Der gegenwärtige erneute Exodus von Juden aus der Ukraine gab Anlass, sich anhand anerkannter Vorarbeiten intensiver mit der Geschichte jüdischen Lebens in jenem Lande zu beschäftigen. Für diesmal ausgewählt wurde ein Text, der u.a. Licht auf wenig beachtete Zusammenhänge zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem ukrainischen Nationalhelden Chmelnicky wirft. Zugleich ergibt sich die Gelegenheit des Historikers Heinrich Graetz (1817-1891) zu gedenken.
Von Robert Schlickewitz
Heinrich Graetz gilt heute, nahezu zwei Jahrhunderte nach seiner Geburt, als Pionier und Markstein jüdisch-deutscher Geschichtsschreibung. Mit seiner dreibändigen „Volkstümlichen Geschichte der Juden“ gab er schon früh einem breiten Publikum, Juden wie Christen, die Gelegenheit, jüdische Gesamtgeschichte aus jüdischer Sicht kennen zu lernen.
Dabei war die „Volkstümliche Geschichte der Juden“ (1888) eine Art populärwissenschaftliche Synthese von Graetzens Hauptwerk, der elfbändigen „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (1853-75) gewesen. Die hohe Wertschätzung, die letzterer auch aus dem Ausland entgegengebracht wurde, lässt sich daran ermessen, dass sie sehr bald vollständig oder in Teilen ins Englische, Französische, Hebräische, Jiddische, Polnische, Russische und Ungarische übersetzt wurde. Ihre besondere Bedeutung schmälerte dabei nicht, dass sie noch zu Lebzeiten ihres Verfassers bisweilen auch heftiger Kritik von jüdischer wie von christlicher Seite unterworfen war.
Wer Graetz noch nie im Original gelesen hat, wird möglicherweise über dessen sehr direkte Ausdrucksweise bzw. über seine häufig mit Schärfe und ohne Rücksicht auf nationale, religiöse oder andere Befindlichkeiten hervorgebrachten Argumente erstaunt sein. Graetz übt, wenn er glaubt es verantworten zu können, unverhohlen Kritik an Zuständen, an Staaten, an menschlichen Gesellschaften, an Christen wie an Juden. Er weist auch Gruppen oder Einzelpersonen, Christen wie Juden, nicht selten Verantwortung (Schuld) zu, wenn er der Ansicht ist, dafür genügend Belege vorweisen zu können.
Besonders streng ins Gericht geht er, angesichts heute weitgehend anerkannter Tatsachen durchaus verständlicherweise, mit dem Katholizismus, mit dessen Orden der Jesuiten und mit der russisch-orthodoxen Kirche, aber auch mit, zum Beispiel, der Haltung der polnischen Juden.
Es wäre nicht angebracht, Graetz für seine Art Geschichte zu vermitteln, posthum zu verurteilen oder gar ihm Böswilligkeit zu unterstellen, wie das eine Reihe seiner Zeitgenossen getan hat. Eher wird man ihm wohl gerecht, indem man in seinem Ausdruck und in seinem Stil sein hohes Engagement, sein solides Wissen um Zusammenhänge, seinen unbeirrbaren Willen jahrhundertealtes Unrecht auch als Unrecht zu bezeichnen, erkennte.
Bei der Lektüre fällt u.a. Graetzens Differenzieren bei der Einschätzung der verschiedenen, europäischen Nationen auf. Wenn er etwa Franzosen, Engländern und Niederländern („Holländern“) den Vorzug („civilisierte Völker“) vor Deutschen und Polen einräumt, so tut er dies, weil diese Nationen in ihrem Verhältnis zu ihrer jeweiligen jüdischen Minderheit im 19. Jahrhundert ein weit fortschrittlicheres Verhalten gezeigt, und die Gleichberechtigung ihrer Juden bereits weitgehend hergestellt hatten, anders als eben die beiden ‚verspäteten‘ Nationen der Deutschen und Polen.
Graetzens Anliegen war es ganz gewiss nicht, einseitiges ‚Bashing‘ einer Nation zu betreiben. Er forderte vielmehr entschieden und entschlossen Gerechtigkeit für die Menschen seiner Religion bzw. seiner Herkunft.
Mehrere Informationen, die der Historiker aufzählt, regen zum Nachdenken an.
So muss als besonders erstaunlich erscheinen, welch starken Einfluss auf das jüdische Geistesleben weiter Teile Europas die Flüchtlinge aus Polen und der Ukraine relativ rasch und dann noch über einen längeren Zeitraum ausüben konnten.
