Also sprach Professor Nils Pacific

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Mit welchem Dynamit es ein Ami heute beinahe geschafft hätte, den 32. Internationalen Nietzschekongress in Naumburg in zwei Hälften zu spalten (jedenfalls einer mir von einem Ex-KGBler gesteckten Fake News zufolge)

Von Christian Niemeyer

„Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“
(Nietzsche)

„Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“, für Putin und seinen Mörderorden tagtägliche Devise in der Ukraine, für uns hier in Naumburg beim Internationalen Nietzschekongress morgendliches Ritual beim Duschen mit kaltem Wasser aus Solidarisierung a) mit der Ukraine und b) mit Nietzsche – so jedenfalls sprach auch ich mir heute (22.10.) morgen Mut zu wie weiland Nietzsche im Engadin, als er in frühjahrskalte Bergseen mit einer Unerschrockenheit eintauchte, als handele es sich um ein extrem kompliziertes Problem, das Selbstvergessenheit erfordere. Barg nicht auch mein heutiger erster Besuch auf einem Kongress, um dessen Verlauf ich avant la lettre genau wusste, ein vergleichbar kompliziertes Problem? Dachte ich, nochmals gesagt, unter der kalten Dusche im „Kaiserhof“, das ich gebucht hatte, weil ich’s drunter nicht machen konnte, Nietzsche zuliebe. Der dem Kaiser (Wilhelm II.), wie er in Ecce homo ausplauderte, nicht die Ehre zugestehen würde, sein Kutscher zu sein. So wie ich auch ich heute, so wie auch ich dem „Kaiserhof“ die Ehre erweisen will, in seinem spärlichen Ambiente von einem Kutscher zu träumen, der mich gleich zum Kongress fahren wird, als einzigem „Auslandskorrespondenten“.

Zum Glück hatte ich gestern noch, in einem der entzückenden kleinen Lokale in Bahnhofsnähe, eine Zufallsbekanntschaft gemacht mit einem älteren Herrn (im wechselseitigen Einvernehmen spaßhaft „Ungeheuer“ genannt), der – im Vergleich zu den übrigen Gästen dieses Bistro – durch seine Kultiviertheit herausstach und der mich zu Beginn unseres Gesprächs an Nietzsche erinnerte und zu dessen Ende hin an Niemeyer. Kurz: Er war mir gleich sympathisch. So dass ich ihm eines der dreißig für die Vor-Ort-Verteilung bestimmten Exemplare meines Beitrags vom 18. Oktober („‘Nietzsches Natur‘ oder: Rechte (müssen) lügen“[1]) sowie meines gestern um 8.00 auf hagalil.com eingestellten Kongressberichts avant la lettre mit dem Titel „Darf der das? Den Präsidenten stürzen und dessen Vize, und dies a day after?“[2] zusteckte. Er zögerte zwar, weil er die Aufschrift „Arbeitsexemplar“ entdeckte und die für meinen Kollegen Marco Brusotti bestimmte Losung „If you can’t beat him – join him!“ gleich noch dazu. Andererseits war er auch Fisch (natürlich nur vom Sternzeichen her!) und also abenteuerlustig genug, um mir zu versprechen, er werde den Kongressbericht als Drehbuch lesen und sich auf die Rolle eines der an meinen Büchertisch mit dem grünen Koffer herantretenden Greise übernehmen. Zu diesem Zweck wollte er den alten Militärmantel seines Opas aus dem Winterschlaf wecken. Wir sollten, so sein Vorschlag, die ganze Szene fotografisch dokumentieren und dieses Zeugnis dann diesem Nachbericht auf hagalil einfügen. Zumal mein anderes Foto aus dem Bericht avant la lettre als Fake in Verdacht stehe, insofern es gestern in Naumburg geregnet habe.

*

Am Dokumentationszentrum angekommen – „Ungeheuer“ war entgegen seines Versprechens weit und breit nicht zu sehen –, erwartete mich, wie ich’s vom „Kaiserhof“ her durch Fr. Mangoldz gewohnt war, ein überraschend freundlicher Empfang, abgesehen offenbar von den durch Marco Brusotti und Enrico Müller (der, ganz Kühlschrank, durch mich durchlief) Eingeweihten: Ein Herr Eisberg (kann aber auch ein Hörfehler sein) drohte mit dem ihm zustehenden Hausrecht, falls ich „den Krams“ (meinen wunderbaren grünen Bücherkoffer, garniert mit nun nur noch nur neunundzwanzig Exemplaren meiner letzten beiden Artikel) nicht vom Anmeldetisch[3] entferne; sein neben ihm stehender Mitarbeiter gab seinem Vorredner ungefragt Recht und erklärte mich nach Vorlage meines Fachpresseausweises (vom bdfj) für einen schlechten Journalisten, gab aber zu, noch nie etwas von mir gelesen zu haben. Den Vogel aber schoss Carlotta Santini, CNRS-Forscherin an der École normale supérieure (Paris), ab, die mir ein „perfetto idiota“[4] entgegenschleuderte – was ich ihr indes irgendwie nachsehen will, lässt doch die von mir intendierte New School der Nietzscheforschung keinen Platz mehr für ihr Spezialgebiet: Nietzsche als Altphilologe. In der Umkehrung gesprochen: Vielleicht finden sich ja unter den erwähnten Anhängern meines Ansatzes auch solche, die mit Antike von jeher auf Kriegsfuß standen – und nun froh sind, dieses Fach, das in der New School der Nietzscheforschung nicht angeboten wird, abwählen zu können?[5]

Apropos Anhänger: Inzwischen will ich nicht ausschließen, dass sich unter meine Anhänger in Naumburg auch unlautere Gesellen mischten, wie für „Ungeheuer“ (natürlich kein Klarname!) wahrscheinlich. Dessen Information beispielsweise, der Sonntagvormittag gehöre Professor Nils Pacific[6] aus den USA, der durch meinen Kongressbericht avant la lettre im deutsch-jüdischen Nachrichtenmagazin hagalil.com aufmerksam geworden, sich kurzfristig entschlossen habe, seine bedrohten Freuden in Deutschland beizustehen. Professor Brusotti habe dieser Programmänderung, die an die Stelle der ursprünglich geplanten Mitgliederversammlung träte, begeistert zugestimmt. Er wusste zwar mit dem Namen Nils Pacific vorerst nichts anzufangen; aber sein Vize habe ihm erklärt, es handele sich gewiss um das Pseudonym eines sehr prominenten Amis. Diese seien in diesen Tagen sehr zurückhaltend mit Klarnamen. Da mich indes am Sonntagvormittag sehr viele Mails aus Naumburg erreichten, es habe keine Programmänderung gegeben, diese Information aber nach Beginn der „Drucklegung“ dieses Textes erfolgte, habe ich in letzter Minute Andrea Livnat gebeten, in einer Fußnote noch einen wichtigen Hinweis[7] einzufügen.

Nachdem dies geklärt ist, noch zu einigen Details, darunter eines, das mich in Sachen „Ungeheuer“ misstrauisch stimmte. Auf einmal nämlich trat, ähnlich wie im Kongressbericht avant la lettre beschrieben, ein Greis an mich heran, der mich zunächst, wie dort beschrieben, an Putin denken ließ, auf der Suche nach Rache für meine Geheimrede zu seinem 70. Geburtstag.[8] Dann aber verwarf ich aus Altersgründen – Siebzigjährige ‚Greis‘ zu nennen, geht gar nicht, wie ich seit dem 1. März denke, – diese Idee zugunsten einer anderen: Dieser Greis (geschätzt Jg. 1944) kam mir, auch seines auffälligen Militärmantels wegen, irgendwie bekannt vor. Die Unsicherheit blieb, da „Ungeheuer“ sowohl eine verspiegelte Sonnenbrille, eine „Die-Eisernen“-Kappe, des Weiteren eine Zorro- als auch eine normale Maske trug. Um plötzlich Professor Pacifics Originalmanuskript aus seinem Mantel zu ziehen und mich aufzufordern, sofort nach Berlin abzudampfen, um diesen Text zu übersetzen und, angefüllt mit einigen mir von ihm berichteten Publikumsreaktionen, zu redigieren und via Tel Aviv auf den Weg zu bringen. Dann hätte ich hot stuff. Ach ja: Seine Nachrichten kämen per SMS unter dem Decknamen „Paul“. Der sich seinerseits mit „Fritz“ austauschte. Das alles kam mir derart schlüssig vor, dass ich zügig nach Berlin fuhr und dort in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den jetzt folgenden Teil meines Kongressberichts vom Sonntag zu Papier brachte.

