„Nietzsches Natur“ oder: Rechte (müssen) lügen

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Bild oben: Portät Friedrich Nietzsches, 1882; Das zugrunde liegende Original stammt aus einer Serie von 5 Profilfotographien des Naumburger Fotographen Gustav-Adolf Schultze, Anfang September 1882.

Und Linke, die dem Ehrgeiz entsagen, den „Guten“ zurechenbar zu sein, finden, wieder als Kinder, die Wahrheit? Also sprach Nietzsche als seine Erläuterung zum Term „Übermensch“?

Ein Vortrag, leider Monate zu spät, um ihn noch für den Internationalen Nietzschekongress „Nietzsches Naturen“ in Naumburg am 20. bis 23. Oktober 2022 anzumelden

Von Christian Niemeyer

Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge.“
(Nietzsche, 1888/89)

„Ja, so ungefähr!“ Dies hier als Antwort, die nicht mehr in die Überschrift passte. Und die ab jetzt schrittweise verständlich gemacht werden soll. Wobei es sich anbietet, erst einmal den Weg freizuräumen. Ein Beispiel: Nietzsche habe – so erfuhr man noch 2007 aus einer im an sich renommierten Verlag Wilhelm Fink erschienen Dissertation – „zeitlebens“ an der Dekonstruktion der „Idee von Richtigkeit und Wahrheit (auch von Sprache und Literatur)“ gearbeitet. Sowie: Derjenige, der sich gleichwohl der Idee der „Richtigstellung“ (etwa von Nietzschebildern) verpflichte, setze „die gesamte Strategie Nietzsches aufs Spiel.“ (Hofbauer 2007: 12) Um ehrlich zu sein: Ich habe damals herzhaft lachen müssen ob derlei Jungspund-Unsinn. Für mich war dies damals und ist dies bis heute pure, postmoderne Ideologie. Hilfreich, der eigenen wilden Blüte einen Platz an der Sonne zu sichern. Nicht zu vergessen: Geeignet dazu, den eigenen Mangel in Sachen Literaturrecherche und Forschungsstand als „nicht erheblich“ zu bagatellisieren. Gleichwohl: So über Nietzsches Wahrheitsbegriff zu reden, so lässig und nachlässig, war damals durchaus gängig in postmodernen oder anything-goes-Zeiten à la Paul Feyerabend. Damals auch waren Wahrheitsdebatten in philosophischen Einführungsseminaren noch verhältnismäßig unproblematisch zu füllen mit intellektualisierenden Scheindebatten. Etwa über die Frage, ob und wie die Interpretation „Tisch“ mit der Tatsache „Tisch“ koordiniert werden kann. Oder, noch beliebter als pseudointellektuelles, angeblich der Philosophie würdiges Rätsel: Ob der Kreter die Wahrheit sagt oder sagen kann, wenn er zugleich behauptet, alle Kreter würden lügen.

Ein gutes Jahrzehnt später (hierzu auch Niemeyer 2019: 71 ff.) war Schluss mit lustig: Der die Weltöffentlichkeit schockierende Streit um die Zuschauerzahlen bei den Inaugurationsfeiern des damals neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump hob eine akademische Frage auf die Ebene einer womöglich über Krieg und Frieden entscheidenden, stellte klar, dass Fakten durchaus wichtig sind, im Vergleich zu ihrem Gegenteil, den „alternativen Fakten“. Seitdem steht die Frage im Raum, ob bevorzugt Rechte lügen. Jedenfalls haben wir auch und gerade in Europa auf bittere Weise erfahren müssen, dass das hin und wieder schon zuvor in rechtspopulistischen Kreisen gesichtete Gespenst der „Lügenpresse“ ganz offensichtlich nichts weniger beseitigen helfen soll als die freie Presse. Dies als Vorbereitung auf eine Zeit, die diese zu fürchten hätte und deswegen, wie das Beispiel Trump lehrt, vor kaum einer Lüge zurückschreckte. Angesichts dieser Lektion in Sachen „sukzessive Abschaffung der Demokratie von der (Präsidial-) Regierung ausgehend“ scheint es aktuell kein dringlicheres Thema unten den großen philosophischen Fragen zu geben als die Wahrheitsfrage.

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Ein Beispiel gibt der Fall Kabuls im August 2021. Die Bilder aus der Ukraine seit dem Beginn von Putins Krieg dort schockieren, keine Frage. Aber hat noch jemand Kabul auf dem Schirm? Etwa die Bilder vom IS-Terroranschlag vom 26. August 2021 mit über 180 Toten, darunter 13 US-Soldaten – Trumps wie Bidens Tote, wenn man bedenkt, dass Letzterer zu Gunsten seines auf den symbolträchtigen 11. September fixierten Abzugsplans den Taliban-Deal seines Vorgängers vom Februar 2020, die Freilassung des damals seit acht Jahren in Pakistan nicht ohne Grund einsitzenden mutmaßlichen neuen Afghanistan-Präsidenten Mullah Abdul Ghani Baradars betreffend, nicht widerrief – und damit, so Christoph Reuter im Spiegel (Nr. 35/28.8.2021: 74), einen Mann die Bühne in Kabul betreten ließ, der wohl kaum die Manpower haben dürfte, Terroristen wie jenen vom 26. August zu trotzen oder auch nur seinem Vize Sirajuddin Haqqani, der „enge Beziehungen zu al-Quaida“ unterhält und „wohl am ehesten wieder zum Terror der frühen Jahren zurückkehren [würde].“