Es folgt die Wiedergabe des Kapitels sieben aus Heinrich Graetz‘ „Volkstümlicher Geschichte der Juden. In drei Bänden.“ Dritter Band: „Von den massenhaften Zwangstaufen der Juden in Spanien bis in die Gegenwart“. Leipzig o.J. S. 386-403.
Der dreißigjährige Krieg und der Aufstand der Kosaken
(1618-1655)
Während in Holland für die Juden der erste Strahl einer besseren Zeit aufdämmerte, war das übrige Europa für sie noch voll von dichtem Schatten. In Deutschland besonders galt der Jude noch im siebzehnten Jahrhundert, wie vorher, als ein verworfenes Geschöpf, für den es kein Mitleid gab, den man mit Kot bewarf, dem man den Bart anzündete und den man schlimmer als einen Hund behandelte. Es gab nur noch drei oder vier bedeutende Gemeinden in Deutschland: Frankfurt am Main mit etwa 4-5000 Seelen, Worms mit 1400, Prag mit höchstens 10 000 und Wien mit 3000; die übrigen zählten weniger. Hamburg war noch eine junge Gemeinde.
In den westdeutschen Freistädten Frankfurt und Worms herrschte eine Gehässigkeit gegen die Juden, die mehr in der Engherzigkeit des Pfahlbürgertums und des zopfigen Zunftwesens, als in dem Gegensatze des Bekenntnisses wurzelte. Beide Städte betrachteten die Juden in ihren Mauern als Kammerknechte und beriefen sich allen Ernstes auf eine Urkunde des Kaisers Karl IV., daß er sie ihnen mit Leib und Gut verkauft habe. Als sich portugiesisch-marranische Juden von den Niederlanden aus in Frankfurt niederlassen wollten, welche diese Stadt zu einem Handelsplatze ersten Ranges wie Amsterdam und Hamburg erhoben hätten, und um die Erlaubnis baten, ihnen ein Bethaus zu bewilligen, schlug es ihnen der Rat rundweg ab. Was taten die jüdischen Kapitalisten? Sie wendeten sich an den Herrn von Hanau und erlangten von ihm ein sehr günstiges Privilegium.
Die Verbissenheit der Frankfurter gegen ihre jüdischen Mitbewohner hatte sich in einer Gesetzgebung kristallisiert, die zu den widerwärtigsten und abgeschmacktesten gehört. Sie wurde die „Judenstättigkeit“ genannt und bestimmte, unter welchen Bedingungen oder Beschränkungen die Juden die Frankfurter Luft oder vielmehr die verpestete Atmosphäre des Judenviertels einatmen durften. Sämtliche vom Papsttum eingeführten kanonischen Beschränkungen zur Brandmarkung derselben: Verbot christliche Dienstboten oder Ammen zu halten und Gebot ein schändendes Abzeichen zu tragen, hat die größtenteils protestantische Stadt beibehalten. Sie behandelte sie geradezu wie Sträflinge. Außerhalb der Judengasse durften sich die Juden nur für nötige Geschäfte aufhalten, aber nicht zwei zusammen als Spaziergänger, und gar nicht in der Nähe des Römers, besonders nicht an christlichen Festtagen oder an Hochzeiten, oder wenn Fürsten in der Stadt lagen. Auch in ihrem Ghetto sollten sie sich still verhalten, christliche Ohren nicht durch einen hellen Laut verletzen, die eingekehrten fremden Juden zum zeitlichen Schlafengehen anhalten. Ohne Vorwissen des Magistrats durften sie überhaupt keine Fremden beherbergen, nicht einmal Kranke in ihr Hospital aufnehmen. Esswaren durften sie nicht gleichzeitig mit den Christen auf dem Markt einkaufen. Ihr Geschäftsumfang war neidisch eingeengt, und doch mussten sie viel mehr Steuern als die christlichen Einwohner zahlen. Wie sie an ihren Kleidern besondere Abzeichen, so mussten sie auch an ihren Häusern besondere Schilder mit wunderlichen Figuren und Namen haben: zum Knoblauch, zum Esel, zum grünen, weißen Schild, Rotschild, Schwarzschild. Nach diesen Schilderfiguren wurden die Bewohner der Häuser genannt: „Der Jude N. zum Esel“. Bei der Aufnahme eines Juden musste dieser die pünktliche Befolgung aller dieser ebenso dummen, wie herzlosen Bestimmungen mit einer entehrenden Eidesformel geloben. Und noch dazu hing ihr kümmerliches Dasein nur vom guten Willen des Magistrats ab; denn ein Paragraph bestimmte: Der Rat behielt sich vor, einem jeden Juden, zu welcher Zeit auch immer, die Stättigkeit, d.h. das Aufenthaltsrecht, zu kündigen. In diesem Falle musste der Einzelne oder die Familie nach Ablauf der bestimmten Frist die Stadt verlassen.
