„… die Deutschen können den Juden Auschwitz nicht verzeihen“

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Philipp Auerbach wird als Zeuge der Anklage im „Wilhelmstraßen-Prozess“ gegen Mitglieder des Auswärtigen Amtes vereidigt. Er sagte über seine Inhaftierung im Konzentrationslager Auschwitz aus. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)

Von der Justiz in den Tod getrieben: Vom Leben und Sterben eines jüdischen Funktionärs

Am 14. August 1952 verurteilten Nazi-Richter den Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, Philipp Auerbach, wegen angeblicher Bestechung, Veruntreuung, Erpressung, Meineid und anderer Delikte zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Ein politisch motiviertes Schand-Urteil. Noch in derselben Nacht setzte der Staatskommissar aus Verzweiflung seinem Leben ein Ende. Er hat Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald überlebt, doch nicht die deutsche Nachkriegsjustiz. Zwei Jahre später wurde Auerbach durch einen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags rehabilitiert.

Philipp Auerbach wurde 1906 in eine jüdisch-orthodoxe Hamburger Kaufmannsfamilie hinein geboren. Der Vater handelte mit Erzen, Metallen und Chemikalien. Nach der Ausbildung an einer „Drogisten-Fachschule“ erhielt Philipp 1924 eine Lizenz für den Handel mit Chemikalien und stieg in die Firma des Vaters ein. Politisch engagierte sich Auerbach für den ersten deutschen demokratischen Staat in der liberalen Partei DDP sowie im republikanischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.

Ende der 1920er-Jahre ging Auerbach nach Spanien, wo das Unternehmen seines Vaters an einer Mine beteiligt war, die Wolfram abbaute. Bedingt durch den New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 musste auch die Firma Auerbach bald Konkurs anmelden. Eine Zeit der wirtschaftlichen, aber auch politischen Unsicherheit brach an. Dennoch gründete Philipp Auerbach einen Chemikalien-Handel sowie ein Export-Import-Unternehmen. Zwischenzeitlich hatte er geheiratet und mit seiner Frau Martha im Herbst 1933 eine Tochter bekommen. Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten war der jungen Familie klar, dass es für sie in Deutschland keine Zukunft mehr geben würde. Nach einem Auftritt Hitlers in Hamburg, der kurz vor dem Nürnberger Reichparteitag Anfang September 1934 stattfand, flüchten die Auerbachs nach Belgien, wo Philipp erneut eine äußerst erfolgreiche Import-Export-Firma für Chemikalien gründete, die er bis 1940 leitete. Mit der deutschen Kriegserklärung an Belgien wurde Auerbach als feindlicher Ausländer festgesetzt, nach Frankreich abgeschoben und über das Lager Gurs nach Auschwitz deportiert. Seiner Frau Martha und Tochter Helen gelang es, nach Kuba zu fliehen und anschließend in die Vereinigten Staaten einzureisen. Am 18. Januar 1945 wurde Philipp Auerbach auf einen Todesmarsch geschickt, der über Groß-Rosen nach Buchenwald führte, wo er im April 1945 von den US-Amerikanern befreit wurde. Aus Angst vor der russischen Besatzungsmacht machte er sich umgehend auf den Weg in Richtung Westen.

Nur wenige Monate später erhielt Auerbach in Düsseldorf eine befristete Anstellung als Oberregierungsrat, bei der er im Rahmen der Sozialbetreuung das Leben der politisch, religiös und rassisch Verfolgten ein wenig erträglicher machen und auch bei ihrer Auswanderung behilflich sein sollte. Zudem engagierte er sich in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und beteiligte sich am Aufbau des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in der britischen Besatzungszone. Auf Auerbachs Initiative ging auch die Gründung des „Jüdischen Gemeindeblatts für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen“ zurück, einem Vorläufer der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“. 

Aufgrund seines organisatorischen Geschicks und seines Durchsetzungsvermögens sowie auf Wunsch von jüdischen Organisationen, war es nicht es nicht verwunderlich, dass Philipp Auerbach bald ein seinen Fähigkeiten entsprechendes Amt übernehmen konnte. Im Oktober 1946 wurde er zum bayerischen „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ und danach zum „Präsidenten des Landesentschädigungsamtes“ ernannt. Rasch erwies sich, dass damit der richtige Mann an die richtige Stelle gebracht wurde. Der Staatskommissar kümmerte sich nicht nur um die Rehabilitierung von NS-Opfern und die juristische Verfolgung von NS-Tätern, er wurde auch zum Fürsprecher und Interessenvertreter der vielen Tausend in Bayern gestrandeten jüdischen Displaced Persons (DP). Diese stammten zumeist aus Osteuropa und belagerten sein Büro tagtäglich, da sie sich bei Auerbach Hilfe in ihrem Kampf mit den deutschen Behörden hinsichtlich Entschädigungszahlungen oder bei der Restitution ihrer geraubten Vermögen erhofften.