Vergleichbar schockierend: Die Bilder vom 16. August mit dem startenden US-Militärtransporter trotz sich verzweifelt an ihn klammernder Menschen. Der Riesenvogel habe notlanden müssen. Weil es Fahrwerksprobleme gab, hieß es später, und noch später, kleinlaut: man habe Leichenteile im Fahrwerkschacht gefunden und könne nicht ausschließen, dass einige der Klammernden ins Meer gefallen seien. Und dazu die ganze Zeit über der Dauerrefrain aller Verantwortungsträger, niemand habe den derart raschen Fall Kabuls vorhersehen können. „Niemand“ meint auch den Spiegel. „Steht das jetzt bevor?“, fragten die Spiegel-Redakteure Konstantin von Hammerstein und Klaus Wiegrefe zwei Wochen vor dem „das“, ängstlich sich klammernd an ihr vormaliges Idol Gerhard Schröder. „Ja, das kann passieren“ (SP Nr. 31/31.7.2021, S. 50), antwortete dieser präzise wie ein Schweizer Uhrwerk, um Hammerstein & Wiegrefe ansonsten auf ihren eigenen Kollegen, den einleitend zitierten Christoph Reuter, zurückzuverweisen nach dem Motto: „Lest‘ ihr eigentlich euer eigenes Blatt nicht?“ Clever wie ever, lautet mein Reim als vormaliger FroG (= Friend of Gerhard) hierzu. Eingedenk des Umstandes, dass der Putin- und Currywurst-Versteher Schröder dies, das Lesen dieses Nachrichtenmagazin, wohl schon lange nicht mehr gerne oder konsequent praktiziert. Sonst müsste er sich ja über hin und wieder (s. Reuter) durchaus noch präsente knallharte Spiegel-Recherche, auch und zumal in Sachen seines „lupenreinen Demokraten“, ärgern (etwa spiegel.de v. 27.01.2021) – und also, beispielsweise, über das fernere Schicksal der Nawalny-Vorläufer Paul Klebnikow (1963-2000), Alexander Litwinenko (1962-2006) sowie Timur Kuashev (um 1988-2014) nachdenken, etwa auf Basis des Lexikonteils des allüberall (außer bei Schröders sowie in der AfD) jubelnd willkommen geheißenen (Vorsicht: Scherz!) Schwarzbuchs Neue / Alte Rechte, Glossen, Essays, Lexikon (2021; im Folgenden zit. als: SNAR), Und im glücklichen Fall einräumen, dass Putin hier, im Basta-Deutsch Schröders geredet, als „Boss der Bosse“ agierte, deutlicher: als Chef eines Mörderordens“, mit Konstantin Kudrjawzew (*1980) alias Konstantin Sokolow als einem seiner wohl etwas vertrottelten, jedenfalls von Nawalny am Telefon reingelegten Angestellten. (s. dazu SNAR: 90 ff.)

Soweit gediehen mit meiner mir von meinem Hausarzt Dr. Optimum verordneten kurativen Trauerarbeit à la James Bond, fiel mir Schröders Partei- und Kanzlergenosse Schmidt-Schnauze ein. Wer Visionen habe, müsse zum Arzt gehen, hatte er geraten – was ich, als früherer Juso immer noch ein wenig dienstbeflissen, sofort tat, meinen Hausarzt gegen einen Spezialisten eintauschend. Ängstlich stimmte mich, dass dieser ein wenig aussah wie der unlängst ziemlich ins Gerede gekommene Kinderarzt Michael Winterhoff („Warum unsere Kinder [und mitunter auch unsere Chefredakteure] Tyrannen werden“) und mir doch tatsächlich Pimpameron verordnete, wg. „primären Narzißmus‘“ – eine Fehldiagnose, wie mir schien, litt ich doch, wie gesagt, an Visionen vom Helmut-Schmidt-Typ. So träumte mir beispielsweise, ich sei Adler, hätte, endlich, meinen Horst verlassen und nahe des Dörfchens Seehofer unten auf der Straße einen Karrenbauer entdeckt, der maaß-los vor sich hinmerkelte. Offenkundig kam er mit dem Einsammeln der Leichen nicht zu Rande, die von einem in großer Höhe abdrehenden US-Transporter abfielen. Neben mir stieg mein Freund, der Geier, auf, unschlüssig, ob er gleich nach Kabul oder erst noch nach Berlin, Regierungsviertel, fliegen solle. Ich schlug, kurz vor dem Anschlag in Kabul, Berlin vor wg. der vielen Karteileichen. Okay, ein für einen richtigen Geier nicht wirklich durchdachter Ratschlag. Aber man kann ja nicht alles bedenken oder gar vorhersehen, wie Heiko Maas immer so schön zu sagen pflegte. Etwa – wie mir eine jetzt neben dem Geier auftauchende Ente berichtete – Anfang des Jahres in seiner unnachahmlichen Gustav-Gans-Attitüde im Milliardärsclub in Entenhausen. Wo seine Natalia, sich wie bei einem Klassentreffen fühlend, glänzte mit Witzchen über das Altern wie: „Man verliert vielleicht an Sehkraft, aber man blickt besser durch.“ (zit. n. rtv 34/2021: 3) Dazu, so die Ente, eine schelmische Geste in Richtung ihres Heiko.

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Schluss mit lustig! Anderntags jedenfalls tat mir Maas fast schon leid, als er, so abgehungert wie Nietzsche nach seiner Wagner-Epoche, den Journalist*innen aller Welt Antwort zu geben suchte. Was für ein Kontrast zur feist und selbstgefällig um sich blickenden Kanzlerin, die offenbar über die besseren Einschlafpillen verfügt oder, da aufgewachsen in einer stalinistisch geprägten Lügen-Republik („Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen!“), sich einfach leichter damit tut, auch einmal eine Fünf gerade sein zu lassen (wovon ihre ehemalige Ministerin Giffey profitiert zu haben scheint). So gesehen: Maas‘ pillenfreie Blässe ist vergleichsweise ehrlicher, fast ein Zeichen gebend für den Zustand seiner Berufskolleg*innen aus aller Welt, die seit nine/eleven einfach nichts gebacken kriegen. Als laste die Ur-Lüge der Bush/Blair-Gang, die angeblichen Raketen im Irak betreffend, wie ein düsteres Menetekel auf allen und jedem danach, jedenfalls sofern er oder sie reüssieren sollte oder wollte, sei es (s. Giffey, Schavan, (Lügen-)Baron Guttenberg etc.) auf dem Felde des Erwerbs von Doktortiteln, sei es als Wirtschaftsboss, was wohl die Fälle VW und Bayer Leverkusen hinreichend erklärt. Mein Favorit im Rennen und den Karl-Marx-Preis für anti-kapitalistisches Agieren: Ganz klar Martin Winterkorn, dem man an sich, wg. Dieselgate, auch noch den Preis für Dummheit nachwerfen sollte. Setzen Sie mal in Wolfsburg in der Kneipe einen VWler per „lütte Lage“ dieser Wahrheitsdroge aus – Sie werden aus dem Staunen nicht herauskommen über die nun aufbrechenden Mördergruben am Ende des lallend Vorgetragenen!