Wenn der Magistrat berechtigt war, einzelnen Juden den Aufenthalt zu kündigen, so durfte er sie doch sämtlich aus der Stadt weisen. So forderte und verlangte die mit dem Rate in Hader geratene Bürgerschaft oder die Zünfte. Sie beabsichtigten ihre Freiheiten zu erweitern, die Macht der Patrizier im Magistrat zu beschränken und fingen mit den Juden an. An der Spitze der ansässigen Zünftler stand der Lebkuchenbäcker Vincenz Fettmilch, ein verwegener Mann, der die Räte in Schrecken hielt und sich ganz offen den neuen Haman der Juden nannte. Während die Gemeinde im Bethause versammelt war (1. September 1614), folgte Schlag auf Schlag und Stoß auf Stoß, mit Wutgeschrei vermischt, an der Pforte des Judenviertels. Darauf von Seiten der Juden Angstgeschrei, verzweifeltes Hin- und Herrennen und rastloses Fliehen. Mutige Jünglinge und Männer griffen zu den Waffen, den Sturm abzuwehren oder mannhaft zu sterben. Es fielen auf beiden Seiten Verwundete und auch einige Leichen. Die Überzahl und Verwegenheit der Fettmilch‘schen Bande obsiegten. Darauf Plünderung, Zerstörung und Entweihung der heiligen Plätze mit tierischer Wut die ganze Nacht hindurch bis an den andern Tag. Die meisten Juden, welche nicht von menschenfreundlichen Bürgern geborgen waren, harrten zitternd auf dem Begräbnisplatze aneinander gekauert, manche in Sterbekleider gehüllt, und erwarteten den Tod. Geflissentlich ließ sie die Rotte in banger Ungewissheit über das Los, das sie ihnen zugedacht, zwischen Leben und Vertreibung, sodass die Juden es als eine Gnade Gottes ansahen, als sich ihnen des Nachmittags das Fischerpförtchen öffnete und sie, allerdings ohne Hab und Gut, abziehen durften, 1380 Personen.
Es dauerte lange, bevor die Juden Frankfurts Genugtuung für die so verletzende Unbilde erhielten. Der Magistrat war ohnmächtig und der Kaiser Matthias fast nicht minder. Erst ähnliche Vorgänge in Worms, einer der ältesten Gemeinden in Deutschland, beschleunigten das Ende der Frankfurter Wirren. Dort hatte die durch Judenhass und Brotneid entstandene Erbitterung gegen sie zur selben Zeit einen anderen Verlauf genommen, als nicht die Zünfte, sondern einige Glieder des Magistrats die Ausweisung der Juden betrieben, und als der Hauptjudenfeind nicht ein brutaler, aber gerader Handwerksmann, sondern ein arglistiger Advokat und Rechtsverdreher war, Doktor Chemnitz (Chemnitius), welcher durch Kniffe glücklicher und ungefährlicher die Ausweisung der Juden durchsetzen zu können meinte als die Frankfurter durch Gewalt. Auf seinen Rat schickten die Zünftler eine Deputation an die Juden, innerhalb einer Stunde mit Sack und Pack aus der Stadt zu ziehen. Der Magistrat protestierte ohnmächtig dagegen, und so blieb den Juden nur übrig am vorletzten Passatage auszuwandern (April 1615). Der Erzbischof von Mainz und der Landgraf Ludwig von Darmstadt gestatteten den Verbannten den Aufenthalt in den kleinen Städten und Dörfern, und so kamen sie zum Teil mit ihren Frankfurter Leidensbrüdern zusammen.