**

Sonntagmorgens gegen 8.00 war Paul im Nietzsche-Dokumentationszentrum. Mit Fritz klärten sie noch einige Details[9], luden auf einen per Mail eingegangenen Vorschlag von N.N. einige aus, andere nach – die entsprechend modifizierte Gästeliste wurde gleich elektronisch an den Saalschutz weitergeleitet. Die Presse freilich hatte leider draußen bleiben müssen, insbesondere der Auslandskorrespondent von hagalil.com. Aus dem Verlagswesen war lediglich eine Ex-Lektorin des de Gruyter Verlages präsent. Plötzlich verstummte der bisher wie ein Bienenkorb summende Saal wie auf einen Schlag: Magnifizenz, Mediziner von Haus aus und im vollen Wichs mit goldener Amtskette der Universität N.N., eine Uni, die fast von jeder bekannt ist für seine Nietzscheforscher, so dass selbst Nietzsche dereinst in Basel erwog, einem Ruf von dort sich nicht zu verweigern, erhob sich, schritt ans blumengeschmückte Podium, begrüßte umständlich den Gast, den Herrn Staatssekretär sowie einige von ihm ausgewählte Dekane und trug dann ein kurzes Grußwort vor. Nichts Aufregendes. Mit der inzwischen deutschlandweit üblichen „Ich wünsche Ihrer Veranstaltung einen guten Erfolg“ machte sich Magnifizienz rasch auf dem Staub, eine Veranstaltung der Flüchtlingsnothilfe e.V. vorschiebend, auf der er sprechen müsse. Dass es bei jener Veranstaltung lediglich darum gehe würde, Flüchtlingsnothilfe für noch nicht notwendig zu erklären, behielt er hingegen besser für sich. Auch die nähere Begründung hierfür blieb er schuldig. Er würde sie in gut einer Stunde vor dem Rotary Club N.N. zu Gehör bringen, unter der Losung: „Rotarier – die einzigen Arier, die es gut meinen auch mit Schwachen!“ Flüchtlingsnothilfe, so seine Pointe, sei noch nicht notwendig wegen der insgesamt zufriedenstellenden gesundheitlichen Verfasstheit der noch in der Ukraine lebenden Restbevölkerung. Bevorzugtes Asylland, zumal bei ‚Jüdischstämmigen“: Israel. Aktuell wichtiger angesichts des nahenden Winters: Deutsche zuerst! (So jedenfalls berichtete mir „Paul“ per SMS).

Immerhin hatte die gleich nachfolgende Vorstellung des Gastes Stil und Niveau. Bescheiden erklärte der Herr Staatssekretär N.N. dazu, der Text sei von ihm, er habe allerdings einige Anregungen aus dem Entwurf des Herrn Ministers aufgenommen.

Professor Nils Pacific lächelte dazu huldvoll – und wurde prompt gelobt.

Der Gast sei als Quereinsteiger in der Nietzscheforschung vielleicht noch nicht jedem bekannt. Aber seine bisher vorliegenden, vergleichsweise wenigen Veröffentlichungen seien durchgängig von höchstem Niveau. Auf dem Monitor leuchteten die Titel Nietzsche as Educator. A Study in Good-Europian Thinking (2026) sowie Nietzsche. Guidelines from far beyond the anti-biograhical approach (2028) auf.

Paul staunte nicht schlecht und suchte Fritz‘ Blick, der ihm zu sagen suchte: Offenbar kommt der Kerl aus der Zukunft. Währenddessen stand Professor Pacific bescheiden rechts vom Minister, der nun noch ergänzte, dass dem Referenten vor einigen Jahren der Auftrag, die Nietzsche-Studien zu übernehmen und im gelobten Land einen Neustart zu versuchen, fast wie von selbst zugeflogen sei.

Ungläubiges Staunen auf Seiten des aktuellen Herausgebers, Christian J. Emden.

Professor Pacific schaute an dieser Stelle fast verschämt nach unten. Er war groß, muskulös, braungebrannt, einen Hauch Freiheit und Abenteuer um sich verbreitend wie in den schlechten alten Zeiten der Marlboro-Man, nicht hingegen das HB-Männchen, so dass einige Ladys aus dem Doktorandinnenblock  beinahe vom Stuhl fielen vor Hingabe, wie sonst nur bei Christian Benne DK) vorstellbar. So meinte Ekaterina X. zu ihrer neben ihr sitzenden Freundin Natascha Y. leise flüsternd und sicherheitshalber auf Russisch, endlich wisse sie, was Nietzsche mit dem Übermenschen gemeint habe. Der Staatssekretär, in diesem Moment kurz und durchaus finster in ihre Richtung schauend – auch ich kann Russisch, sollte dies wohl heißen – und als nächstes Reinhilde streng fixierend, wendete sich wieder dem Gast zu und pries ihn als den weltweit führenden Repräsentanten des biographieorientierten Ansatzes in der Nietzscheforschung, seit 2022 auch unter dem von Christian III. stammenden Titel New School bekannt. In Deutschland wurde dieser Ansatz, wie bekannt, allenfalls noch von Außenseitern verfolgt, die auf diese Weise offenbar den Schwierigkeiten der Texte ausweichen wollten und wohl noch nichts gehört hätten von Nietzsche Credo: „Das Eine bin ich – das andere sind meine Schriften!

Im Saal erhob sich ein zustimmendes Murmeln insbesondere im Doktorand*innenblock, fühlte man sich hier doch auf vertrautem Boden.

Umso überraschter war man über des Staatssekretärs mutige Pointe:

„Dear Mr Pacific, bitte zeigen Sie uns, dass wir im Irrtum sind!“

Der Applaus war nicht unverdient, wenngleich Paul schien, als mische sich in ihn hinein die Neugier, ob es dem Ami wohl gelänge, den selbstbewussten Siegerländer aufs Kreuz zu legen. Denn dies wäre fraglos ein Politikum allererster Ordnung gewesen, angesichts derer sich der Vorabausschluss der Presse als weitsichtige Maßgabe erwies.

Professor Pacific musste allerdings erst noch verkabelt werden, was etwas aufwändig geriet, da der frei gehaltene Vortrag synchron übersetzt werden sollte – an sich keine Sache heutzutage, gab es doch Übersetzungs- und Verschriftlichungsroboter. Per Head-set konnte, wer wollte oder musste – Ekaterina und Natasha gehörten fraglos zum letztgenannten Typus –, dem übersetzten Vortrag in allen Sprachen der Welt folgen. Außerdem wurde der übersetzte deutsche Text synchron auf einen der beiden hinter dem Redner an der Wand hängenden überdimensionierten Bildschirme gestochen scharf angezeigt. Der rechte, gleich große Bildschirm war für eine Art Diashow gedacht, mal des Professors Heimatuni zeigend, mal eine der im Vortrag angesprochenen Personen. Außerdem wurden auf ihm besonders wichtige Zitate Nietzsches eingeblendet und gegebenenfalls auch synchron übersetzte Fragen aus dem Publikum.

Imposant, zweifellos. Der Praktikant namens Christian war jedenfalls ganz begeistert. Übrigens auch von Professor Pacifics Techniker. Er hörte, wie Christian inzwischen herausbekommen hatte, auf den Namen James Martyn Owen (abgekürzt und von Vertrauten war ihm Ja-Ma lieber, seiner Jamaikanischen Herkunft wegen). Die Menschen freilich sind unterschiedlich. Dr. Habelhubers Gesichtsausdruck beispielsweise erlaubte fast den Schluss, es läge Neid vor auf den Techniker, aber auch auf das Equipment, das ihm, wäre es doch nur seines, fraglos die bisher noch nicht sichtbar gewordenen Höhepunkte in der Lehre verschaffen würde. Ausgerechnet ihm, Eckart, mit seiner wahrhaft lächerlichen Parteiuniform, die einem Kermit aus der Muppets Show fraglos gut angestanden hätte.

***

Doch dann begann sie, die – wie Paul später immer mal wieder zu Fritz und Christian im nostalgischen Rückblick sagte – „Greatest Show on earth ever heard about!“

„Sehr verehrte Publikümmer, welcome to the show!“ – so begann Professor Pacific mit wohlklingender, leicht sonorer Stimme in broken German, dabei offenbar angetrieben vom bei internationalen Kongressen so beliebten ice breaking. Und genau so ging es weiter mit diesem merkwürdigen Professor aus den Staaten. Der seiner Abkunft wegen das Deutsche quasi mit der Opamilch aufgesogen hatte. Also sich schlicht amerikanischer stellte als er war. Und der entsprechend, mit großer, lässiger Geste, komplett ignorieren konnte, dass Magnifizienz längst gegangen war. Mehr als dies: Dessen durchaus beleidigende Begrüßungsworte quittierte Professor Pacific mit dem fast ironiefrei vorgetragenen Satz, sie hätte ihm ein Bildungserlebnis neuer Art verschafft in Sachen der Frage, was denn nun als „deutsch“ und was als „undeutsch“ zu gelten habe.

Ehe noch jemand über das Beleidigende dieses Zusatzes nachdenken konnte, kam übergangslos: Dank auch an „Herrn Staatssekretär“, der kurzfristig den bedauerlicherweise erkrankten „Herrn Minister“ vertreten müsse. Der ihn zu diesem Vortrag eingeladen habe.