Was aber steckt hinter dem kollektiven Versagen unserer Sicherheitsbehörden im Fall NSU oder in den Fällen Amri bis hin zum (fast im doppelten Sinne zu verstehen) Fall Kabuls? Was hinter dem Versagen zumal der Regierenden, angefangen von den Ministerien für Verkehr und Gesundheit bis hin zu den wirklich schweren Fällen, die wir oben schon mit einigen Namen markiert haben? Der, wie hier und das gemutmaßt wird, Deeper State? Oh nein, es ist weit profaner und ablesbar an der kalkulierten Kaltblütigkeit, mit der die vormalige Kanzlerin, als sie es noch nicht war, Bush in Washington versicherte, sie sei anders als Schröder und werde, als Kanzlerin, diesem so uneingeschränkt solidarisch zur Seite stehen wie es jener nur behaupte. Damit war klar: Hier wuchs ein neues Talent auf dem Felde des Machiavellismus nach, das dann allerdings doch ein wenig zuckte, als Trump den Trumpismus als Steigerung des Machiavellismus erfand und fortan heftig wetteiferte mit dem derart zur Nr. 2 degradierten Krim-Sekt-Fan Putin. Nun gab es kein Halten mehr und die Welt versank im Sumpf der Lügen und mit ihr die Sicherheitsbehörden. Wo, wie überall sonst, jeder gegen jeden etwas werden wollte und niemand dem oder der Anderen die Butter auf dem Brot gönnte, also die Infos über die richtig Bösen – so er/sie nicht mit ihm/ihr/es sympathisierte – lieber für sich behielt. So dass auch die eigentliche Klientel in diesem Sumpf der Lügen versank, sprich: nicht durch koordinierte Aktion kontrolliert, sondern durch unkoordinierte Reaktion unterhalb des Radars verunsichert wurde. Zeugnis für Letzteres ein Leserbrief von Otto Hartseil aus Rödern (Rhld.-Pf.)[1] zum Spiegel-Gespräch von Melanie Amann & Martin Knobbe (Nr. 45/2021) mit Horst Seehofer „über sein Leben zwischen Politik und Hobbykeller“, abgedruckt am 20.11.2021 in Nr. 47:

„Ein Minister, den ich so bisher nicht kannte. Ein toll geführtes Interview, das den Menschen Seehofer in einem ganz anderen Licht rüberbrachte.“

Gleich darauf abgedruckt: ein Anti-Rheinland-Pfälzer aus Berlin, wie er in fast jedem zweiten Buche steht:

„Sie inszenieren Horst Seehofer zum Ende seiner 50-jährigen Politikkarriere per Homestory von Bunte-Format als Ikone des Kindischen. Ist Ihnen dabei nicht die Idee gekommen, dass sie Ihrem Modelleisenbahnfreak auf den Leim gehen, der sich via ‚kindisch‘ prächtig aus der Verantwortung stehlen kann? Welche Verantwortung? Nun, vielleicht, um mit dem allerletzten Skandal zu beginnen: für den Fall Kabuls Mitte August und das schändliche Instichlassen der afghanischen Ortskräfte, auch und gerade durch Seehofers Ministerium. Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin / Dresden.“

Ein toller Leserbrief, nicht wahr? Dem allerdings der seit dem Fall Relotius (vgl. SNAR: 71 ff.) so sehr auf Wahrheit erpichte Spiegel die Krone brach, indem er ohne jeden Kommentar dem Originalbrief den Schlusspassus nach „Seehofers Ministerium“ einfach strich. Also das folgende ohne jeden Kommentar wegließ:

„Ein Skandal der Alt-Regierung, über den der mit dem Leserbriefschreiber identische Chefredakteur des wohl kleinsten Print-Magazins Deutschlands dieser Tage meinte: ‚So träumte mir […], ich sei Adler, hätte, endlich, meinen Horst verlassen und nahe des Dörfchens Seehofer unten auf der Straße einen Karrenbauer entdeckt, der maaß-los vor sich hinmerkelte. Offenkundig kam er mit dem Einsammeln der Leichen nicht zu Rande, die von einem in großer Höhe abdrehenden US-Transporter abfielen.‘ (Zeitschrift für Sozialpädagogik 19/2021, H. 4, S. 345) Sie müssen zugeben: ein prächtiges Bild für jeden Modelleisenbahn-Bauer – nur nicht für Horst Seehofer! Quod erat demonstrandum: Das Kindische ist ihm als Verteidigungsstrategie hilfreich – mehr nicht.“

Den Dauerrefrain („Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt […] zu veröffentlichen“) in allen Ehren – aber hier, Euer Unehren, tritt im Kürzungsakt selbst eine hiermit zum ersten Mal zur Sichtbarkeit gebrachte Strategie zutage, die man, mindestens dies doch, mit Nietzsche dahingehend erklären könnte, dass es der Presse[2] „nie an der Wahrheit gelegen ist, sondern immer nur an der im nützlichen Wahrheit“ (I: 422) – und dies ist, wie mir scheinen will, beispielsweise jene des Lesers Otto Hartseil aus Rödern (Rhld.-Pf.). Ein Fall also für die Journalistenfortbildung? In meinen Augen unbedingt. Wenngleich mich der (Vor-) Blick auf vergleichbare Angebote dieser Art[3], eher schon über das Mittel der Zwangsberatung, wie bei angehenden Müttern oder abgehenden Hartz IV-Beziehern, nachdenken lassen sollte.

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Gesetzt, dieser Journalistenschelte käme auch nur geringe Geltung zu, bleibt die Frage: Ist es eigentlich zutreffend, das en passant eingeworfene Wort, wonach die Welt im Sumpf der Lüge versank? Nein, ist es nicht, nicht die Welt versank, sondern nur die Erwachsenen auf ihr. Die nur rettbar scheinen so sie wieder werden wie ihre Kinder – die ihnen, jedenfalls solange sie nicht vollgepumpt werden mit der Unwahrheitsdroge Pimpameron, ihren Eltern ab dem 13. Lebensjahr einheizen dürften, ihnen jede Lüge oder Unredlichkeit unter die Nase reibend. Auch und gerade, so ihre Eltern auf Namen wie Merkel, Maas, Seehofer, Kramp-Karrenbauer oder Giffey getauft sind oder, um wenigstens eine empirisch belegbare Variable zu nennen: auf den Namen Sarrazin. Warum Kinder dies tun? Nun, ganz einfach: Sie sind in diesem Alter, wie schon der (frühe) Reformpädagoge Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) wusste, gemeinhin und gemeinerweise Wahrheitsfanatiker (vgl. Niemeyer 2015: 182 ff.), wollen nichts werden, sie sind einfach, und zwar Seismographen ganz besonderer Güte. Ergo, wieder einmal, diesmal aber mit Wut auf allen Lindner-Käse: Kinder (vom Greta-Typus) an die Macht!? Nicht unbedingt, vielleicht genügt ja, in jedem von uns, den Erwachsenen, das Kindliche wachzurufen und unter Schutz zu stellen, kurz: vielleicht genügt ja, den Verfall zu stoppen, den das Wort „Reife“ mühevoll zu tarnen sucht, um Erwachsen- und Älterwerden zu beschönigen.