Indessen dauerte der Jubel der judenfeindlichen Wormser Bürger nicht lange. Der Kurfürst Friedrich von der Pfalz, der Freund des jüdischen Arztes Zocuto Lisitanus, ließ Fußvolk, Reiterei und Kanonen in die Stadt einrücken, welche dem Aufruhr ein Ende machte. Der großsprecherische Doktor Chemnitz wurde mit anderen Aufwieglern in Gewahrsam gebracht. Es dauerte aber doch noch fast dreiviertel Jahre, bis die Wormser Juden auf Befehl des Kaisers in ihre Stätte wieder eingesetzt wurden (19. Januar 1616). Zwei Monate später wurden die Juden von Frankfurt, wie im Triumphe mit Paukenschall und Hörnerklang von kaiserlichen Kommissarien in ihre Wohnungen wieder zurückgeführt. Hier wurden die Aufwiegler härter als in Worms bestraft, weil sie Zerstörung, Plünderung und Blutvergießen veranlasst hatten. Vincenz Fettmilch wurde gevierteilt und gehenkt, sein Haus geschleift und seine Familie in die Verbannung gejagt. Die Stadt wurde vom Kaiser mit 175 919 Gulden Schadenersatz für die an den Juden verübte Plünderung belegt. Zum Andenken an diese im deutschen Reiche nicht alltägliche Errettung und ehrenvolle Wiedereinsetzung bestimmte die Frankfurter Gemeinde den Tag des Einzuges (20. Adar) als Festtag.
Die alte Judenstättigkeit sowohl in Worms, als in Frankfurt hob der Kaiser Matthias auf und führte dafür eine neue Judenordnung ein, im mittelalterlichen Geschmack. Die alten Beschränkungen der Juden in Tracht, Handtierung und Bewegung sind geblieben und teilweise noch verschärft worden. „Nur da sie einmal vom Kaiser privilegiert waren, sollte der Rat sie schützen und nicht mehr die Befugnis haben, diejenigen, welche einmal die Stättigkeit erlangt hatten, auszuweisen“. Diejenigen Frankfurter Juden, welche damals wieder eingesetzt wurden, brauchten daher nicht mehr wie früher ihr Aufenthaltsrecht alle drei Jahre zu erneuern, und ihr Recht ging auf ihre Nachkommen über. Die Zahl der Juden wurde auf 500 festgesetzt. Nicht mehr als sechs Familien sollten jährlich zur Stättigkeit zugelassen werden und nie mehr als zwölf Paare durften sich jährlich verheiraten. Zu den alten Schutzabgaben kamen auch neue hinzu, eine Heirats- und Erbschaftssteuer. – Die Beschränkungen in der neuen Judenordnung für Worms sind womöglich noch drückender ausgefallen. Die Gemeinde hatte ihr Weiderecht eingebüßt; sie wurde dafür mit dem Privilegium entschädigt, „Milch zu ihrer und der Ihrigen Notdurft von der Bürgerschaft kaufen und abholen zu dürfen“ – eine bedeutende Errungenschaft! Es kam allen deutschen Gemeinden zugute, dass der Kaiser Matthias einmal wenigstens die Unverletzlichkeit der Juden mit Nachdruck betont und mit Waffengewalt bestätigt hatte. Kaiser Ferdinand II., so sehr er auch Jesuitenzögling und Protestantenfresser war, besiegelte diese Unantastbarkeit der Juden für das ganze deutsche Reich. Daher kam es, dass der zerstörungs- und blutreiche Dreißigjährige Krieg die Juden Deutschlands nicht so hart traf, wie man erwarten sollte. Sie teilten zwar die Leiden des deutschen Volkes, sie hatten ihr Teil an den Brandschatzungen, Plünderungen und Verwüstungen, welche die Führer der Landsknechte, die Mannsfeld, Tilly, Wallenstein, nacheinander über die blühendsten Städte brachten. Manche jüdische Gemeinde ist infolge der Kriegswut vollständig untergegangen. Aber die Juden hatten wenigstens von dem inneren Feinde nichts zu fürchten und konnten sich in der Abgeschiedenheit ihrer Ghettos still vor den Stürmen bergen. Die katholischen Heerführer hatten vom Kaiser die Weisung, Leben und Gut der Juden zu schonen, und diese wurde hin und wieder befolgt, sodass mancher Protestant seine Habe im Asyle des Judenviertels bergen und retten konnte. Die Finanzquelle der Juden musste geschont werden, wenn der Krieg einen guten Fortgang haben sollte. Daher war der mit vieler Überlegung handelnde Kaiser Ferdinand darauf bedacht, seinen Feldherren einzuschärfen, die Juden von allen Kriegbeschwerlichkeiten und Einquartierung zu befreien. Diese zärtliche Behandlung kam ihnen allerdings teuer zu stehen.