Und übergangslos und wieder komplett auf Deutsch, mit unfassbaren Charme vorgetragen:

Verwechselt mich vor Allem nicht!“

Wie als Kommentar dazu setzte der Referent eine Ray Ban auf und rief:

„Ich bin Nils Pacific aus Chicago. Sorry folks, ihr müsst tapfer bleiben: Nietzsche ist tot – aber (der) Pacific lebt!“

In Paul wuchsen erste Fragen: Hatte dieser Ami mit seinem Walrossbart, den kleinen Ohren, den kräftigen Waden und dem angenehmen Organ wirklich ein Anrecht darauf, ‚Ich‘ zu sagen? Gab es die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘, also Nietzsches, wie Paul fand, lächerlichste Idee etwa doch? Kehrte möglicherweise auch Nietzsche selbst ewig wieder, gerade im Moment beispielsweise? Dann jedenfalls musste er sich mächtig verändert haben, denn aus Professor Pacific, unverkennbar ein Womanizer von Maupassant-Formats, brach es jetzt hervor:

„Liebe viele Publikümmer, toll, dass ihr so schnell euch auf die Matte gemacht habt! Ich liebe euch doch alle! So sind wir Amerikaner, jedenfalls jene nach Trump, diesem – how do you call someone like him? – Trampel!“

Nun tobte der beinahe der ganze Saal, der Russinnenblock war hin und weg, und selbst von den Burschenschaftlern ohne Eintrittskarte, die kurz zuvor der Fahrstuhl im 4. Stock ausgespuckt hatte, stand einer auf und zog verschämt eine ganz kleine Fahne mit Stars and Stripes aus seinem Wams.

„Call me Nils, if you like! Vorab scheint mir übrigens eine Warnung angebracht angesichts von Zarathustras Wort: ‚[E]in zahnloser Mund hat nicht mehr das Recht zu jeder Wahrheit.‘“

Irritiertes Schweigen im Russinnenblock. Auch Paul wusste nicht, wohin die Reise ging, wohl aber: dass dieser Einstieg Populismus pur war! Aber mit Nietzsche allenfalls am Rande etwas zu tun hatte. Oder?

„Nein, nicht was Sie jetzt denken, lovely girls from Russia, die ihr aufmerksam meine Zahnreihen studiert. Und erleichtert befindet, dieser Aphorismus sei a-thematisch, von mir also sei noch die Wahrheit zu erwarten.“

Zustimmendes Lächeln im Russinenblock. „Was für Zähne!“, seufzte Natascha hingebungsvoll und so, dass es fast alle hörten.

„Einverstanden. Nur eines möchte ich noch ergänzen, lovely girl from Russia: Nicht die Vokabel ‚zahnlos‘ ist in jenem Satz Zarathustras das zweite Hauptwort neben ‚Wahrheit‘. Sondern es geht um dasjenige, was sich hinter der Zahnlosigkeit verbirgt: das ‚Altern‘. Denken Sie in diesem Zusammenhang bitte an den, wie ich finde, ausgezeichneten Aphorismus aus Morgenröthe (1881) mit dem Titel: Der Philosoph und das Alter. Nietzsche erörtert hier den senilitätsbedingten Niedergang seines ‚Doktorvaters‘ Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876). Er erörtert also die Frage, ob der ‚alternde Gelehrte‘ allgemein nicht dazu neige, sich „mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe“ zu umstellen – verständlich eigentlich, denn: „[E]r will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiösen. Gleichwohl, so Nietzsche, ist diese Pointe abzulehnen, weil dadurch unerwünschte Nebenwirkungen überhandnehmen. Etwa, wiederum in Nietzsches Worten: Nun ist es vorbei mit seinem [Ritschls] früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fortdenkern, das heisst, ächten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können, — jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenkliche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge.“

Im Russinnenblock guckte man jetzt freundlich interessiert, wusste aber noch immer nicht recht, worauf das Ganze hinauslief. Paul dito.

„Lovely girls from Russia, Ihre Aufgabe für den heutigen Tag ist damit recht gut bestimmt: Melden Sie mir bitte am Ende alle ‚entschlossenen Parteigänger‘ im Auditorium, damit ich weiß, ob auch ich schon als ‚alternder Gelehrte‘ im definierten Sinne zu gelten habe. Ob ich also meiner im Alter offenbar zunehmenden Verehrt-Werden-Sucht die Wissenschaft geopfert habe resp. das, was sie am Laufen hält: die Bereitschaft nämlich, jederzeit Gegner und Todfeind der eigenen Lehre sein zu können, das Bekenntnis also zum Falsifikationismus in all‘ seinen Facetten. Bis hin zum Rat an den wissenschaftlichen Nachwuchs: ‚Nie etwas zurückhalten, was gegen dich gesagt werden kann! Gelobe es dir!‘

Paul stieß Fritz an und signalisierte ihm, Professor Pacific habe sie beide eben geradezu mit Blicken durchbohrt. Andernorts stieg gleichfalls die Unruhe, aber aus anderen Gründen: Man fand es offenbar empörend, dass der Gast aus den USA in Naumburg vor aller Augen russische Spioninnen einwarb – für allein sein Interesse und erkennbar gegen jene der Nietzsche-Gesellschaft e.V.. Entsprechend ahnte man dort, was jetzt kommen würde – und es kam auch, Schlag auf Schlag mal auf dem rechten, mal auf dem linken Monitor:

„[U]nsere Losung: „Mehr Ehrfucht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!“

Lesepause.

„Die Anhänger eines großen Mannes pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu können.“

Lesepause.

„Nirgends ein Gesetz, welches wir nicht nur erkennen, sondern auch über uns erkennen.“

Und schließlich, mit dem Zusatz, dies sei aus der letzten der noch von Nietzsche autorisierten Schriften, aus der Götzen-Dämmerung (1889):

„Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger! Suche Nullen!“  

Dem folgte die Pointe:

„Sehr geehrter Herr Vorsitzender, um dies jetzt einmal klarzustellen: Nietzsche verachtete, erstens, Parteien und Parteigänger sowie, zweitens, Dogmatiker und war, drittens, Anhänger eines jederzeit offen ausgetragenen, ebenso kritischen wie selbstkritischen Streits um das bessere Argument. Der Verzicht darauf galt ihm als Vorzeichen von Senilität, heutzutage Demenz genannt. Ich darf doch wohl davon ausgehen, dass dies in der Gesellschaft, die seinen Namen trägt, nicht anders gesehen wird, nicht wahr? Dass Sie also und andere ihres Ressorts mitsamt deren Mitglieder ungern als senil gelten wollen, nicht wahr?“

Dies saß, wie der Blick des Großen Vorsitzenden verriet, der schiere Ratlosigkeit bezeugte. Während Paul sich nun fast schon im Fanstadium befand und die Sache mit diesem Nils Pacific ad acta legte. Abgesehen von diesem deftigen Frontalunterrichtsding.

Andererseits: Vorlesung war Vorlesung – Ami war Ami. Also: Bitte weiter im Text!

*****

Indes: So schnell schießen die Amis nicht, jedenfalls die nach Trump. Und so dauerte es etwas, nämlich endlos lange 4:43 Minuten lang, ehe Charles Bronsons Mundharmonika aus Once Upon a Time in the West (1968), in voller Lautstärke abgespielt, verklungen war. Offenbar nur als mahnendes Vorzeichen im Blick auf Kommendes gedacht, denn zunächst, nach jener Peitsche, ging es mit Zuckerbrot weiter: Professor Pacific, fast den Eindruck erweckend, das Wichtigste sei ja nun geklärt, spielte so etwas wie eine Partie fishing for compliments vom Allerfeinsten.

Er sei in Chicago geboren, aber aufgewachsen in den Rocky Mountains.

Über den rechten Bildschirm galoppierte ganz kurz, von links nach rechts, ein wunderbarer wilder Hengst à la Fury durch eine betörend-schöne Bergwelt, unterlegt von John Denvers Country home.

Dieses Land habe ihn hart gemacht, es habe ihn aber auch, der Schönheit der Bergwelt wegen, weich gemacht!

Aus dem Russinnenblock war an dieser Stelle ein leichtes Schluchzen vernehmbar, eine weibliche Stimme rief:

„Nils, take me home!“

Es ging weiter mit dem Satz, dieses Land habe ihn mit Heimweh erfüllt (auf dem rechten Bildschirm sah man Simon & Garfunkel im Central Park, Homeward Bound intonierend). Denn, er könne es nun nicht länger verbergen: Seine Vorfahren stammten aus Deutschland, aus Todtmoos im Schwarzwald (auf dem rechten Bildschirm sah man eine Art Diashow, mit dem Schwarzwald und den Rocky Mountains im Wechsel). Sein Ur-Ur-Großvater habe noch auf den Namen Karl-Heinz Nordsee gelautet. Woraus aber nicht folge, dass jeder Amerikaner mit Vorfahren aus Deutschland in den USA zur blonden Bestie mutieren müsse. Dazu auf dem rechten Bildschirm das von Nietzsche stammende Wort von der blonden Bestie im Strobelight und im Wechsel mit etwas, was sich bei genauerem Zusehen als ein älteres Foto des inzwischen deutlich in die Jahre gekommenen früheren US-Präsidenten Donald Trump erwies.