Wie man das macht? Nun, vielleicht mittels Erzählweisen, die auch für Kinder passend sind, wie etwa mit Fritz & Lieschen in der Hölle, kurz vor Eintreffen Putins[4] intendiert. Ich weiß: Nicht jedem wird derlei gefallen, sieht er oder sie doch durch den subjektiven Faktor die Seriosität bedroht. Ich sehe es umgekehrt: Es ist die vermeintliche Seriosität und die Verdrängung des subjektiven Faktors, profan und mit Pestalozzi: die Verdrängung des Herzens zugunsten von Kopf und Hand, die für den Fall Kabuls verantwortliche Sprechpuppen wie Angela Merkel erzeugen half. Die wiederum als Zeichen für die eigentliche neuere Bildungskatastrophe gelesen werden dürfen, mit der Folge der mangelnden Aufklärung aller anderen Katastrophen, die im Schatten jener wie Giftpilze wuchern. So betrachtet liegt das Zwischenfazit nahe: Kinder lügen in der Regel nicht, allen gegenteiligen Forschungsergebnissen Erwachsener zum Trotz – es sei denn, sie schauten sich das Lügen bei Erwachsenen ab, etwa als Technik, ‚Böses‘ getan zu haben in Abrede zu stellen. Etwa die Vase von Tante Gertrud in Scherben geschlagen zu haben. Und nicht achtend, dass derlei von mir als Verdienst gewürdigt worden wäre. In Pech gehabt, vergebens gelogen – womit der im Motto angesprochene Grundsatz keineswegs beschädigt wird, so er die Variation erlaubt:

„Die Existenz-Bedingung ‚guter Kinder‘, jedenfalls aus Perspektive der sie beobachtenden Eltern, ist die Lüge.“

Unendlich viele Varianten sind denkbar, angefangen vom dem für mich als mehrfachen Sitzenbleiber sehr nachdrücklich als richtig erfahrenen Satz „Die Existenz-Bedingung ‚guter Schüler‘, jedenfalls aus Perspektive des sie bewertenden Englischlehrers, ist die Lüge, also die vom Lehrer geglaubte Behauptung, der Schüler habe seine Hausaufgaben gemacht, sie allerdings dummerweise vergessen.“ Am Ende von derlei gedanklichen Experimenten können wir dann den Satz Nietzsches zum falsifizierbaren All-Satz aufwerten, das Kind mit Rousseau als von Natur aus gut und nur durch die Erwachsenen verdorben ansehen, um nach weiteren Varianten Ausschau zu halten, die dem Themenspektrum dieses Buches näherliegen.

Nichts leichter als das: Hitler im Sinne des als Motto gewählten Nietzsche-Zitats (aus Ecce homo; VI: 368), als ‚Guten‘ zu lesen, verlangt nicht viel, sondern nur Obacht auf die zahllosen Lügen dieses Braunauers: Ob Hitlers Tricks im Vorfeld des „Polenfeldzugs“, beglaubigt von einem gewissenlosen Ex-Wandervogel in seinem auf Goebbels Auftrag hin verfertigten Grusical Der Tod in Polen (1940) mit einer Erstauflage von 100.000 Exemplaren (vgl. Niemeyer 22022: 160); ob Trumps Nach-Wahl-Putschversuch im Capitol vom Januar 2021 oder Putins Gebaren im Vorfeld seines Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 – Rechte aller Couleur und Ausprägung lügen ähnlich wie vom „Fürst“ Machiavelli zur Zeit der Renaissance zwecks Machterhalt und -ausbau empfohlen. Kaum überraschend also, dass das zentrale Thema auch dieses Buches die Lüge sein wird, eingeschränkter: das gezielte Abweichen zumal neu-rechter Ideologen vom Pfad der Tugend, in organisierter Form zu beachten bei Medien, hier bekannt unter dem historisch verbürgten Term „Lügenpresse“, deutlicher und mit den Worten eines auch im Internet abrufbaren Online-Lexikon des Schwarzbuch Neue / Alte Rechte (im Folgenden SNAR-O)gesprochen:

„In der NS-Zeit durch Goebbels prominent gewordene Vokabel zwecks Kennzeichnung des unlauteren, über Fake News organisierten Journalismus. In neuerer Zeit, auch unter dem Einfluss von Donald Trump, durch Autoren insbesondere des rechtspopulistischen Kopp Verlages, etwa Udo Ulfkotte, in Umlauf gebrachte pejorative Vokabel zur Kennzeichnung insbesondere des Journalismus der Printmedien sowie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens mit einigem Erfolg, wenn man Umfrageergebnisse bedenkt, die, im Mai 2016, 55 % der Befragten urteilen ließen, in den Medien würde „häufig absichtlich die Unwahrheit gesagt.“ (Raden 2016: 162) Ziel der mit dem Vorwurf „L.“ operierenden Kampagne ist der Aufbau eines „Journalismus für alle“ im Nicht-Printbereich, auf den, aller Erfahrung nach, das Kennzeichen „L.“ weit besser zutrifft als für die kritisierten etablierten Medien. Insofern haben wir es bei dieser Vokabel mit kaum mehr als mit einer Nebelkerze zwecks Kaschierung der eigenen Absichten zu tun.“ (SNAR-O: 65)

Dem Wissenschaftler als, dem Ideal nach, Anti-Ideologen par excellence obliegt bei all dem kein anderer Auftrag als der des Beharrens auf der Alternativlosigkeit einer methodologisch gesicherten Wahrheitsannäherung. Wie wichtig dieser Auftrag anstelle postmodernen bis popjournalistischen Geschwätzes über Gott und die Welt oder wenigstens doch Winnetou[5] (s. Kap. 18) ist, offenbaren die ersten zwanzig Jahre dieses neuen Jahrtausends: Kübelweise Lügen haben wir von rechts wie auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus seit nine/eleven präsentiert bekommen, seien es solche über Personen, seien es solche über Sachen, bis hin zu der eigentlich ganz einfach zu beantwortenden Frage, wann denn nun der Zweite Weltkrieg begann. Am 11. Dezember 1941, rechnet der eine neu-rechte Ideologe vor (Stefan Scheil), und der andere, Alexander Gauland, weigert sich, den 8. Mai 1945, also den Tag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus (sowie der Befreiung von KZ-Insassen) zum Feiertag zu erklären (s. SNAR: 371 ff.). Zum trio infernale gerät das Ganze durch Michael Klonovskys

„Vorschlag zur Güte an die Polen: Deutschland zahlt ihre Reparationsforderungen, dafür geben sie uns Schlesien zurück, und dort siedeln wir die ganzen Asylanten um bzw. dorthin um“ (Klonovsky 2020: 348)

 – ein Witz eben jenes Moskauboten, der von dort mit dem „Pionierehrenwort“ zurückkam, Putin plane keinen Überfall auf die Ukraine.

