Der Tod spazierte durch die Strassen

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Rachel Auerbach während ihrer Aussage im Eichmann Prozess, National Photo Collection of Israel, D408-075

Rachel Auerbachs Schriften aus dem Warschauer Ghetto sind nun auf Deutsch erschienen und führen die Holocaust-Erfahrung eindringlich vor Augen

Von Jim Tobias
Zuerst erschienen in: tachles v. 24.02.2023

«Werft etwas herunter, jüdische Herzen, liebe Menschen, habt Erbarmen, habt Mitleid», diese eindringlichen Bitten und das Flehen waren täglich auf den Strassen, den Hinterhöfen und in den Treppenhäusern des Warschauer Ghettos zu hören. Das «Hungerlied», die die Chronistin des Warschauer Ghettos Rachel Auerbach den «melodischen Sprechgesang» nennt, der die Bewohner des Viertel vom frühen Morgen bis spät in die Nacht begleitete. «Ein Stückchen Brot, ein wenig Essen, ich bitte euch so sehr.»

Bedeutende Dokumentaristin

Die polnisch-jüdische Journalistin Rachel Auerbach (1899–1976) gehört zu den bedeutendsten frühen Dokumentaristen der Holocaust-Forschung. Neben ihrer Tätigkeit für Emanuel Ringelblums einzigartiges Untergrundarchiv «Oneg Schabbat» leitete sie eine Suppenküche im Ghetto. Ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Einschätzungen vermitteln ein unmittelbares und eindrucksvolles Bild vom täglichen Hunger und Sterben der todgeweihten jüdischen Bevölkerung.

Schon kurz nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzer mit der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung begonnen: Ein Jahr später wurden alle Juden Warschaus in einem abgegrenzten, von hohen Mauern umringten Wohngebiet zusammengepfercht, rund 400.000 Menschen auf einer Fläche von etwa dreieinhalb Quadratkilometern.

Obwohl Rachel Auerbach gleich nach Kriegsbeginn erwogen hatte, Polen zu verlassen, verzichtet sie freiwillig auf ihren vom Journalistenverband reservierten Platz. Ab Herbst 1939 engagierte sie sich bei der Volksküche, die zu Hochzeiten mehr als 2200 Teller Suppe an die Bewohner des Ghettos austeilt. Im Frühjahr 1941 wird Rachel Auerbach die Mitarbeit im «Ringelblum-Archiv» angetragen. «Ich erfahre von der Existenz einer Gruppe von Personen, die Dokumente sammeln und die heutige Zeit beschreiben», notiert sie, «Ringelblum ernennt mich zur Mitarbeiterin». Ab dem 4. August 1941 bis zum 26. Juli 1942 dokumentiert sie detailliert den grausamen Alltag, den Tod, «der am helllichten Tag durch die Strassen spaziert», wie Auerbach am 20. September 1941 in ihrem Tagebuch schreibt. «Diese schrecklich interessanten und an sich erschreckenden Bilder des Lebens, die wir tagein betrachten.» Gleichzeitig befürchtet die Chronistin, «alldem nicht gewachsen zu sein und diese Wirklichkeit, die wir erleben», nicht beschreiben zu können. Doch sie ist von ihrer Mission überzeugt, «denn wer weiss, ob auch nur ein Zeuge dieser Tragödie übrigbleibt».

«Vielleicht weint selbst der Satan»

In einem ihrer letzten überlieferten Einträge vom 26. Juli 1942 schreibt Rachel Auerbach: «Vielleicht weint selbst der Satan, den wie Gott, der Mensch ersonnen hat. Aber das zu ersinnen, was sie jetzt vollführen, vermochte mit einem nur im Deutschen vorhandenen Ausdruck allein der Unmensch-Teufel.» Vier Tage zuvor hat die Liquidierung des Warschauer Ghettos begonnen, bei dem die meisten Bewohner ins Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden.

Zu dieser Zeit übergibt sie auch ihr Notizheft «Monografie einer Volksküche» an das Ringelblum-Archiv. «Ich möchte am Leben bleiben, ich bin bereit jedem noch so ordinären Rüpel die Schuhe zu küssen, nur um den Moment der RACHE zu erleben», schreibt sie in ihrem Testament. Rachel Auerbach gelingt im März 1943 die Flucht aus dem Ghetto auf die «arische» Seite. Dort ist sie weiterhin im Widerstand tätig und übernimmt verschiedene konspirative Aufgaben – trotz der Gefahr als Jüdin entdeckt zu werden. Zum jüdischen Ghetto-Aufstand im April 1943 schreibt sie voller Empathie und Solidarität mit den verzweifelt kämpfenden Juden: «Mit vom Rauch geröteten, offenen Augen gingen wir durch die Stadt. Russflocken flogen herum, doch unsere Lider schlossen wir nicht. Dies waren die einzigen Gesten, die uns blieben, um uns mit jenen dort in ihrer und unserer Einsamkeit zu vereinen.»

Die Befreiung Warschaus durch die Rote Armee erlebt Rachel Auerbach ausserhalb der Stadt. Aktiv beteiligt sie sich am Aufbau des jüdischen Lebens. Sie sammelt Zeugnisse über die Schoah, arbeitet als Redaktorin der jiddischen Zeitung «Dos naje leben», schreibt für polnische Blätter und beteiligt sich an der Suche und Bergung des im Ghetto versteckten «Ringelblum-Archivs». Zudem gehört sie einer Kommission an, die das ehemalige Vernichtungslager Treblinka inspiziert; die Ergebnisse veröffentlich die Journalistin auf Jiddisch in der 1947 vorgelegten Publikation «Ojf di felder fun Treblinke».

Aufgrund des zunehmenden Antisemitismus im Nachkriegspolen immigriert Rachel Auerbach 1950 nach Israel, wo sie in der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem, Abteilung «Zeugenberichte», über mehr als 20 Jahre tätig ist. Die Erinnerungsarbeit und die Sammlung von Dokumenten der Schoah «ist die einzige Sache, die mich auf den Beinen und am Leben hält», notiert sie, «ich denke, dass ich gar kein Recht auf ein persönliches Leben habe».

Auerbachs Schriften und ihr unermüdlicher Kampf gegen das Vergessen hatten nur ein Ziel: Zeugnis über ein singuläres Menschheitsverbrechen, einen Zivilisationsbruch, abzulegen. Rund acht Jahrzehnte mussten vergehen, bis Rachel Auerbachs authentische Texte, die zudem literarische Qualität besitzen, in die Sprache der Täter übersetzt wurden. Dank gebührt dem Berliner Metropol-Verlag, der dieses wichtige Zeugnis der Schoah, hervorragend kommentiert und mit einer fachkundigen Einleitung von Karolina Szymaniak versehen, dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht zu haben.

Bild oben: Rachel Auerbach während ihrer Aussage im Eichmann Prozess, National Photo Collection of Israel, D408-075