Und dann, übergangslos:

„Here you can see Kallstadt“ – dazu, via Monitor, eine Postkarte mit der Hauptstraße dieser pfälzischen Gemeinde im Novembernebel.

„Here you can see Todtmoos“ – dazu eine grandiose Sommertotale dieses Kurortes im Südschwarzwald.

Niemand wusste, was das sollte, selbst Paul, sonst so auf Zack, schaute ratlos vor sich hin.

„Here it is where I come from, there: Where Donalds grandfather comes from.“

Der linke Monitor zeigte ein abschreckend wirkendes Schwarz-Weiß-Foto, beschriftet mit Frederick Trump (1869-1918), der dereinst als Goldgräber am Yukon River reich geworden sei wie Dagobert Duck, sein Kumpel vom Claim nebenan. Dazu ein Foto dieses Tycoon aus Entenhausen, im Mix mit dem berühmten Geldspeicher, der plötzlich sich in den Trump Tower verwandelte. An dieser Stelle ging ein anerkennendes Raunen durch den Propagandistenflügel der Nietzsche-Gesellschaft, das sich noch verstärkte angesichts des final wirkenden Satzes:

„Und da fragt ihr noch, wieso diese im Vergleich zum 46. Präsidenten Tom Pacific ziemlich lahme Ente auf den Namen Donald getauft wurde!?“

Einige Schnellmerker begannen zu lachen, mitten hinein ertönte ein knallhartes:

„Stopp! Alles Lüge! Erstens: Dagobert Duck konnte Frederick Trump gar nicht kennen, weil er nur eine Kunstfigur ist, deutlicher: eine Witzfigur.“

Und, damit das Publikum geschickt im Unklaren haltend, wer nun die Kunst- resp. Witzfigur war:

„Zweitens: Der wirkliche Frederick Trump ist Schwede und kommt gar nicht aus dem pfälzischen Kallstadt, sondern aus dem schwedischen Karlsstad.“

Dazu ein Foto des Rathauses dieser 70.000 Seelengemeinde, am Stora Torget gelegen, dem größten Platz Schwedens. Dann, wieder übergangslos:

„Stopp! Wieder eine Lüge, die dritte, diesmal von Frederick Trump Jr. (1905-1999), Donald Trumps Vater. Der nach 1945 unter Verweis auf seine angeblich schwedische Herkunft seine tatsächlich deutsche Herkunft vergessen machen wollte. Aus Geschäftskalkül. Und sein Sohn hielt an dieser Lüge jahrelang fest, aus Geschäftskalkül! Bis ihm auffiel, dass sich die deutsche Herkunft doch durchaus als Trumpf geltend machen könne angesichts solcher Deutscher wie diesem Nietzsche. Mit seinem coolen Spruch: ‚What doesn‘t kill me makes me stranger!‘“

Paul stieß Fritz an: „Müsste es nicht ‚stronger‘ heißen statt ‚stranger‘?“

Professor Pacific, als habe er dies gehört:

„Okay, das war jetzt Nietzsche à la Batman. Was ich meinte, war Nietzsche à la Trump. Und dessen Kumpel, den Rapper Kanye West.“

Dazu eine kurze Einspielung von dessen Rap-Hit Stronger.

„Um die desaströsen Folgen dieses verzerrenden Nietzschebildes beim ‚normalen‘ US-Bürger wusste offenbar schon Zarathustra: ‚Was kann ich dafür, dass die Macht gerne auf krummen Beinen wandelt?‘

Wieder stieß Paul Fritz an: „Dieses Zitat ist mir bisher gar nicht aufgefallen. Und es einfach so in diesen Kontext rücken – na, ich weiß ja nicht?!“ Fritz zuckte ratlos mit den Schultern, Professor Pacific machte weiter:

„Nach diesen vielen Lügen endlich einmal eine Wahrheit: ‚Donald, we will tear your wall down!‘ Ich bin ein Mexikaner!“

Im Auditorium horchte man auf, verstand hier und da sogar sowohl die Reagan- als auch die Kennedyanspielung. Parallel wurde via Monitor ein Foto des zwischen 2019 und 2021 erbauten Grenzzauns via Mexiko eingeblendet, im Wechsel mit einem der Berliner Mauer. Ganz kurz erklang Pink Floyds The wall.

Und, als brauche das Publikum nicht etwas Zeit, um all diese Anspielungen zu verdauen:

„Übrigens, wussten sie eigentlich, dass schon Nietzsche sich über Donald Trumps Physiognomie geäußert hat?“ Dazu auf dem rechten Monitor, ausgewiesen als Satz Nietzsches: ‚Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.‘“

Paul sah, in die allgemeine Unruhe hinein, Fritz fragend an. Aber auch diesem war nicht erinnerlich, wo Nietzsche das gesagt haben sollte. Hatten Sie möglicherweise bei den Falschen studiert? Damals, in Greifswald.

Professor Pacific wurde plötzlich bitter ernst:

„Nie wollen wir vergessen, dass wir Amerikaner anfangs der Instrumente entbehrten, uns rechtzeitig eines unerzogenen Sexisten und Rassisten zu entledigen, der tatsächlich viel Schlimmeres in sich barg: Donald Trump war schlicht und einfach ein Psychopath! Ein Psychopath wie Putin, der die Welt 2022/23 ganz nah an den atomaren Abgrund geführt hat. Ich rufe in diesen Saal hinein: Nie wieder Trump! Nie wieder Putin! God bless America!“

Es war still geworden zum Klang der auf einmal eingespielten US-Nationalhymne. Nur aus dem Block der Burschenschaftler waren vereinzelt Buhrufe zu vernehmen. Aber einige hatten doch tatsächlich, Professor Emden vor allen anderen, den Mut gefunden aufzustehen und ihre rechte Hand, Professor Pacifics Vorbild folgend, an ihr Herz zu legen. Nach einer Art Schweigeminute ging es weiter:

„Bedenken Sie in diesem Zusammenhang aber auch Nietzsches Wort: ‚Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.‘ Sagen Sie mir also bitte: Welcher Abgrund in Ihnen hat Sie dem Treiben dieser Irren tatenlos zusehen lassen? Welcher Abgrund in Ihnen hat diesen Irren anfangs gar noch Applaus gespendet? So wie vergleichbaren Irren im eigenen Land? Ich denke nur an Björn Höcke!“

So zu fragen, war ungewöhnlich. Professor Pacific, weiter:

„Bedenken Sie bitte weiter, lieber Vorsitzender, was ihr nach Meinung von Hans Ulrich Gumprecht ‚deutscher Meister aus dem späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert‘, Peter Sloterdijk, zu diesem Themenkomplex beizutragen hatte: ‚Wer sich von der Überheblichkeit verlocken läßt, wer sich in seiner dicken Haut, in seiner Eigenmächtigkeit, in seiner phallischen Frechheit allzu sicher fühlt, der beschwört Unheil auf sein Haupt herab.‘ So Sloterdijk 2011, zugestandenermaßen: Jahre vor Trump, Jahre auch vor Trumps tragischem Ende.‘“

Einige Jüngere im Saal strahlten, weil Professor Pacific in Sachen Sloterdijk nicht vor dem Attribut ‚deutscher Meisterdenker‘ zurückgeschreckt war.

„Die Vereinigten Staaten haben aus dem Trump-Schock gelernt und schließlich nach Biden einen weiteren Demokraten gewählt, meinen Bruder Tom Pacific. Was aber tat Deutschland im September 2025?“

Kunstpause. Paul und Fritz starrten sich an: Tatsächlich, der Nachname hätte sie längst doch schon vermuten lassen müssen, dass…

„Und was tut es im Moment, also 2029!? Minister Professor Marc Jongen erzählte mir beispielsweise bei unserem Vorgespräch voller Stolz, dass in Greifswald eine neue, Volkspartei-kompatible Nietzsche-Edition (= VkNE) erstellt werde.“

Die Aufmerksamkeit im Saal stieg: Hatte dieser Professor einen an der Waffel? Wollte er ihnen etwa den Bären aufbinden, er sei ein Bote aus der Zukunft? Derselbe freilich tat so, als merke er nichts und berichtete weiter von seinem Gespräch mit Jongen:

„Werter Herr Minister, seien Sie beruhigt wie Ihr Vaterland: Niemand steht Ihrem Projekt VkNE entgegen, jedenfalls niemand aus dem Lager der postmodernen Nietzscheforschung. Denn man weiß dort schlicht nicht mehr, was Wahrheit ist und wie man sich ihr anzunähern vermag sowie die Lügenbarone des kontrafaktischen Zeitalters à la Donald Trump aufhalten kann. Der Vorteil für Sie, Herr Minister: Sie können unbeschwert lügen und Ihre Mitarbeiter lügen lassen, auch über Nietzsche! Aber vergessen Sie dabei bloß nicht die Gefahr, die von den wenigen anderen, nicht postmodern Verseuchten droht! Will sagen: ‚Beware of Nils & Tom Pacific!‘ Und: Habt acht, Marc Jongen, vor der New School der Nietzscheforschung! Sie hat nichts gemein mit der Oldschool Society!“

Kunstpause.