Wie? Sie kennen diese Zitate nicht? Dann, so scheint mir, arbeiten Sie womöglich beim vom Klonovsky-Mitgenossen Hans-Georg Maaßen (*1962) ruinierten Verfassungsschutz, über den das Online-Lexikon des Schwarzbuch Neue/Alte Rechte u.a. mitteilte:

„M. (CDU), bis November 2018 (seit August 2012) Präsident des Bundesverfassungsschutzes (BfV), dann nach einigem Zögern entlassen wg. seiner Verharmlosung der von ihm als solche in Abrede gestellter „Hetzjagden“ rechtextremer Demonstranten auf Ausländer in Chemnitz, die in der Gründung der Revolution Chemnitz ihren Höhepunkt fand. Danach avancierte M., Mitglied der WerteUnion, als Idol des rechten Randes der (ostdeutschen) CDU. Auffällig geworden ist M. in der Folge mit weiteren Bagatellisierungen. So fiel ihm zum Fememord an seinem Parteikollegen Lübcke der in die Nähe der Billigung führende Satz ein, „dass er diese Tat im Herbst 2015 ‚nachvollziehbarer‘ gefunden hätte.“ (Sp. 35/24.8.2019: 28) Im August 2019 gab M. der Jungen Freiheit ein Interview und damit ein Zeichen, wie nahe er den Kreisen gerückt ist, die zu beobachten ihm eigentlich, wäre er noch immer BfV-Präsident, obläge.“ (SNAR-O: 65)

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Halten wir, als Zwischenergebnis, fest: All‘ dies (gemeint sind die gedanklichen Exzesse von Dwinger, Scheidl, Gauland und Klonovsky) geschah oder geschieht einer dogmatisierten Weltsicht zufolge, der eine Umwertung aller Werte, namentlich des oder der Bösen ins Gute, obliegt. Offenheit, Fairness, Diskurs, kommunikative Vernunft als Zugehörigkeitsausweise in Sachen scientific community – nichts von dem interessiert im rechten Lager, das Zugehörigkeit allein über korrekte Gesinnung (und Haltung) zuweist. Entsprechend zählen allein gesinnungsrelevante Fake News, geht es primär um „ideologische Wahrheiten“ (Adorno), erläutert im SNAR (168 ff.), oder um „nützliche Wahrheiten“ (Nietzsche), erläutert gleichfalls dortselbst (SNAR: 156 ff.). Meint zugleich: Wissenschaft, gedacht als Szenario in einer Welt voller AfDler, geriete notwendig zur Farce (SNAR: 719 ff.), in den Schlussworten einer neueren Publikation zum Thema (Sex, Tod, Hitler) geredet und hier gesondert herausgehoben und am Ende mit einer erzieherischen Botschaft versehen:

„Im NS-Europa, zumal in jenem, das Wladimir Putin sich im Februar 2022 zu gestalten vornahm, wird es keine geistigen Schätze mehr geben, auf denen ein „Volk der Dichter und Denker“, sei es nun slavischen oder „arischen“ Zuschnitts, aufbauen könnte. Entsprechend wird es auch keine Nietzscheforschung mehr geben und von Nietzsche nur noch ein knappes Bändchen mit einfachen Imperativen vom Typ „Werdet hart!“ […] Krankheiten, zumal psychische Krankheiten, hat man, selbstredend auch Putin, nicht mehr – vielmehr werden sie nach Art des realen Jahres 2022 agiert: auf den Kriegsschauplätzen; auf den Straßen, gerne ohne Maske, aber wenigstens geborgen in der Masse hysterisch vor sich Hinschreiender, Nietzsches blonder Bestie und Balzacs sowie Zolas bête humaine freien Auslauf gewährend, aufgehetzt nicht mehr durch Printmedien – wie 1967 der Dutschke-Attentäter durch die Springerpresse –, sondern nach Ende derselben durch social media. Arbeiten wir alle gemeinsam daran, dass es so weit nicht kommt – und sei es durch das Schreiben oder Kaufen von Büchern wie diesem…“ (Niemeyer 2022: 326 f.)

Lehrreich sind in dieser Frage, jener des gewollten und mit dem Ideologem des Antiintellektualismus begründeten Rationalitätsverzichts, auch neu-rechte Positionen zur Corona-Pandemie (SNAR: 43 ff.) sowie die Glosse „Und impfe uns gegen das Böse!“ (SNAR: 712 ff.), die im SNAR-O: 9 ff.) auch als Vorlage einer Hausarbeit von Kevin Wolf dargeboten wird.

Wichtig ist es des Weiteren, die Bestände zu sichern, die als gegenwirkend relevant gelten können. Im SNAR (156 ff.) wurden hierzu einige wissenschaftsethische Grundsätze Nietzsches in Erinnerung gebracht, zentriert um den Imperativ:

„Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!“ (II: 508)

Dies, so schien mir an jener Stelle, sei ein vortreffliches Mittel gegen Marx‘ 11. Feuerbachthese und die Verheerungen, die sie in linken als auch in rechten Köpfen anzurichten vermochte dergestalt, dass man das Verändern der Welt im Sinne der eigenen Ideologie zum Primat erhob, dem sich die Wahrheitserkenntnis zu fügen habe. In meiner am 5. Juli 2021 veröffentlichen Glosse „Natürlich, Christian, der kann das!“[6] habe ich dieses Argument aufgegriffen in meiner fingierten Rolle als Bundeswissenschaftsminister des Jahres 2029. Hier nun geht es darum, den status quo im Wissenschaftsgeschäft insbesondere im Blick auf die unabdingbare Transparenz aller sachbezogenen Entscheidungen exemplarisch zu bestimmen. Also sein ganzes (Wissenschaftler-) Leben über für Fairness und Transparenz zu sorgen und nichts unter den Teppich zu kehren – schon gar nicht Texte, die vielleicht strittig sind, aber über die man ja nur streiten kann, wenn sie auch publik werden.