Der Wiener Hof erfand auch ein anderes Mittel, die Finanzquelle der Juden für den Krieg ergiebig zu machen. Er ernannte jüdische Kapitalisten zu Hofjuden, räumte ihnen die ausgedehnteste Handelsfreiheit ein, befreite sie von den Beschränkungen, denen andere Juden unterworfen waren, sogar vom Tragen des gelben Fleckens, gewährte ihnen und ihren Angehörigen überhaupt eine günstige Ausnahmestellung. Fast scheint es, als wenn die Juden in dieser Zeit noch besser als die Christen behandelt wurden. Wenigstens in Mainz verfuhren die Schweden, die über vier Jahre dort hausten (Ende 1631 bis Anf. 1636) glimpflicher gegen sie, als gegen die Katholiken. Sie waren auch nicht so sehr verarmt; denn sie konnten drei Jahre nach Abzug der Schweden eine Synagoge in Mainz bauen, also einen größeren Gemeindeverband bilden, eine Vergünstigung, die sie seit ihrer Ausweisung über 150 Jahre vorher nicht genießen konnten. Während die christliche Bevölkerung durchweg mit Not zu kämpfen hatte – ein Hauptumstand, welcher die Fürsten zum Abschluss des Westfälischen Friedens geneigt machte – hatten die Juden doch noch etwas errettet. Die Beute der Plünderungen so vieler Städte ging durch ihre Hände, und wenn sie auch durch Steuerzahlung außerordentlich angespannt waren, behielten sie doch immer einen Gewinn davon. Daher kam es, dass, als gerade nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges große Massen flüchtiger Glaubensgenossen aus Polen nach Deutschland kamen, sie von den Gemeinden brüderlich unterstützt werden konnten. –
Die Juden Polens wurden nämlich damals zum ersten Male von einer ausgedehnten blutigen Verfolgung heimgesucht. Der Leidenskelch sollte auch an ihnen nicht vorübergehen. Polen war nicht mehr wie früher die große Freistätte für die Söhne Juda’s, seitdem die verblendeten Könige die Jesuiten ins Land gerufen, um ihnen die Abrichtung der Söhne des Adels und der jungen Geistlichkeit für die fanatische Kirchlichkeit in die Hände zu geben und den widersetzlichen Sinn der polnischen Dissidenten zu brechen. Die Väter der Zwietracht, auf welche die vielfache Teilung Polens als erste Urheber zurückgeführt werden muss, suchten auch die stille Macht, welche die Juden vermöge ihrer Geldmittel und ihrer Klugheit auf die adlige Bevölkerung ausübten, zu untergraben, und gesellten sich zu deren anderweitigen Feinden, den deutschen Gewerks- und Handelszünftlern, um sie zu beschränken und zu unterdrücken. Indessen war ihr Zustand in Polen doch erträglicher als in Deutschland und Italien. In den Drangsalen des Dreißigjährigen Krieges suchten flüchtige Juden Polen auf. Der letzte König aus dem Stamme der Jagellonen Wladislaw IV. (1632-1648) war ihnen besonders gewogen. Der hohe Adel blieb im Allgemeinen auch in dieser Zeit in einer gewissen Abhängigkeit von den Juden, weil ihre Rührigkeit der polnischen Leichtlebigkeit und Verschwendungssucht mit ihrer Klugheit, ihrem kleinlichen Sparsystem und ihrer Vorsorglichkeit zu statten kam. Der Jude war dem polnischen Edelmann mehr noch als sein Finanzmeister, er war sein kluger Ratgeber. Die Adeligen verwendeten die Juden besonders zur Verwertung neu angelegter Kolonien, wozu sie selbst weder Fähigkeit noch die nötige Ausdauer besaßen. Es hatten sich nämlich nach und nach am untern Dnjepr und am Nordrande des Schwarzen Meeres in der Nachbarschaft der krimmischen Tataren Kolonien gebildet aus entlaufenen polnischen Leibeigenen, Sträflingen, Bauern und solchen, welche sich in der Heimat beengt und gefährdet fühlten. Diese Auswürflinge bildeten den Grundstock zu dem Kosakenstamme an den Wasserfällen des Dnjepr, Zaporoger genannt. Um ihr Leben zu fristen, waren sie auf Beute und Raub von den benachbarten Tataren angewiesen; es war eine Kriegsschule für sie. Die Könige, welche sie zu kriegerischen Unternehmungen und zur Abwehr gegen Einfälle von Tataren und Türken brauchten, räumten ihnen in der Ukraine und Kleinrußland eine gewisse Selbständigkeit ein und stellten einen Attaman (Hetman) mit eigenen Abzeichen seiner Würde an ihre Spitze. Aber der kirchliche Sinn des Königs Sigismund III. und die Jesuiten machten aus den Kosaken, welche ein Element der Stärke für Polen hätten werden können, ein Element ewiger Unzufriedenheit und Empörung.