„Nicht zusammenzucken vor Freude, liebe Identitäre hier im Saal: Ich meine mit diesem Ausdruck nichts weiter als jene meiner Freunde aus der Nietzscheszene der USA, die noch lesen, denken, folgern und verstehen können – und wollen! Und dazu gehören nachweislich nicht jene, an die einige von Ihnen jetzt möglicherweise gedacht haben und die unter dem Kürzel ‚OSS‘ in die Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland eingegangen ist und die auf Wikipedia ein eher peinliches Dasein fristet, als dümmste neonazistische und antisemitische Terrororganisation ever, verboten vor fast genau vierzehn Jahren.“

Vom Vorsitzenden ausgehend brach sich jetzt Erleichterung Bahn. Gottseidank, uns, die Nietzschegesellschaft e.V., hat er nicht gemeint mit Old School. Aber Professor Pacific war mit allen Wassern gewaschen und rief unvermittelt aus:

„Schluss mit traurig! Hier kommt Karl Marx… sorry, nicht erschrecken, war nur ein joke: Hier kommt Karl May – unter der headline: Niemand hat sich bisher ein treffendes Bild vom Übermenschen machen können oder wollen. Wäre das Folgende eine Option?“

Dazu das berühmte Foto von Putin mit nacktem Oberkörper, auf einem Pferd sitzend.

Währenddessen halblauter Streit des Referenten mit seinem Techniker, der offenbar das falsche Bild angeklickt hatte, ehe schließlich Pierre Brice als Winnetou aus Winnetou II in seiner ganzen bronzefarbenen Schönheit[10] anstelle von Putin zu erkennen war.

Fritz pfiff lautlos durch die Zähne, mit Respekt für diesen inszenierten Streit. Paul indes, dieser bronzefarbene Schönling, sah sich ganz in Bann gezogen durch dieses Foto. Wenngleich: Nietzsches Übermensch = ein Apatschenhäuptling? Dies schien ihm nun doch etwas weit hergeholt.

„Die schönsten Worte zur Beschreibung des Übermenschen“, so ging es derweil von vorn unbeirrt weiter, „fand der größte deutsche Dichter: ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.‘ Vergesst, liebe Freunde den Aberglauben, Nietzsche hätte beim Übermenschen an Napoleon oder Cesare Borgia gedacht. Beides Syphilitiker, by the way.“

Dazu Porträts von beiden, schrecklich anzuschauen.

Aus dem Fahrstuhl trat jetzt, drohend, eine muskalbepackte Glatze. Nils Pacific reagierte sofort:

„Was ist, junger Freund, der Sie mir – I’m sorry about that joke! – ein wenig so aussehen, als vermissten Sie ein Telefonbuch, um es mir über den Schädel zu ziehen! Empört Sie, dass ich Ihnen damit indirekt das Übermenschliche abspreche?“

Die Glatze wusste nicht weiter – und sah sich hilflos nach Unterstützung um. Was auch Professor Pacific mitbekommen zu haben schien, denn er fuhr fort mit:

„Was ist, liebe junge Freunde aus dem Sieferle-Leserkreis: Keiner da, der dem Kameraden mit der fehlenden Frisur helfen will? Und sei es mit einer Stegreifrede in erzieherischer Absicht? Im Rückblick etwa auf den deutschen Historiker Rolf Peter Sieferle (1949-2016). Der in Finis Germania (2017) völkisches Geraune dritten bis vierten Aufgusses bot, garniert mit ‚Auschwitzchen‘ unterster Schublade. Etwa dem, die Auschwitz-Opfer, ‚die ominösen sechs Millionen‘, stünden für einen Rekord – und fortgesetzt mit: ‚Aber Vorsicht, Rekorde sind dazu da, gebrochen zu werden.‘

An dieser Stelle erklang ein leicht unterdrücktes Prusten aus Fahrstuhlnähe.

„Was ist das, ja, Sie mit der Glatze, der Sie mir fast den Eindruck macht, Ihnen habe einer von der Antifa soeben ein Telefonbuch über den Schädel gezogen! Sie wagen zu lachen! Ihnen kann geholfen werden!“

Und ehe auch nur der erste Protest anheben konnte, wurden beide Monitore geflutet mit unerträglichen Fotos der Leichenberge rund um die Verbrennungsöfen in Ausschwitz gleich nach der Befreiung. Die Wirkung war beachtlich – und hemmte wie von Zauberhand den hier und da aufkommenden Protest wegen Pacifics krasser Kritik an Sieferle. Also konnte der Gast aus den Staaten ungestört fortfahren. Während sich aus den allmählich ausgeblendeten Leichenbergen sich das Buchcover von Sieferles Besteller heraushob, im Wechsel mit jenem des Sarrazin-Bestsellers Deutschland schafft sich ab:

„Ja, junge Freunde, ihr habt schon richtig kombiniert: Deutschland schafft sich ab – es sei denn, es schaffe vorher die Juden und alle anderen ‚Fremdrassigen‘ ab, nicht wahr? Dies ist letztlich das Credo des perversen Witzemachers Sieferle. Angetrieben wird er in Finis Germania von der Idee, Nietzsches Wort von der Herde resp. Schafherde müsse man heutzutage wohl eher durch die Diagnose: deutsches Volk = Hühnervolk ersetzen. Ha! Ha! Ha!, Herr Koenen, aber auch Herr Glatze, nicht wahr? Obgleich: Auch dieses Lachen hätte ihnen beiden, dem Marxisten und dem Anti-Marxisten, eigentlich im Hals stecken bleiben müssen! Denn bedenken Sie doch Sieferles Therapeutikum: Nach der Prämisse: Der Antifaschismus ist in starkem Maße Antigermanismus offeriert er die Folgerungskette: Ergo führt Anti-Antifaschismus zu Pro-Germanismus. Und aus Letzterem folgt, in the long run und die Volkserziehung herzhaft angepackt: Das pro-germanische deutsche Volk = das Übervolk!“

Im Saal herrschte so etwas wie eine raschelnde resp. flüsternde Aufmerksamkeit. Also machte Professor Pacific einfach weiter:

 „Nun ja, auf jeden Fall ist Sieferle weit cooler als Nietzsche, der es nicht zur Vision eines Übervolks gebracht hat, sondern ‚nur‘ zur Vision eines Übermenschen. Und zwar in der Absicht, den Einzelnen wieder zur Geltung zu bringen in der Herde.“

Im Saal herrschte Ruhe, man musste diese ganzen Anspielungen erst einmal verdauen. Zumal – Übervolk hin, Übervolk her: Was hatte das Ganze denn eigentlich mit dem Thema zu tun, das Professor Pacific unmittelbar vor diesem Intermezzo ins Zentrum gerückt hatte? Was also war mit Nietzsches Übermensch?

In diesem Moment dröhnte es vom Podium her:

„Nach dem Vorgetragenen müsste es eigentlich klar sein: Allüberall in Europa drohte zu Nietzches Zeiten der Einzelne in der Herde zu verschwinden! Abgesehen von jenen, die sich der Gefahr inne geworden waren und sich, als zu sich gekommenes, nicht-entfremdetes Subjekt zur Geltung zu bringen wussten! Nietzsche nannte diesen seine Entfremdung Überwindenden den ‚gute Europäer‘. Er allein ist also der Übermensch, nichts außerdem. Schon gar nicht der präfaschistische ‚Vaterländler‘ oder gar Hitler. Auch nicht Björn Höcke oder something like that. Wissen Sie eigentlich um Nietzsches Satz: „‘Wer das fremde Blut haßt oder verachtet, ist noch kein Individuum, sondern eine Art menschliches Protoplasma.‘ Die Frage ist nicht, ob dieses Zitat von Nietzsche ist. Natürlich ist es das!  Die Frage ist, warum es Ihnen allen hier im Saal ganz offenkundig fremd vorkommt?! Oder, noch schlimmer: Wie eine Fake News!?“

Kunstpause.

