Hitler, Syphilis, Euthanasie (VI.)

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Heute: Arthur Dinter: Die Sünde wider das Blut. Ein Zeitroman. Leipzig 1918

Von Christian Niemeyer 

Der Autor (1876-1948), Mitbegründer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (1919), war eine Zeitlang Nr. 5 in der NSDAP vor Hitler, sein 1918er ‚Zeitroman‘ war ein Bestseller sondergleichen mit ca. 1,5 Millionen Lesern bis 1930. (vgl. Wiede 2011: 129 f.; Niemeyer 2015: 142 ff.; 2019: 286 ff.; Haring 2018: 106 ff.) Ideologisch war er (Autor wie Roman) dem Rasseideologen Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) verpflichtet, auf den sich Dinter sowohl im Nachwort als auch in zwei Exkursen sowie in einigen Anmerkungen bezog, mit dem Ziel, die zentrale Botschaft, die auch die Hitlers war, plausibel zu machen:

„Rasse ist alles! […]. [D]enn Volk und Vaterland geht, wie die Geschichte lehrt, unrettbar zugrunde, wenn die Rasse durch Mischung mit artfremdem Blut verdirbt.“ (Dinter 61919: 430 f.)

In völkischen Kreisen der Jugendbewegung, etwa in den Alldeutschen Blättern, wurde dieser Roman Dinters mit Sprüchen beworben wie: „Kluge Mütter schenken ihren erwachsenen Töchtern vor der Verlobung Dr. Dinters Roman ‚Die Sünde wider das Blut‘.“ (zit. n. Jungcurt 2016: 274) Der Verlag (Erich Matthes) war völkisch orientiert, der Illustrator (Paul A. Weber) gleichfalls – gleichwohl wurde Dinter nach 1945 von Jugendbewegungsveteranen wie ein nicht wirklich dazugehörender ärmlicher Verwandter mit schlechtem Ruf behandelt (vgl. Niemeyer 2013: 26 f.). Immerhin hielt wenigstens der niedersächsische Politiker Hermann Ahrens Dinter nach 1945, wohl aus eigener Betroffenheit als jugendlicher Leser redend, vor, „Hunderttausende von gutartigen Jungen und Mädchen seelisch vergiftet und sie allesamt erst dafür tauglich gemacht zu haben, nach der Losung ‚Juda verrecke!‘ zu handeln statt nach dem einfachen Geboten der Menschlichkeit.“ (Ahrens 1947: 289)

Dinter erreichte dieses Ziel, wie das Beispiel seines hier allein interessierenden Erstlings lehrt, mit einfachen Mitteln: in Gestalt eines mit klaren Klischees gearbeiteten, um Liebe, Sex, Prostitution, Betrug, Mord und Totschlag kreisenden Schundromans, der die voyeuristische Spannung zumal jugendlicher Leser männlichen Geschlechts im Blick auf eine möglicherweise nymphomanisch entartende Triebhaftigkeit weiblicher Protagonisten insbesondere (halb-) jüdischer Provenienz bedient und sauber nach gut (= Arier) und böse (= Jude) unterscheidet. Zentrales Thema ist, via Houston Stewart Chamberlain, ‚Rassereinheit‘ als Ideal bzw. ‚Rassenschändung‘ als widernatürliche Entartung, getragen von dem Bemühen, die Anstrengung des Juden als vergeblich auszuweisen, mittels Assimilation und Glaubens- sowie Namensänderung seine wahre, im verderbten Blut und mithin in seiner Rasse gründende Gefahr vergessen zu machen. Die Sprache ist kalkuliert dämonisierend, wie das folgende Porträt des durch (jüdische) Raffgier unermesslich reich gewordenen und auf weiteren Profit in einem Krieg spekulierenden Kommerzienrats Burghammer (wie sich später herausstellt: Isidor Hamburger) zeigt:

„Sein Gesicht, von einer großen Pelzmütze und dem hochgeschlagenen Kragen des Pelzmantels eingerahmt, hatte etwas Diabolisches. Unter dichten schwarzen, leicht ergrauten Brauen lauerten ein Paar tiefschwarze, zusammengekniffene Augen. Eine unschöne, träg gebogene Nase ließ graues Gestrüpp aus ihren Öffnungen hervorwuchern. Der ungepflegte, stark ergraute, schwarze Schnurrbart fiel in langen Zotten über den wulstigen Mund, dessen dicke Unterlippe herabhing. Schwarzgraue Stoppeln bedeckten Backen und Kinn.“ (Dinter 61919: 430 f.)

Besonders infam: Der derart Porträtierte scheint sich Jahre später im Enkel, einem – nach späterer Nazi-Terminologie (vgl. Kammer/Bartsch 1992: 86) – ‚Vierteljuden‘ atavistisch zu wiederholen, gleichsam als dominantes Merkmal im Erbgang und ungeachtet der phänotypisch unauffälligen, blonden Tochter Elisabeth, einer ‚Halbjüdin‘, die im Kreißsaal Zeuge wird, wie ihr arischer Gatte Hermann den Schock seines Lebens verdauen muss:

„Ein dunkelhäutiges, mit pechschwarzem, krausem Kopfhaar bedecktes, menschenunähnliches Etwas schrie ihm entgegen […]. Auch Elisabeth war, als sie des Kindes ansichtig geworden, so heftig erschrocken, daß sie ohnmächtig in die Kissen zurückgesunken war.“ (Dinter 61919: 238)

Am Ende dieser Mär sind alle Halb-Juden und Juden verdientermaßen tot, zur Not auch kaltblütig erschossen durch Hermann im Zuge seines gleichsam irdischen Strafgerichts gegen jüdische Verführer. Am Spektakulärsten aber stirbt Isidor: liebestrunken seinen Odem in den Armen gleich dreier blonder Jungfrauen aushauchend, gleichsam als gerechte Strafe für sein Doppelleben als Erzeuger von sage und schreibe 117 Babys, die er in halb Deutschland mit finanziell gefügig gemachten blonden Jungfrauen – erkennbar seine Spezialität – gezeugt hat, gleichsam als Beitrag zu der seiner Meinung nach überfälligen „Rassenvergiftung am deutschen Volke.“ (ebd.: 266)

Dass dagegen nur ein Präventivschlag à la Auschwitz helfe, ist die eigentliche Botschaft Dinters, den als ‚Sexualantisemiten‘ zu bezeichnen (etwa Henschel 2008: 11 ff.) verharmlosend wäre. Denn was in diesem Machwerk, ein Jahr nach Erscheinen (also 1919) schon im 35. Tausend vorliegend, besichtigt werden kann, ist Rassenantisemitismus pur. Er traf auch deswegen auf große Resonanz auch bei Jugendbewegten, weil Krieg und Kriegsausgang dem Antisemitismus noch einmal Auftrieb gaben und man an einen Ton wie den von Dinter angeschlagenen zumindest der Tendenz nach schon längst gewöhnt war, etwa ausgehend von Hermann Poperts Helmut Harringa (1910) oder Hermann Burtes Wiltfeber, der ewige Deutsche (1912) oder eben Hjalmar Kutzlebs Episodensammlung Der Zeitgenosse mit den Augen eines alten Wandervogels gesehen (1922).

In Übersetzung geredet und als mein persönlicher Zusatz (mit Wiederholungszwang): Es ging schon 1918 wie bereits 1912 (bei Burte) sowie 1910 (bei Popert) um vorbereitendes Denken im Blick auf die Wannseekonferenz vom 30. Januar 1942.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/TU Dresden (i.R.)

Text: Basiert auf meiner Darstellung Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022. Dort auch alle Literaturhinweise, Nachdruck (S. 281-283) aus jenem Buch mit freundlicher Genehmigung des Verlages.