Am Ende obliegt uns anderen, je in unserem Verantwortungsbereich sicherzustellen, dass Transparenz gegeben ist und Offenheit für den wohl wichtigsten wissenschaftsethischen Grundsatz Nietzsches, dem tragischen Beispiel seines Doktorvaters abgewonnen, dem „alternden Gelehrten“, der dazu neige, sich „mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe“ zu umstellen, summarisch geredet:

„Nun ist es vorbei mit seinem früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fortdenkern, das heisst, ächten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können, — jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenkliche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge.“ (III: 311)

In Übersetzung geredet, bezogen auf das Thema: Der Wissenschaftler sollte im Laufe seiner Karriere besser nicht, so Nietzsche, seiner Zugehörigkeitsintention die Wissenschaft opfern resp. das, was sie am Laufen hält: die Bereitschaft nämlich, jederzeit Gegner und Todfeind der eigenen Lehre sein zu können.

Bleibt die Frage: Wie schafft man das? Und die Antwort, durch das Vorhergehende nahegelegt: In dem man Kind bleibt oder das Kind in sich wieder freilegt und zur Geltung bringt – Nietzsches resp. Zarathustras These, zurückgehend auf jene Stelle des Zarathustra, an welcher Nietzsche, so Eugen Fink, die „Genesis des Übermenschen“ (Fink 1960: 72) erläutert. Was nämlich passiert hier? Nichts, deutlicher: nichts jedenfalls der Art, es gehe um eine neue Art oder um Höherentwicklung oder gar um irgendetwas Transhumanes, Übermensch genannt, etwa à la Stefan Lorenz Sorgner (2019). Die Story mit dem Titel Von den drei Verwandlungen – die erste und wichtigste des (ersten, wenn nicht gar des ganzen) Zarathustra – ist vielmehr, und dies ist ihr großer Vorteil, extrem simpel: Ein Kamel (erste Verwandlung) tritt auf und wird vorgestellt als der „tragsame Geist“, der „gut beladen sein [will]“ (IV: 29) – eine, wie leicht erkennbar, Reminiszenz an Nietzsches Schul- und Studienzeit. Das Kamel fragt, aufgebehrend, ob der Sinn tatsächlich darin liegen könne, „sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden“ (IV: 29) – Nietzsches selbstquälerische Frage auch noch als Student, die ihn notwendig in die Philosophie hineinführte, in der Erwartung, dass seine Seele dort weniger Hunger leide (eine Erwartung, die einige im Raum hier womöglich auch umtreibt oder jedenfalls doch umtrieb). Damit weiter zur nächsten Stufe, wo ein Löwe die erste Geige spielt, indem er brüllend an Nietzsches Imperativ „ich will“ (IV: 30) gemahnt deutlicher: an Nietzsche Inbrunst (aus der Historienschrift von 1874) erinnert, mit welcher er sich als Teil eines „neuen Geschlechts“ beschwor, das sein (moralisches) „So soll es sein“ gegen das (geschichtliche) „So ist es“ (I: 311) zu setzen vermag.

Bleibt die dritte und letzte Stufe – doch was ist das? Ein Kind, dem Löwen folgend? Was soll das? Nun, vermutlich soll ‚das‘ aussprechen, dass der Übermensch nicht mehr bezeichnen soll als den Umstand, dass der Mensch wieder lernen muss, gegen seine Sozialisation, „seines Willen“ wieder zu gewinnen und damit „seine Welt“ – und dabei hilft das auch dem Kind eigene „Spiel des Schaffens“, die „Unschuld“, das „Vergessen“ (IV: 31), ins Allgemeine geredet: Worum es Zarathustra mit dem Übermenschenideal allein ging, ist nicht etwa das Wohl des deutschen Volkes, sondern das Wohl des Einzelnen, welchen Volkes auch immer. Kurz und unter Rückgriff auf die oben eingeführte Terminologie in Sachen Rechts-/Links-Vergleich: Es ging Nietzsche beim Übermenschen allein um so etwas wie den Rückgewinn des Kindlichen als Ressource des, etwas trivial gesprochen, Linksseins. Und dies ausgehend von einer kritischen Lektüre des ernsthaft-vernünftigen Erwachsenen, der in seinen subjektiven Interessen aufgeht und nur durch sein Nützlichkeitsstreben diktiert wird, durch „Verstellung“ deutlicher: Der üblicherweise als entwicklungspsychologische Fortschrittsgeschichte gedeutete Reifeprozess eines jeden einzelnen Menschen (vom Kind hin zum Erwachsenen) muss, Nietzsche zufolge, als Verfallsgeschichte gedeutet werden. Entsprechend hilft nur eine Option, zu erwarten als Effekt von Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen, von Eugen Fink, wie gesagt, gelesen als Parabel auf die ‚Genesis des Übermenschen‘: Alles auf Null zurückstellen, wieder Kind werden, wieder Freude gewinnen am Schaffen und Neuen – und schon ist, um hier Novalis zu variieren, aller geheimer und vergiftender Zauber fort von der Vokabel ‚Übermensch‘, schon gelangen wir alle, zumindest der Tendenz nach, zurück in die Zeit vor unserem höchst persönlichen nine-eleven. Zu dieser Deutung passt übrigens die Fortführung: Und wir lernen wieder auszurufen: Ich erträume (à la Nietzsche 1880) ein „kommende[s] Zeitalter“, welches ich „das bunte nennen und das viele Experimente des Lebens machen soll“ (XI: 48 f.) – erneut ein Kindmotiv, das, wie andernorts gezeigt (vgl. Niemeyer 2022: 40), auch für den Nietzschevorläufer Honoré de Balzac (1799-1850) zentral war und niedergelegt wurde drei Jahre vor Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen.

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Mein Zusatz kann nun nicht mehr überraschen: Ich verstehe diesen Traum als einen, den nur ein Linker haben kann und den es unter allen Umständen wiederzugewinnen gilt, wenn wir dem schon von Zarathustra beschworenen „Geist der Schwere“ trotzen wollen, der uns aktuell von Rechten aus aller Welt entgegenhallt und der uns zähmen und am Boden halten soll, am Boden der Heimat wohl gemerkt, am Boden der Nation, als gelte es, Schopenhauer Recht zu geben. Der schon vor über einhundertfünfzig Jahren lästerte:

„[…] [J]eder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn: hieran erholt er sich und ist nun dankbar bereit, alle Fehler und Thorheiten, die ihr eigen sind, […] zu vertheidigen.“ (SW IV: 357 f.)