„I will tell you why, unter Berufung auf einen deutschen Nietzscheforscher. Ein US-Amerikaner, etwa Robert C. Holub, stand dafür leider nicht zur Verfügung: Ihr, liebe Freundinnen von Elisabeth Förster-Nietzsche (als gewichtige Forscherin in einer Männerwelt, nicht wahr?), kennt dieses Zitat nicht, weil Nietzsches ‚nazi sister‘ Sätze wie diesen unterschlug – ebenso wie den folgenden aus einer auf ‚Herbst 1885-Herbst 1886’ datierten vorbereitenden Aufzeichnung Nietzsches für das Fünfte Buch von Die fröhliche Wissenschaft, damals noch für das Kapitel Warum wir antinational sind gedacht. Bitte, lesen Sie die Folie mit, es geht, wie mir scheinen will, um Ihrer aller Gegenwart.“

Auf dem rechten Monitor leuchtete der Satz Nietzsches auf:

„[N]ational zu sein, in dem Sinne und Grade, wie es jetzt von der öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an uns geistigeren Menschen, wie mir scheint, nicht nur eine Abgeschmacktheit: sondern eine Unredlichkeit sein, eine willkürliche Betäubung unseres besseren Wissen und Gewissens.“

Professor Pacific gab seinem aus den USA mitgebrachten Assistenten das Zeichen, die nächste Folie aufzulegen. Auf ihr stand:

„[W]er über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl des ‚Vaterlandes’, der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft, – Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe – der würde zum Heuchler, wenn er den ‚Patrioten’ spielen wollte. Es ist eine Niederung von Mensch und Seele, welche den nationalen Haß bei sich aushält (oder gar bewundert und verherrlicht).“

Professor Pacific erläuterte hierzu seelenruhig – als registriere er nicht die anhebende Unruhe insbesondere im Block der Identitären Bewegung –, dies sei also der eigentliche Hintergrund für Nietzsches von seiner Schwester gleichfalls unterschlagenen Maxime: „mit keinem Menschen umgehn, der an dem verlognen Rassen-Schwindel Antheil hat.“

„Mit keinem meint: Nicht mit einem!“, betonte Professor Pacific scharf.

Eine gefährliche Stille senkte sich auf den Saal, zumal die dazu gezeigte Collage – Hitler triumphierend über die Leichenberge der Shoa dahinfliegend – kaum zum Aushalten war. Ein Burschenschaftler erhob sich, als wolle er…

******

In genau diesem Moment wurde der Saal komplett verdunkelt, und aus den Lautsprechern erklangen die ersten Takte von Strauss‘ Also sprach Zarathustra. Dann wurde es ebenso unversehens wieder taghell, und wie aus dem Off kam ein metallisches: „Apropos Hitler, apropos Fliegen: ‚Fasten your seatbelts!‘, Ladies and Gentlemen!“

Fritz und Paul sowie den meisten im Saal wurde schlagartig klar: Der Vortrag hatte noch gar nicht begonnen! Jetzt erst würde es losgehen!

„Sensationell!“, nuschelte Fritz entgeistert in seinen Walrossbart.

Professor Pacific tat plötzlich so, als sei er eine Art Stewardess: Niemand dürfe während des Vortrags den Raum verlassen oder eine Frage stellen! Namen von noch Lebenden würden im Vortrag nicht genannt und seien auch nicht erforderlich, denn er argumentiere grundsätzlich ad rem, nicht ad personam. Außerdem hasse er die Polemik, er verabscheue das Schwert, habe aber gegen einen chirurgisch präzisen Schnitt nichts einzuwenden, auch nichts gegen das Unschädlichmachen der Unsinnsstifter – insbesondere der one and only. Auf dem rechten Monitor blinkte dazu als Zitat auf:

„Ich denke jetzt über Schwestern ungefähr so, wie Schopenhauer dachte, – sie sind überflüssig, sie stiften Unsinn.“

„Ist das wirklich von Nietzsche?“, flüsterte Fritz fragend, erntete aber nur ein überlegenes Grinsen von Paul sowie den sarkastischen Tadel: „Wie entzückend unwissend Du bist, mein liebster Fritz! Wohl zu viel Kerstin Decker (Die Schwester. Berlin 2016) gelesen?“

Im gleichen Moment forderte Professor Pacific unser aller Aufmerksamkeit, gab er doch erneut den Boten aus dem Jahr 2029. Denn auf dem linken Monitor flackerte die Frage auf: „Warum hat es die Friedrich-Nietzsche-Universität Greifswald zugelassen, dass das Institut für Philosophie sich umbenannte in Elisabeth-Förster-Nietzsche-Institut?“

Kunstpause.

„Antworten habe ich Ihnen allen ja verboten. Also machen Fragen keinen Sinn, nur Tatsachen. Und hier ist es eine nicht zu bestreitende Tatsache, dass das zu Zeiten Professor Stegmaiers in Greifswald heiliggesprochene und von Ihnen, Herr Staatssekretär, im Zuge Ihrer kurzen Begrüßungsansprache zur Prüfung ausgeschriebene Zitat“ – hell leuchtete auf dem Bildschirm der Satz Nietzsches auf:

Das Eine bin ich – das andere sind meine Schriften!

– „ohne jede Bedeutung ist. Nietzsche hat dies zu einer Zeit niedergeschrieben“ – hell leuchtete auf dem Bildschirm die Zahl 1888 auf –, „als er keinerlei Aufklärung über sich wünschte und am liebsten den Satz hätte ungeschehen hätte machen wollen zugunsten des folgenden.“

Auf dem Monitor konnte man nun lesen:

Warten wir 100 Jahre ab: vielleicht gibt es bis dahin irgendein Genie von Menschenkenner, das Herrn F.N. ausgräbt.

Übergangslos fragte Pacific, sich direkt an den Doktorandenflügel wendend, wo manch einer so schaute, als habe gerade jemand ihnen den Giftschrank geöffnet:

„Was zeigt uns dieser Satz?“

Nach einer kurzen Kunstpause, während derer sich fast jeder der Doktoranden der Frage zuwandte, ob er angesichts der Frage- und Redeverbots überhaupt antworten dürfe:

„Ich will es Ihnen sagen: Nietzsche konnte nicht rechnen!“

Und fünf Sekunden darauf, ein eher aus Verunsicherung denn aus Scharfsinn geborenes leises Lachen erst im Keim erstickend, dann aber es erst recht befreiend:

„Er hat den Satz 1885 ausgesprochen. Hundert Jahre später lag ich aber noch in den Windeln meiner mir anerzogenen frommen Denkungsart.“

Im Publikum lachte noch ein Zweiter, als Belohnung für dieses schöne Bild.

„Immerhin: Heute bin ich hier, mitten unter ihnen, in dieser so schönen Bananenrepublik Deutschland‘.“

Fußscharren vom Vize des Vorsitzenden wegen dieser völlig unmöglichen Vokabel.

„Lassen Sie uns also gemeinsam Nietzsche ausgraben. Was ist dran an diesem Fossil, wo stinkt es – und wo wachsen zarte grüne Pflänzchen.“

Wieder wollte jemand von den Burschenschaftlern dazwischen gehen – aber erneut war Pacific schneller:

„Lassen Sie ihren Colt im Holster, junger Mann, ich weiß, was Sie sagen wollen: ‚Mit grün und den Grünen hat es sich in Deutschland, und zwar hoffentlich für immer!‘. Sowie, im seriösen Teil Ihres Fragebeitrags: ‚Hätte Nietzsche also, Professor Pacific, würde er heute noch leben, den meisten der heutigen Nietzscheforscher – außer den wenigen Psychologen unter ihnen – längst schon ihre Lizenz entzogen?‘ Nicht wahr, das war es doch, was sie fragen wollten?“

Der so Angesprochene senkte sich zufrieden in seinen Stuhl zurück.

„Dann erlauben Sie mir, dass ich kurz antworte, ad 1: Nein! Nein!“

Das Gemurmel schwoll an, zumal niemand genau wusste, was ‚ad 1‘ nochmal war. Professor Pacific erkannte diese Not und schob erläuternd nach:

„Die Klimaveränderung ist nicht aus der Welt, nur weil man sich, wie ein kleines Kind bei Gefahr, die Augen zuhält. Die USA haben teuer bezahlen müssen für diese Dummheit der Trumpianer!“

Dann, weitaus schärfer:

„Heute ist nicht alle Tage. Die Grünen kommen wieder, keine Frage!“

Im aus zwei Leutchen bestehenden Sieferle-Leserkreis brach heftige Unruhe aus. Man musste sehr wohl noch, worauf Professor Pacific mit der Paulchen-Panther-Anspielung hinauswollte: auf die, im Parteijargon, ‚Dönermorde‘ aus den Nuller Jahren. Pacific aber, der offenbar um alles wusste und um alle, mahnte nur mit der Hand – und erstaunlicherweise trat sofort Ruhe ein:

„Nun, mein junger Freund, zu ad 2: Uninteressant! Nietzsche ist tot, also erübrigt sich die Frage, ob und wem von den Nietzscheforschern er die Lizenz entzogen hätte oder entziehen würde. Anders sähe es aus, wenn Nietzsche lebte. Aber dies, sei es nun wünschenswert oder nicht, erübrigt sich wohl als Konstrukt, allem Willen zur Macht Nietzsches zum Trotz!“

Kunstpause.