Sie waren größtenteils Anhänger der griechischen Kirche, daher arbeiteten die Jesuiten daran, nachdem sie die Dissidenten geschwächt hatten, auch die Griechisch-Katholischen entweder mit der römischen Kirche zu vereinigen oder zu vertilgen. Bei dem kriegerischen Sinn der Kosaken war aber diese Umwandlung nicht so leicht, daher wurde ein förmliches System der Knechtung gegen sie angewendet. Drei adlige Häuser hatten vornehmlich die Kolonisation in der Ukraine und Kleinrußland: die Koniecpolski [sprich: Konietzpolski], die Wischniowecki [sprich: Wischniowetzki] und die Potocki [sprich: Pototzki], und diese überließen die Pacht der den Kosaken aufgelegten drückenden Steuer ihren jüdischen Geschäftsführern. Die Kosaken mussten von jedem neugeborenen Kinde, von jedem neuvermählten Paare eine Abgabe zahlen. Damit kein Umgehen derselben eintreten könnte, hatten die jüdischen Pächter die Schlüssel zu den griechischen Kirchen in Verwahrung, und so oft der Geistliche taufen oder trauen wollte, musste er sie von dem jüdischen Gutsverwalter ausbitten, und dieser lieferte sie erst nach Leistung der Abgaben aus. Das machte die Juden bei den Kosaken verhasst. Dazu kam noch, dass das in Polen durch die drei Männer Schachna, Lurja und Isserles geschaffene hochgeschraubte Talmudstudium, welches von ihren Jüngern Josua Falk Kohen, Meïr Lublin, Samuel Edles und Sabbatai Kohen bis zur Spitzfindigkeit gesteigert wurde, den polnischen Juden im allgemeinen den Charakter der Findigkeit und Kniffigkeit aufgedrückt hat, der sich im Verkehr, im Handel und Wandel äußerte. Denn in diesem Lande beschäftigte sich jedermann, wenn er nicht stumpfsinnig war, mit dem Talmud. Die Vertiefung in den selben war hier ein größeres Bedürfnis als im übrigen Europa. Die Rabbiner hatten eigene Gerichtsbarkeit und entschieden nach talmudisch-rabbinischen Gesetzen. Die Massenhaftigkeit der Juden in Polen und ihre Prozesslust gaben Veranlassung zu verwickelten Rechtsfällen, die kaum im Kodex (Schulchan Aruch) angedeutet waren. Die Richter-Rabbinen mussten daher auf die Rechtsquelle, den Talmud, zurückgehen, um in solchen Fällen Anhaltspunkte zu suchen, und, weil die Parteien meistens selbst kundig und gewitzt waren, mussten sie ihre Herleitungen und Vergleichungen scharf begründen.
Das rabbinische Zivilrecht fand daher in Polen eine ganz außerordentliche Pflege und Erweiterung, um auf alle Fälle gefasst und den gelehrten Parteien zugänglich zu sein. So lag gewissermaßen die immer zunehmende Kniffigkeit der Lehrmethode in den Verhältnissen und Bedürfnissen, und man muss noch den Umstand hinzunehmen, dass einer den anderen an Haarspalterei übertreffen wollte, um etwas Neues zu bieten und auf den Vierländer-Synoden sich auszuzeichnen. Die einseitige Ausbildung eines einzigen Seelenvermögens, der haarspaltenden Urteilskraft, auf Kosten der Übrigen hemmte auch die Phantasie, und daher ist in Polen auch nicht eine einzige literarische Erscheinung erzeugt worden, welche mit dem Namen Poesie belegt werden könnte. Sämtliche Geisteserzeugnisse der polnischen Schule tragen den talmudisch-rabbinischen Stempel. Die Jünger dieser Schule sahen fast mit einer gewissen achselzuckenden Verächtlichkeit auf die Heilige Schrift und ihre einfache Größe herab, oder vielmehr sie war für sie so gut wie nicht vorhanden. Und was sollten sie auch mit diesen Kindergeschichten anfangen, an denen sich kein Scharfsinn anbringen ließ? Allenfalls wussten sie etwas von der Bibel aus den Versen, welche in den Synagogen vorgelesen wurden, und aus dem, was der Talmud gelegentlich anführt. Der Sinn für das einfache Erhabene blieb ihnen daher verschlossen. Drehen und Verdrehen, Advokatenkniffigkeit, Witzelei und voreiliges Absprechen über das, was nicht in ihrem Gesichtskreis lag, wurde solchergestalt das Grundwesen der polnischen Juden. Religiös waren sie natürlich außerordentlich, fromm, sehr fromm; aber auch diese Frömmigkeit beruhte auf Klügelei und Überhebung. Einer wollte den anderen darin übertreffen oder vielmehr besser wissen, was der Kodex für diesen oder jenen Fall vorschreibt. Biederkeit und Rechtssinn waren bei vielen ebenso abhandengekommen, wie innige Frömmigkeit, Einfachheit und Sinn für Wahrheit. Der Tross eignete sich dieses kniffige Wesen der Talmudschulen an und gebrauchte es, um den minder Schlauen zu überlisten. Freilich gegen Stammgenossen konnte List nicht gut angewendet werden, weil diese gewitzigt waren; aber die nichtjüdische Welt, mit der sie verkehrten, empfand zu ihrem Schaden diese Überlegenheit des kniffigen Geistes der polnischen Juden. Dass der Talmud und die großen Lehrer des Judentums Betrügerei und Übervorteilung gegen Andersgläubige fast noch mehr gebrandmarkt haben als gegen Stammgenossen, daran kehrten sich die polnischen Söhne des Talmud wenig.