Der Staatskommissar verfügte in seinem Amt nur über eine Handvoll Mitarbeiter, erreichte jedoch durch seinen unermüdlichen Einsatz Bemerkenswertes für seine Klientel. Sehr zum Ärgernis vieler deutschen Bürger und Politiker, die die jüdischen DPs gemäß deren Abkürzung als „Deutschlands Parasiten“ bezeichneten, die „unberechtigte“ Hilfsgelder beanspruchten und angeblich den Schwarzmarkt dominierten. Das alte antisemitische Stereotyp vom raffenden Geldjuden feierte seine erneuten Urstände. Doch die Realität sah anders aus: Zeitgenössische US-amerikanische Beobachtungen gehen davon aus, dass 85 Prozent der Schwarzhändler Deutsche waren, die restlichen 15 Prozent verteilten sich auf Juden, Ausländer oder Amerikaner. An rund 11.000 im Dezember 1948 in der US-Zone registrierten Schwarzmarktvergehen waren nur 400 Displaced Persons, davon der kleinste Teil jüdische DPs, beteiligt. Der Antisemitismus war jedoch allgegenwärtig, wie auch folgende Begebenheit dokumentiert, die in den Erinnerungen des Beamten Friedrich Glum aus der Bayerischen Staatskanzlei über eine Demonstration nachzulesen ist. „Eines Tages hörte ich großen Lärm auf der Straße. Ich ging ans Fenster und sah dort die ganz Straße angefüllt mit einer laut schreienden Truppe marschierender Männer“, notierte der Ministerialrat. „Es waren polnische Juden, Displaced Persons. Das Merkwürdigste aber war, dass an der Spitze ein bayerischer Beamter marschierte, der bayerische Staatskommissar für die Betreuung der Juden Auerbach, eine damals mächtige Persönlichkeit, vor der die Beamten ebenso Angst hatten wie seinerzeit vor einem nationalsozialistischen Gauleiter.“

Es daher auch kein Wunder, dass die bayerischen Behörden, die nur unter Druck der Alliierten Auerbachs Engagement für die Shoa-Überlebenden widerwillig begleiteten, die berechtigten Anträge der Opfer verschleppten und alles taten, um sie zu entmutigen. Zudem wurde der Jude Auerbach verleumdet, Gelder zu veruntreuen, Vetternwirtschaft zu betreiben, zu lügen und zu betrügen; das gesamte Repertoire aus dem Jauchefass des Antisemitismus wurde über ihn ausgegossen. Sicher entsprach Auerbachs Amtsführung nicht den Vorschriften der bayerischen Beamtenschaft, doch die Zeiten forderten eine kreative und zeitnahe Umsetzung bei der finanziellen und juristischen Hilfe für die nur mit knapper Not Davongekommenen. Auerbachs mehr als schlampige Buchführung sowie sein offensives Auftreten nutzten die Altnazis in der Justiz und konstruierten ein irrwitzige Anklage, die zur sicheren Verurteilung führte und ihn damit in den Tod trieb. „Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen!“, schrieb er verbittert in seinem Abschiedsbrief. „Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiterhin tragen.“

Seine Rehabilitation erfolgte erst lange nach seinem verzweifelten Suizid und von den Verwürfen blieb letztlich nur übrig, dass Auerbach zeitweise widerrechtlich einen Doktortitel geführt habe. Doch auch noch 23 Jahre nach Auerbachs Tod fand das Bayerische Landesentschädigungsamt 1975 eine Möglichkeit, seine Familie zu belangen. Im Frühjahr 1950 war der jüdische Friedhof in Würzburg geschändet worden. Der Staatskommissar setzte eine Belohnung für die Ergreifung des Täters in Höhe von 1.000 DM aus – die der Freistaat auch bezahlen musste. Auerbach habe damit „seine Befugnisse überschritten“ und seine „Verpflichtungen in besonders schwerem Maße verletzt“, so die Begründung des Landesentschädigungsamtes. „Die Erben nach Dr. Auerbach sind somit entschädigungspflichtig“, die „Wiedergutmachung“ der Familie sei daher um 1.098 DM zu kürzen.

Hans-Hermann Klares Auerbach Biografie erzählt die Geschichte eines nahezu vergessenen deutschen Juden, der sein Leben immer in die Hand genommen hat, sich nach 1945 mit aller seiner Macht und Persönlichkeit für die wenigen Überlebenden der Shoa einsetzte und dafür von deutschen Richtern verurteilt wurde. Das Buch lies sich wie ein Kriminalroman, der Autor schreibt packend, kurzweilig – wobei er manchmal knapp am Boulevard verbeischrammt. Gleichwohl ist „Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder wie der Antisemitismus den Krieg überlebte“ nicht nur eine gut recherchierte, empfehlenswerte Biografie, sondern auch eine vortreffliche Studie der deutschen Nachkriegszeit. – (jgt)

Hans-Hermann Klare, Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte, Aufbau Verlag 2022, 475 S., 28 €, Bestellen?

Bild oben: Philipp Auerbach wird als Zeuge der Anklage im „Wilhelmstraßen-Prozess“ gegen Mitglieder des Auswärtigen Amtes vereidigt. Er sagte über seine Inhaftierung im Konzentrationslager Auschwitz aus. Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)