„Seit gut sechzig Jahren, seit Joachim Köhler, ist der biographische Ansatz in der Nietzscheforschung so gut wie tot. Nur: Warum eigentlich?“

Kunstpause.

„Und dies, wo wir Nietzscheforscher doch wissen müssten, dass wir ohne diesen Ansatz nicht wirklich weiterkommen in Sachen der Hintergründe dieses komplexen Denkers. Der ja schließlich nicht von ungefähr Zarathustra skandieren ließ: ‚Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.‘“

Diesmal war dem Referenten ein entspanntes Lachen aus dem Russinnenblock gewiss – vor allem wohl von jenen, die sich schon auf dem Rücken liegend von diesem Kriegsmann der Erkenntnis um ihr tiefstes Geheimnis gebracht wähnten. Fritz hingegen schaute missmutig in Richtung Paul – beiden schien dieser Argumentationsschritt etwas billig, im Gegensatz zu der Pointe:

„Die Welt ist übervoll von Kriegsmännern. Nur: Wer von ihnen jagt schon nach Erkenntnis? Und dies, wo überall auf der Welt heftig gelogen wird, in der Türkei, in Polen, in Ungarn, in Deutschland, in Russland. In den USA unter Trump wurde das Lügen nicht nur salonfähig – es wurde zum Staatsprogramm erhoben und im Staatsinteresse allen abverlangt, selbst den Kleinsten. Nur nicht hier und jetzt in diesem Saal wird gelogen – oder?“

Da Professor Pacific an dieser Stelle leicht verschmitzt grinste – wie man zugleich auch auf dem Bildschirm in Nahaufnahme erkennen konnte –, war ihm ein Lacher gewiss wegen dieser Selbstironie. Dass es ihm ernst war, offenbarte die Folie:

„Im Menschen kommt die[…] Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.‘“

Professor Pacific gewährte eine gewisse Lesepause. D

*******

Dann aber kam donnernd:

„Ladies and Gentlemen, sie sind so still geworden!? Sie wissen, dass Nietzsche hier Sie beschreibt, nicht wahr? Sie ahnen, dass Nietzsche hier das Leben unter den Gesetzen einer Diktatur beschreibt, und sei es denen einer wissenschaftlichen Gesellschaft, nicht wahr? Und Sie hoffen, dass Ihnen Nietzsche einen Ausweg weist, diesem Dilemma zu entgehen und zur Wahrheit und Wahrheitsfähigkeit zurückzufinden – oder etwa nicht?“

Dazu wurde eine Reihe einschlägiger Nietzscheworte eingeblendet, die wie Keulenhiebe wirkten, darunter das mittenzentrierte, auf beiden Monitoren nachlesbare, in einen Imperativ verwandelte Wort:

Frei von dem Glück der Knechte,
erlöst von Göttern und Anbetungen,
furchtlos und fürchterlich,
gross und einsam:
so ist der Wille des Wahrhaftigen!

Dazu Professor Pacific: „Wollt ihr a) den totalen Knecht – oder b) den Einmaligen, den Wahrhaftigen. Falls a), bleibt hier. Falls b): Folgt mir – und damit Nietzsche!“

In diesem Moment leuchtete auf dem rechten Bildschirm der Satz aus einem Kurzgutachten auf: „Pour cet article, mon avis est évidemment négatif.” Alles schwieg. Niemand wusste, was das sollte, kaum jemand, was das hieß. Professor Pacific, hinzufügend, dies sei kein Argument, sondern ein Dekret, half:

„Dies ist nicht französisch!“

Die meisten lachten, verunsichert. Aus den Boxen erklang mit Pomp die Marseillaise. Auf dem rechten Monitor war die häufig Voltaire zugeschriebene Äußerung zu sehen, und zwar nur auf Deutsch: „Ich stimme mit keinem Deiner Worte überein – aber ich werde Dein Recht, sie auszusprechen, bis zu meinem Lebensende verteidigen!“ Dazu wieder der wohlbekannte, aber nun um ein Wort verkürzte Kommentar:

„Dies ist französisch!“

Auf dem linken Bildschirm leuchtete das Bild einer Baskenmütze auf, das Titelfoto von Émile Zolas legendärem offenen Brief J‘ Accuse!, Abbildungen von Voltaire sowie Edith Piaf, schließlich die Worte: Liberté! Égalité! Fraternité! Dazu Pacific:

„Französisch!“

Sowie, zum rechten Bildschirm hin gesprochen, auf dem jetzt Marine Le Pen zu sehen war im Wechsel mit schockierenden Aufnahmen dahinvegetierender Nordafrikaner in Calais, das Ganze überblendet von dem anfangs gegebenen Zitat aus dem Kurzgutachten:

„Nicht französisch! Oder, um nicht rassistisch missverstanden zu werden: Nicht-Nietzscheanisch! Anti-Nietzscheanisch!“

Den ersten dämmerte, worauf Professor Pacific hinauswollte, wenngleich ihnen noch immer unklar war, was es mit dem Zitat auf sich hatte. Dazu der Professor: Er habe diesen Zettel als Votum 16 in einem Schriftstück mit der Bezeichnung „Voten des Wissenschaftlichen Beirats der Nietzsche-Studien und weiterer Fachleute zum Ms. ‚Anti-Nietzsche? Kritik des anti-biographischen Apriori der neueren Nietzscheforschung am Beispiel Werner Stegmaier (und seiner Schule)‘ nach Übernahme der Nietzsche-Studien in einem Ordner gefunden und seinen Augen nicht getraut: So sei noch 2016 mit dem Beitrag einer renommierten Kollegen verfahren worden, der Jahre später Furore gemacht habe, als…

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…das Licht  aus ging. Wie aus dem Off kam es plötzlich im russisch gebrochenen Deutsch:

„Urgent! Verlautbarung Nr. 1 der UZIWVWA: Hallo! Druschba! Sowie allen Christen – nicht wegen der antichristlichen Nietzscheaner, sondern wegen der unchristlichen Anti-Flüchtlingspropaganda der CSU sind es ja nicht mehr so viele – noch einen schönen Tag. Mein Name tut eigentlich nichts zur Sache, nehmen wir an, er sei Vladimir, privat, zu guten alten DDR-Zeiten, auch „Gelobt-sei-was-hart-macht“-Vladimir genannt. (Nur, damit wir uns gleich zu Anfang recht verstehen). Aber Wichtiger ist ohnehin anderes: Diese Veranstaltung wurde von uns, im Rahmen der neurussischen Bestrebungen zur Dementierung der Vokabel ‚Regionalmacht‘ (Barack Obama), übernommen. Der Rechtsgrund: Die – Ihnen vermutlich noch nicht bekannte – „Verordnung über die Neuordnung der russisch-amerikanischen sowie der russisch-deutschen Beziehungen a) wegen des zu erwartenden Impeachment-Verfahrens in Sachen der fehlgreifenden Sexualorientierung von US-Präsident Tom Pacific sowie b) wegen der für Herbst 2029 zu erwartenden dritten Kanzlerschaft von Magdalena Rinklin“,  hier: „Unterverordnung zwecks Ingangsetzung der wirtschaftlichen Vorteile der Wiedereinsetzung des Autoritätenprinzips“ (abgekürzt, jedenfalls die deutsche Sektion: UZIWVWA).

Sie verstehen nur railway station? Okay, ich will Ihnen erklären, was und wie ich’s meine und gebe Ihnen ein Beispiel: Das vor dreizehn Jahren erschienene Buch des US-Amerikaners Robert C. Holub „Nietzsche’s Jewish Problem“ (Princeton University Press 2016), das uns von der UZIWVWA hilft, Nietzsche politisch korrekt einzuordnen, wurde auf dem Rückumschlag von anerkannten Autoritäten als standard work (Richard Wolin) gefeiert und mit Vokabeln wie carefully researched (Martha Helfer), promises to be the definitive account of Nietzsche’s relation to jews (Jonathan M. Hess) sowie a more nuanced picture of Nietzsche‘ sister’s alleged responsibility for the distortion of his ideas (Martin Jay) gefeiert. Wir von der UZIWVWA meinen, dass es in Zukunft reichen sollte, sich bei der Lektüre von Büchern auf die Zurkenntnisgabe derartiger Verlautbarungen zu beschränken. Warum noch das ganze Buch lesen, wenn Autoritäten auf dem Rückumschlag für seine Qualität bürgen!