Diese Verdorbenheit rächte sich an ihnen auf eine blutige Weise. In arger Verblendung hatten sie den Adligen und Jesuiten hilfreiche Hand geboten, die Kosaken in der Ukraine und Kleinrussland zu bedrücken. Die Magnaten wollten aus den Kosaken einträgliche Leibeigne, die Jesuiten aus den griechischen Ketzern römische Katholiken machen, die in dem Landstriche angesiedelten Juden wollten sich dadurch bereichern und die Herren über diese niedrigsten Parias spielen. Sie maßten sich Richterämter über sie an und kränkten sie in deren kirchlichen Angelegenheiten. Kein Wunder, dass die geknechteten Kosaken die Juden fast noch mehr hassten als ihre adligen und geistlichen Feinde, weil sie mit ihnen am meisten zu verkehren hatten. An Warnungszeichen hat es den Juden nicht gefehlt, welches Los sie treffen würde, wenn diese ihre erbitterten Feinde einst die Oberhand erlangen sollten. Bei einem wiederholten Aufstand der Zaporoger unter ihrem selbstgewählten Hetman Pawliuk (um 1638), so kurz er auch dauerte, erschlugen sie 200 Juden und zerstörten einige Synagogen. Nichts desto weniger boten die Juden die Hand zu der infolge des Aufstandes noch gesteigerten Knechtung der Unglücklichen. Sie erwarteten im Jahre 1648 laut des Lügenbuches Sohar die Ankunft des Messias und die Zeit der Erlösung, wo sie die Herren würden spielen können, und waren daher rücksichtsloser und sorgloser, als sie sonst zu sein pflegten. Die blutige Vergeltung blieb nicht aus und traf die Unschuldigen mit den Schuldigen, vielleicht jene noch mehr als diese.
Sie ging von einem Manne aus, welcher den gesteigerten Hass der Kosaken zu seinen Zwecken zu benutzen verstand. Bogdan Chmielnicki [sprich: Chmijelnitzki] (Russisch Chmel), vor dem ganz Polen mehrere Jahre zitterte, und der Rußland zuerst Gelegenheit gab, sich in die polnische Republik einzumischen, war für die Juden eine erschreckende Geißel, welche auch sie um ihre halbgünstige Stellung gebracht hat. Chmielnicki, tapfer im Kriege und verschlagen in Ausführung von Plänen, grausam und heuchlerisch zugleich, war persönlich von Juden gereizt worden, als er noch in untergeordneter Stelle lebte. Als er die „Kosakenmutter“, die ganze Ukraine, zu einem fanatischen Religions- und Racenkrieg gegen Polen entflammte, war sein erstes Wort an die Kosaken: „Die Polen haben uns als Sklaven der verfluchten Brut der Juden überliefert“, und es genügte, um sie zu allem zu bewegen. Die racheschnaubenden Zaporoger und die beutelustigen Tataren, mit ihnen im Bunde schlugen das polnische Heer (1648). Nach dem Siege ergossen sich die wilden Scharen über die Städte östlich vom Dnjepr, zwischen Kiew und Pultava, plünderten und mordeten besonders die Juden, welche nicht die Flucht ergriffen hatten. Die Zahl der Gemordeten belief sich auf mehrere Tausend. Glücklich waren noch diejenigen, welche in Gefangenschaft der Tataren geraten waren, sie wurden nach der Krim transportiert und von dort aus von den türkischen Juden ausgelöst. Vier jüdische Gemeinden mit ungefähr 3000 Seelen entschlossen sich dem Gemetzel zuvorzukommen und ergaben sich den Tataren mit allen ihren Habseligkeiten. Sie wurden gut behandelt und nach der Türkei verkauft, wo auch gegen sie von ihren Stammgenossen die Pflicht der Auslösung brüderlich geübt wurde. Die Gemeinde Konstantinopels sandte einen Delegierten nach Holland, um von den reichen Gemeinden Gelder zur Auslösung der jüdisch-polnischen Gefangenen zu sammeln.
