dafür der Geschäftsführer der Jewish Federation of Greater Washington, Gil Preuss. Er betonte, die JFNA-Delegation habe sich darauf verständigt, „die Auswirkungen der vorgeschlagenen Reformen auf das Engagement des weltweiten Judentums, insbesondere des amerikanischen Judentums, zu erläutern“.

Zur Begründung führte Gil Preuss an: „Lange Zeit hieß es, dass amerikanische Juden ihre Stimme nicht erheben sollten, vor allem nicht öffentlich, wenn es um interne israelische Angelegenheiten geht. Diese Vorstellung ist nun in vielerlei Hinsicht überholt.“ Die von Israel erwartete Unterstützung würde ihnen schließlich auch das Recht geben, sich zur Politik des jüdischen Staates zu äußern. Die JFNA steht nicht alleine da mit ihrer neuen Haltung. Das Vorhaben der israelischen Regierung, dem Obersten Gerichtshof einen Großteil seiner Kompetenzen und Unabhängigkeit zu entziehen, hat scharfe Kritik von einer ganzen Reihe etablierter amerikanisch-jüdischer Organisationen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hervorgerufen, die traditionell als Verteidiger Israels bekannt sind, darunter politische Schwergewichte wie das American Jewish Committee (AJC), die Anti-Defamation League (ADL) oder der bekannte Jurist Alan Dershowitz und der Taglit-Mitgründer Charles Bronfman.

Auf der Generalversammlung der JFNA in Tel Aviv eskalierte das Ganze dann. Zum einen weil Benjamin Netanyahu dort eine Rede halten sollte, was wiederum dazu führte, dass die Gegner der Justizreform eine große Demonstration vor dem Tagungsort, dem Expo Tel Aviv Kongresszentrum, angekündigt hatten. Daraufhin sagte der Ministerpräsident seinen Auftritt in allerletzter Minute überraschend wieder ab. Sehr wahrscheinlich wollte er den kritischen Fragen der JFNA-Vertretern aus dem Weg gehen. Andere dagegen, darunter Simcha Rothman, Abgeordneter der Religiösen Zionisten und einer der prominentesten Befürworter der Justizreform, erschienen dennoch. Auf einer Podiumsdiskussion kam es zwischen ihm und Yohanan Plesner, Präsident des Israel Democracy Institute und ehemaliger Knesset-Abgeordneter, zu einem heftigen Wortgefecht, als dieser Rothman beschuldigte, „die israelische Demokratie und die Beziehungen zur Diaspora zu zerstören“. Dabei erhielt er reichlich Applaus von zahlreichen Repräsentanten jüdischer Organisationen aus den Vereinigten Staaten, woraufhin Rothman reichlich wütend wurde. Zwar ist so ein Schlagabtausch typisch für die Diskussionen zwischen den Befürwortern und den Gegnern der von der Regierung geplanten Reform – die Tatsache, dass bei dieser Gelegenheit auch amerikanische Juden im Publikum saßen und Partei ergriffen, stellt aber ein Novum dar. Mindestens fünf Demonstranten wurden anschließend gewaltsam aus dem Publikum des Expo Tel Aviv Kongresszentrums von der Polizei entfernt.

Unter den Demonstrierenden befand sich ebenfalls Rabbinerin Lea Mühlstein, die Vorsitzende von Arzenu, einer Organisation, die das reformierte und progressive Judentum vertritt. Sie und andere Arzenu-Aktivisten skandierten „Schande“ und machten ordentlich Lärm mit Rasseln, um Rothman nicht sprechen zu lassen. Und der Geschäftsführer der Jewish Agency, Dr. Yizhar Hess, erklärte anschließend, dass es gute Gründe dafür gegeben habe, warum Rothman das Kongresszentrum nur durch die Hintertür verlassen konnte und es sogar von den Mitgliedern des Board of Governors der Jewish Agency Buhrufen gab, als er auftrat. „In der gesamten jüdischen Welt gibt es vielfältige, intensive und lebhafte Proteste und Diskussionen, weil die derzeitige Regierung Israels Beziehungen mit der jüdischen Welt ernsthaft in Gefahr bringt. Und Rothman steht stellvertretend für die umstrittene Gesetzgebung. Er hat die Verhandlungen in dem von ihm geleiteten Ausschuss auf die denkbar undemokratischste Art und Weise durchgeboxt, und jetzt ist er beleidigt, weil er genau die gleiche Behandlung erfährt?“