Und um von diesem Beispiel langsam auf den hier in Rede stehenden Fall zu sprechen zu kommen und die Umkehrprobe anschaulich zu machen: Es ist hier in diesem Saal in den letzten Minuten vom Bruder des US-Präsidenten Werbung für einen alten, zur Zeit von Holubs Buch erstellten Aufsatz gemacht worden, der nach uns vorliegenden und mit unseren Mitteln besorgten Unterlagen bei den Nietzsche-Studien auf – ich zitiere nach unserem Übersetzungsbüro – sixteen (!) negative votes by the fellows of this journal traf, in ihrer Mehrheit stammend (sofern diese sich überhaupt zu diesem Text äußern wollten!) von den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats dieses Periodikums, damals bestehend, unseren Unterlagen zufolge, aus den Professorinnen und Professoren Christa Davis Acampora (USA), Keith Ansell-Pearson (UK), Éric Blondel (Frankreich), Carlo Gentili (Italien), Wolfram Groddeck (Schweiz), Günther Figal (Deutschland), Johann Figl (Österreich), Glenn W. Most (USA u. Italien), Barbara Naumann (Schweiz), Henning Ottmann (Deutschland), John Richardson (USA), Hans Ruin (Schweden), Richard Schacht (USA), Sigridur Thorgeirsdottir (Island), Paul J. M. van Tongeren (Niederlande), Aldo Venturelli (Italien) und Patrick Wotling (Frankreich). Kurz: Mir und jedem Normalbegabten – Professor Pacific gehört offenbar nicht dazu – ist dies eine über jeden Verdacht erhabene Runde von Autoritäten (auf dem Stand des Jahres 2016, selbstredend). Und hören Sie bitte nach den verzerrenden Darlegungen von Professor Pacific deren Urteil (eine persönliche Zuordnung war uns noch nicht möglich, aber wir arbeiten daran) über diesen Text (in Auszügen):

Der Beitrag ist […] über weite Strecken konfus (Gutachten 1). Der Beitrag ist ebenso verständnis- wie stillos (Gutachten 2).

Die Urteilskraft des Autors ist […] durch eine fast fanatische und totalitäre Logik verblendet. Der Tonfall ist eifernd und unangenehm, die ständig auseinanderfallende Syntax spricht fast für eine [Schwärzung, wahrscheinlich weiter mit:] Schizophrenie (Gutachten 3).

Der Beitrag scheint mir durchweg verworren, die Art und Weise, wie selektiv einzelne Fetzen aus Arbeiten verschiedener Autoren herausgepflückt und verworfen werden, dreist und fast lächerlich (Gutachten 4).

Der Text ist in einem schrecklichen Deutsch geschrieben, außerdem viele Tipp-Fehler (Gutachten 7)

Der eifernde Tonfall, Indiz schlechter Polemik, macht, in der Durchmischung mit Jargon und Modephrasen, den Text auch stilistisch ungenießbar (Gutachten 9).

The concluding paragraph seems to me to step over the border (Gutachten 10), etc. pp.

Ich denke, Sie verstehen nun, zumal im Vergleich dieses Falles mit jenem Holubs, die Relevanz der UZIWVWA und die Notwendigkeit der Anwendung des Autoritätenprinzips unserer Organisation mit dem Ergebnis der Schließung dieser Veranstaltung! Für eine gedeihliche Zukunft Europas und der Welt jenseits der Verwirrungen durch verwirrte Intellektuelle! Druschba, Vladimir!“

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Das Licht ging wieder an. Der Referent Professor Pacific stand noch immer auf dem Podium, erstarrt. Der Staatssekretär wirkte konsterniert, verunsichert, wusste nicht, ob das Ganze ein Scherz war oder tatsächlich die Russen vor der Tür standen. Im Block der Sieferle-Leser spielte man erkennbar mit dem Gedanken, Pacific, diesen ‚verwirrten Intellektuellen‘, mindestens jetzt doch, das Mikrofon abzustellen.

Das war aber schon geschehen, kurz: Der Vorsitzende trat am Sonntag, dem 23.10.2022, gegen 14.00 ans Mikro und erklärte den 32. Internationalen Nietzschekongress 2022 für beendet. Er wünsche allen eine gute Heimreise und freue sich auf das nächste Jahr.

Professor Pacific lachte gequält zu diesem Schluss-Scherz, bedankte sich für die Einladung und strebte dem Ausgang zu, mit seinem Assistenten im Schlepptau, dem Christan beim Zusammenpacken der Technik geholfen hatte. Das ‚Begrüßungskomitee‘ nahm Aufstellung, wurde aber nicht mehr benötigt. Der Geschäftsführer machte sich anerbötig, den Professor mit seinem giftgrünen Trabi nach Leipzig zum Flugplatz zu bringen. Der Herr Staatssekretär bedankte sich beim Vorsitzenden der Nietzsche-Gesellschaft e.V. für diese Großzügigkeit und witzelte abschließend, wäre der erkennbar leicht verwirrte US-Professor etwas Höheres, hätte er sich den Job, ihn in seinem Dienstwagen, einem 600er Benz, persönlich nach Leipzig zu kutschieren, selbstredend nicht wegnehmen lassen, aber er, Nils Pacific, sei ja leider ‚nur’ Professor, nicht, wie sein Bruder Tom, (US-) Präsident. Alle lachten und gingen wie beste Freunde auseinander – nach gut drei Stunden Vortrag nicht unverdient auf Entspannung hoffend. Was insbesondere für jüngere Referent*innen und Besucher*innen aus angeblich 24 Ländern der Welt galt, die sich schon freuten auf Ihre lange Rückreise: Ob auf hagalil.com wohl wieder dieser verrückte „Auslandskorrespondent“ zugeschlagen hatte mit einem weiteren lustigen Kongressbericht avant la lettre?  

Er hat!

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin

 

[1] s. www.hagalil.com/2022/10/nietzsches-natur/

[2] s. www.hagalil.com/2022/10/nietzschekongress/

[3] Dass ich ihn am 20.10., 15:30 für Samstag um einen kleinen Büchertisch gebeten und mich im Voraus bedankt hatte, was deutlich machte, dass ich seine fehlende Antwort als Zustimmung deuten musste, interessierte ihn nur peripher, also gar nicht.

[4] Für dieses Zitat verbürge ich mich zur Not unter Eid; das Vorstehende kann durch Fotomaterial beglaubigt werden, u.a. mich zeigend mit einem grünen Bücherkoffer, damit zugleich den bezüglichen Passus aus meinem Kongressbericht avant la lettre vom 21.10., 8.00 als antizipatorisch korrekt herausstellend.

[5] Insofern könnte es sich anbieten, in deren zu erstellender Satzung ein Verfahren zur Motivkontrolle einzubauen, auch, um dem Problem der „Märzgefallenen“ Rechnung zu tragen.

[6] Auch auf die Gefahr hin, hiermit Eulen nach Athen resp. Naumburg zu tragen: Es handelt sich hierbei um Nietzsches über kurze Zeit hinweg erwogenes, hier umgestelltes Pseudonym für sich als Autor seiner ersten Unzeitgemässen Betrachtung, einer Verteidigungsschrift Wagners, für dessen ärmliches Niveau er sich (zu Recht!) schämte.

[7] „Wir sind uns im Klaren, dass der Kongress in Naumburg nicht mit einem Vortrag von Prof. Nils Pacific (USA) – vermutlich nur eine rein fiktive Figur – endete. Gleichwohl präsentieren wir diesen Text hier unverändert, weil es uns in Zeiten wie diesen wichtig dünkt, mit allen Finessen des vormaligen KGB vertraut zu machen. Dies meint zugleich, dass wir nicht ausschließen wollen, Niemeyers Informant „Ungeheuer“ sei ein russischer Agent, der über hinreichend Dynamit verfügt, die Nietzschegesellschaft e.V. in zwei Teile zu sprengen. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf das diesem Text vorangestellte Motto, das auch im Erdgeschoß des Nietzsche-Dokumentationszentrum prangt und „Ungeheuer“ womöglich auf die Idee brachte, sein eigenes subversives Tun entsprechend zu adeln.“

[8] s. www.hagalil.com/2022/10/geheimrede-zu-putin/

[9] Das Folgende stellt eine Variante dar zum entscheidenden Kapitel meines S/F-Romans: 2029: Game over, AFD!, erschienen als Online-Material (= E-book) meines Buch Sozialpädagogik als Sexualpädagogik. Beltz Juventa: Weinheim Basel 2019, alle Zitatnachweise dort. Meine Bitte, hieraus in Naumburg vortragen zu dürfen, wurde durch den Geschäftsführer wieder und wieder abgelehnt. Wie man hier: Man trifft sich immer zweimal.

[10] Diese Charakterisierung darf man wohl als Nachklang lesen zu der durchaus etwas speziellen Lesart des Winnetou-Problems im August/September 2022 durch unseren Spott-Light-Kolumnisten (s. hierzu www.hagalil.com/2022/08/winnetou sowie www.hagalil.com/2022/09/winnetou-2/).