Hätte Schopenhauer dies vor wenigen Tagen geschrieben, könnte man glatt meinen, die Rede sei wenn schon nicht von den Vorgenannten so jedenfalls doch vom ‚erbärmlichen Tropf‘ Björn Höcke (AfD). Redete Schopenhauer aber auch – weit wichtiger – schon in vager Vorahnung im Blick auf ein Phänomen namens Nietzsche? Dann können wir ihm nun entgegenhalten: Ja, richtig, diese Gefahr war groß in Nietzsches Wagnerära, als er unter Wagners Einfluss die deutsche Nation neu meinte sehen zu müssen und stolz darauf war, wenn nicht gar: Wagner als seine ‚Nation‘ las, ‚dankbar bereit, alle Fehler und Thorheiten, die ihr eigen sind, […] zu vertheidigen.‘ Diesen ‚erbärmlichen Tropf‘ Nietzsche, Wagners Nietzsche also, hat Nietzsche aber, wie gezeigt, abzustoßen vermocht, hat hingefunden zu seinem Satz:

„Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber das geht über meine Kräfte…“ (VI: 301)

Ganz in diesem Geist notierte sich Nietzsche kurze Zeit später im Nachlass zum Stichwort Kritik der Vaterländerei:

„[W]er über sich Werthe fühlt, die er hundert Mal höher nimmt als das Wohl des ‚Vaterlandes’, der Gesellschaft, der Bluts- und Rassenverwandtschaft, – Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe – der würde zum Heuchler, wenn er den ‚Patrioten’ spielen wollte. Es ist eine Niederung von Mensch und Seele, welche den nationalen Haß bei sich aushält (oder gar bewundert und verherrlicht).“ (XII: 310)

Wir können hier resümieren: Nietzsche stimmte in puncto ‚Nationalstolz‘ resp. dessen Kritik letztlich mit Schopenhauer überein. Auch das von Schopenhauer betonte Kompensatorische im Blick auf eine auf diesem Weg gestiftete (Ersatz-)Identität rückt ins Blickfeld, denn von Schopenhauers ‚erbärmlichem Tropf‘ bis hin zu Nietzsches ‚Niederung von Mensch und Seele‘ unter Einschluss der Vorstellung, hier wie dort ginge es um kompensatorische Abgeltung der eigenen Insuffizienz gleichsam im King-Kong-Nationalstolz-Modus, ist es kein weiter Weg.

Aber es kommt noch besser: Weit über Schopenhauer hinausgehend markierte Nietzsche zumindest in ersten Umrissen das Gegenideal zum ‚Nationalstolz‘, verborgen in Vokabeln wie ‚Werthe, die jenseits der Vaterländer und Rassen stehen, also internationale Werthe‘ – Überlegungen, die an die 1878 von Nietzsche eingeführte Denkfigur des ‚guten Europäers‘ erinnern, insonderheit an den für ihn charakteristischen Slogan:

„Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ (II: 511)

Dem Kontext zufolge war dies 1879 Nietzsches Antwort auf Richard Wagners 1878 aufgeworfene Frage „Was ist deutsch?“, die ihm in der Folge zu weiteren bemerkenswerten ‚linken‘ Positionen Anlass gab, etwa in Zur Genealogie der Moral (1887), wo es unter Anspielung auf den Antisemitismus als ‚Schwindel-Geisterei‘ heißt:

„[D]ass jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der unleugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet […] die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Princip ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘.“ (V: 408)

Kurz: Dies und das Vorhergehende klingt auf unheimliche Weise zeitgemäß und fast so, als hätte Nietzsche den Deutschen die Fortschreibung ihrer eigenen Geschichte bis in den Holocaust hinein und, wie wir aktuell leider beobachten müssen, weit darüber hinaus bis in die „Vogelschiss“-Verunglimpfung des Alexander Gauleiter problemlos zugetraut. Zu dieser Hellsicht trug, so vermute ich, bei, dass Nietzsche seiner fatalen Wagnerverehrung die Lektion abgewann, dass man Identität auf überzeugende Weise nur als Einzelner bezogen auf seine eigene Lebensgeschichte gewinnen kann, nie als Teil einer Gruppe im Blick auf ein höheres Ganzes. Denn Letztere beruht immer auf geborgter Autorität, sei es jene des Suffs, sei es jener der ‚Zustimmung‘, die die ohnehin Gleichgesinnten gewähren und die für jene Irrationalität steht, die unter den Bedingungen der Gruppendynamik notwendig gedeiht. Außerdem wäre man in der Folge als Teil dieses Ganzen gezwungen, es in Verteidigung des Kollektivs ggfs. schönzureden, ihm also qua ‚monumentaler Historie‘ zu dienen – ein Weg, dem Nietzsche spätestens mit Vom Nutzen und Nachtteil für das Leben (1874) abschwor zugunsten der Forderung nach ‚kritischer Historie‘, jedenfalls der Theorie resp. seinen Absichten zufolge.

Weiter könnte man folgern, Nietzsche sei eigentlich ein ‚authentischer Linker‘ gewesen, stehe also aktuell als eine Art geistiger Beistand zur Verfügung in Sachen des übermorgen möglicherweise schon als überlebensnotwendig sich erweisenden Kampfes gegen auf nation building und Vaterländerei setzenden und, wie Ibizagate[7] zeigt, tatsächlich mafiös agierenden Rechtspopulismus weltweit. Dies, so scheint mir, ist ein akzeptabler Zwischenbescheid angesichts eines Aufsatzes, der mit einem harschen Einspruch gegen postmodernen Wahrheitsrelativismus begann – und mit einemPlädoyer für einen weiter auszubauenden Linksnietzscheanismus endet.

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Sammy schaut mich fragend an, ob es dies gewesen sei, und er hat recht: Nein, für Nietzsche als Linken kann nicht Reklame machen, wer vom Werk Der Wille zur Macht schweigt. Also gut: „Sammy, Du siehst hier, in meiner rechten Hand und in meiner linken ein weißes. Und tatsächlich verhalten sich beide wie schwarz und weiß: Schwarz wie die Nacht ist Der Wille zur Macht im Billigverlag Voltmedia, vom skrupellosen Editor auch noch mit dem Reihentitel „Hauptwerke der großen Denker“ angekündigt, speziell in Osteuropa zu Spottpreisen in Bahnhofsbuchhandlungen massenhaft verbreitet, in der NS-Zeit zumal in Parteikreisen fast so populär wie Hitlers Mein Kampf und also mit einer schweren Hypothek versehen.“ Sammy bellt dazu, böse und wunschgemäß. Denn er ahnt wohl, dass der Verleger dies hätte wissen müssen, desgleichen das andere, als Lektüreeffekt zu beschreibende: Wer dieses Buch, erstmals 1906 von Nietzsches Schwester auf den Markt geworfen, von der ersten bis zur letzten Zeile liest und am Ende Nietzscheaner ist, gehört entweder in die Psychiatrie oder ins Zuchthaus oder in die AfD.