Andere Teilnehmer der Generalversammlung waren zwar nicht unbedingt mit der Art und Weise einverstanden, wie protestiert wurde, zeigten sich jedoch tief bewegt. Dov Ben-Shimon, Geschäftsführer der Jewish Federation of Greater MetroWest in New Jersey sagte gegenüber der Jerusalem Post: „Rabbinerin Lea ist mutig, stark, tapfer und edel. Ich bin stolz darauf, dass sie der Geschäftsführung der Jewish Agency angehört.“ Und Daryl Messinger, Vorsitzender von ARZA, dem zionistischen Arm der Reformbewegung und ehemalige Vorsitzender der Reformbewegung in Nordamerika (URJ), ergänzte. „Im Gegensatz zu den Unwahrheiten, die die extreme Rechte über uns verbreitet, lieben wir Israel. Wir sind Zionisten und wollen, dass Israel auch weiterhin jüdisch, demokratisch und für alle seine Bewohner ein sicherer Ort bleibt ist – schließlich ist das auch mein Heimatland.“ Der Regierung attestierte sie ferner, den zionistischen Traum nur für die Jüdinnen und Juden zu ermöglichen, die ihrer Weltanschauung entsprechen würden. Das will sie nicht widerstandslos hinnehmen.

Die Jewish Federations of North America, die World Organization sowie die Jewish Agency und der Keren Hayesod hatten sich gewiss eine andere Veranstaltung vorgestellt, als sie ihre Generalversammlung zum 75. Geburtstag Israels planten. Vielmehr haben die Ereignisse dort gezeigt, wo gerade die Gräben verlaufen und wie stark die Debatten um die geplante Justizreform die Beziehungen mit der Diaspora überschatten. Und manche Vertreter der israelischen Regierung belasten sie noch weiter, wenn sie behaupten, dass sich die Vertreter der jüdischen Gemeinschaften in aller Welt von den Gegnern des Vorhabens einfach nur instrumentalisieren lassen würden. „Ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, in der die Opposition jemals Kräfte aus dem Diaspora-Judentum gegen die Regierung rekrutiert hat“, so Amichai Chikli, derzeit Minister für Diaspora-Angelegenheiten und soziale Gleichheit in einem Interview mit der Tageszeitung Israel Hayom. „Dies ist verachtenswert“, sagte er weiter. „Anstatt auf ihre Hilfe im Kampf gegen das iranische Atomprogramm zurückzugreifen, werden sie rekrutiert, um sich an einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Rechten und der Linken zu beteiligen. Abgesehen davon sind diese hochrangigen Persönlichkeiten keine Dummköpfe. Sie werden gewiss schnell erkennen, dass es sich um >viel Lärm um nichts< handelt und das Gerede vom Endes der Demokratie und einem Putsch alles nur Lügen sind, die von der Wahrheit nicht ferner sein könnten.“

Äußerungen wie diese dürften wenig dazu beitragen, die Befürchtungen von wichtigen Vertretern der Diaspora zu entkräften und von manchen sogar als Beleidigung aufgefasst werden. Denn es sind nicht nur die Repräsentanten des liberalen amerikanischen Judentums, die sich zu Wort melden. Aus so gut wie jedem Land war Kritik zu hören, auch aus Deutschland. So hatte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im März in einem Tweet erklärt, dass es die Proteste in Israel „aus gutem Grund“ gebe. Anlässlich des Berlin-Besuchs von Benjamin Netanyahu habe er dem Ministerpräsidenten ferner seine Sorge darüber ausgedrückt, „dass seine Regierung die israelische Gesellschaft zunehmend spaltet und dabei ist, Vertrauen in das demokratische Israel zu verspielen.“ Auch das waren neue Töne.

Bild oben: Israelische Demonstranten vor der Generalversammlung der Jewish Federations of North America in Tel Aviv, (c) haGalil