„Was aber, Sammy, ist mit dem weißen Buch in meiner Linken, also, das, von Dir aus gesehen, rechts platzierte?“ Sammy blickt aufgeregt von rechts nach links. Ist links nun das Leckerli? Oder rechts?  „Leider, Sammy, nicht ganz zu Unrecht rechts platzierte.“ Das Frauchen kommt, mit der Leine lockend. Sammy stürmt, erleichtert, auf sie zu. Also rede ich, wie alle plötzlich Vereinsamten, einfach still für mich weiter: Denn einerseits scheint zu gelten, jedenfalls dem auf dem Rückumschlag nachlesbaren begeisterten Zuspruch aus dem linken Feuilleton zufolge: Wer dieses Buch, Malcolm Bulls Anti-Nietzsche von 2011, von der ersten bis zur letzten Zeile liest, ist am Ende dasjenige, was der Titel verheißt: Anti-Nietzscheaner. Ist er deswegen aber auch ein Linker? Nein – denn wessen er nach seiner Lektüre voll ist, sind Ressentiments, jene des Verfassers vor allem. Was aber sind Ressentiments, nach dem oben Gesagten? Nun es sind, wie mir scheinen wollte und nach wie vor scheinen will, Ingredenzien des Rechtsseins, zurückgehend keineswegs auf einen freien, sondern auf einen gebundenen Geist – in diesem Fall gebunden an die verlegerische, also pekuniäre, also, mit Adorno geredet, kulturindustrielle Absicht, die Wiese mal so richtig abzumähen, auf der Nietzscheaner zu weiden suchen. Und zu diesem Zweck offeriert Malcolm Bull eine Eins-zu-eins-Kritik von Förster-Nietzsches Edition Der Wille zur Macht, die jeder halbwegs seiner moralischen Empfindungen Gewisse auch hingekriegt hätte. Nochmals sei es also diesem linken Autoren gegenüber eingeräumt: Ja, wer dieses Machwerk Förster-Nietzsches gut findet, gehört in die Psychiatrie, ins Zuchthaus oder in die AfD. Aber wer es schlecht findet, wie Malcolm Bull, gehört noch lange nicht auf den Balkon der New Left Revue. Denn seine Empörung ist nicht links sondern fremdgesteuert durch vorab ins Kalkül gezogenen linken Applaus der Gerechten und Selbstgerechten, und er ist, dies mit Seitenblick auf den Stand der Nietzscheforschung geredet. unbesorgt um das wohlfeil zu ergatternde Gegenargument.

Welches sollte dies sein?, höre ich Sie mich am Ende entgeistert fragen. Nun, ganz einfach: Nietzsche hat nachweislich davon abgesehen, seine über fünf Jahre hinweg gesammelten Aufzeichnungen unter einem Titel wie diesem zu veröffentlichen. Diesen Willen (wenn schon nicht zur Macht, sondern zum Werk) muss man respektieren, darf ihn jedenfalls nicht, wie für seine politisch rechte Schwester nachweisbar, verfälschen. Was, so könnten Sie mich nun noch fragen, macht man dann aber als Nietzscheforscher mit derlei Aufzeichnungen? Nun, wie wäre es, wenn man sie nicht, wie die Schwester, verändert, sondern erst einmal interpretiert – als, dies wäre mein andernorts (vgl. Niemeyer 2022: 246 ff.) näher erläuterter Vorschlag, ein in selbsttherapeutischer Absicht verfasster Kanon des Zorns ob des Wissens, ihm, Nietzsche, dem Syphilitiker, sei zeitnahe das Schicksal eines hilflos Vor-Sich-Hin-Sabbelnden gewiss. Jenseits dessen gilt es, wie im Vorhergehenden versucht, jene Bestände im Werk Nietzsches zu sichern, die er erlauben, ihn als Wahrheitsfreund sondergleichen gegen die AfD und deren willige Helfer in Stellung zu bringen.

 

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin

Text: Es handelt sich um das erste Kapitel meines neuen Buches Crashkur AfD. Ein Kurs, an dessen Ende diese Partei „crashen“ wird, im Sog von Putins Untergang (Beltz/Juventa: Weinheim Basel 2023 (i.V.) Literaturhinweise dort oder beim Autor.

Bild oben: Portät Friedrich Nietzsches, 1882; Das zugrunde liegende Original stammt aus einer Serie von 5 Profilfotographien des Naumburger Fotographen Gustav-Adolf Schultze, Anfang September 1882.

[1] Dieses Bundesland scheint geradezu eine Wiege scharfzüngiger Denker zu sein, wie auch der Leserbrief von Uwe Rakow aus Kim offenbart, der seine Nietzschekenntnis ungefragt in dem Satz zusammenschnurren lässt, der Krieg sei nach Nietzsche der „Winterschlaf der Kultur“ (Sp. 14/2022: 122). Geistig recht ärmlich, dieser Satz (ich meine jetzt jenen Nietzsches), werter Herr Rakow. Ein Satz, den nur zitiert, der ihn (Nietzsche) nicht mag.

[2] Nietzsche sagt im Original zwar „Staat“, aber diesen terminologischen Unterschied kann man bei einem Staat im Staat à la Vierte Gewalt (Precht/Welzer 2022) wie dem Spiegel wohl vernachlässigen…

[3] s. www.hagalil.com/2022/10/spott-light-hoecke/

[4] s.www.hagalil.com/2022/04/fritz-lieschen/; auch in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 20 (2022, 333 ff.; s. auch SNAR: 694 ff.

[5] s.www.hagalil.com.com/2022/08/winnetou/

[6] s. www.hagalil.com/2021/07/kanzlerkandidat/

[7] Im Juli 2017 auf Ibiza heimlich gedrehte Aufnahmen, den damaligen österr. Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) mit Korruption betreffenden Aussagen dokumentierend, führten nach ihrer Veröffentlichung im Mai 2019 zu einem Skandal mit der Folge von Neuwahlen. (n. SNAR-O: 54)