Zum Unglücke für die Polen und Juden war der König Wladislaw, auf den Chmielnicki noch einige Rücksicht genommen hatte, mit dem Tode abgegangen. Während der Zwischenregierung von mehreren Monaten (Mai – Oktober 1648) trat die gewöhnliche polnische Zerfahrenheit ein, welche jeden Widerstand nach Außen lähmte. Anfangs zog sich Chmielnicki, scheinbar zur Unterhandlung mit der Krone geneigt, zurück, erteilte aber seinen Kreaturen Vollmacht, die polnischen Provinzen zu durchstreifen und zu verheeren. Es bildeten sich förmliche Mordscharen, die sich Haidamaks (tatarisch: Parteigänger) nannten, unter vertierten Führern, die ein Menschenleben nicht höher als einen Strohhalm achteten und sich an den Todesnöten ihrer polnischen und jüdischen Feinde förmlich weideten. Von den griechischen Popen aus ihrer Mitte wurden sie im Namen der Religion zum Morde an Katholiken und Juden geradezu fanatisiert. Jeder Bandenführer hatte eine eigene Art, seine Grausamkeit zu üben. Morosenko ließ Riemen um den Hals katholischer und jüdischer Frauen schlingen und sie daran zerren, das nannte er: „sie mit einem roten Bande zu beschenken“. Wenige Wochen nach dem ersten Siege der Kosaken zog eine Bande unter Ganja gegen die Festung Remirow, wo sich 6000 Juden, Einwohner und Flüchtlinge aus der Umgegend angesammelt hatten. Die Kosaken waren im Einverständnis mit den griechischen Christen in der Stadt, und von beiden angegriffen, wurden fast sämtliche Juden unter furchtbaren Qualen niedergemetzelt. Eine andere Horde Haidamaken griff die Stadt Tulczyn an, wo 6000 Christen und ungefähr 2000 Juden in der Festung Zuflucht genommen hatten. Es waren darunter sehr tapfere Juden, die nicht ohne Gegenwehr sterben wollten. Edelleute und Juden beteuerten einander durch einen Eid, Stadt und Festung bis auf den letzten Mann zu verteidigen. Da wendeten die Kosaken eine List an. Sie versicherten den Edelleuten, daß sie es nur auf die Juden, ihre Todfeinde, abgesehen hätten; wenn ihnen diese überliefert werden, so würden sie abziehen. Die verblendeten und eidvergessenen Adeligen stellten daher an die Juden den Antrag, ihnen die Waffen abzuliefern. Die Juden fügten sich, und die Polen ließen die Bande in die Stadt. Nachdem diese den Juden alles genommen hatten, stellten sie ihnen die Wahl zwischen Tod und Taufe. Aber kein einziger von ihnen wollte um diesen Preis sein Leben erkaufen; gegen 1500 wurden unter den Augen der polnischen Edelleute gemartert und hingerichtet. Die Polen traf aber sogleich die Strafe des Verrats. Des Beistandes der Juden beraubt, wurden sie von den Kosaken angefallen und mit Hohn getötet, dass Wortbrüchige nicht auf Treue rechnen könnten. Dieser traurige Vorfall hat wenigstens die gute Seite gehabt, dass die Polen seitdem durchweg auf Seiten der Juden blieben und im Verlaufe des mehrjährigen Krieges sich nicht von ihnen trennten. In der selben Zeit war eine andere Haidamaken-Horde unter einem Führer Hodki in Kleinrußland gedrungen und richtete ein grausiges Gemetzel unter den dort wohnenden Gemeinden in Homel, Starodub, Czernigow und anderen (östlich und nördlich von Kiew) an. Die Juden von Homel sollen am standhaftesten das Märtyrertum bestanden haben.
Der Fürst Jeremias Wischniowecki [sprich: Wischniowetzki], die einzige Heldengestalt in der damaligen polnischen Zerfahrenheit, nahm die jüdischen Flüchtlinge unter den schützenden Flügel seiner kleinen aber tapferen Schar auf, mit der er die kosakischen Streifbanden überall bis zur Vernichtung verfolgte. Aber auf die eigene Kraft angewiesen, vermochte er nichts Nachhaltiges durchzusetzen. Durch kleinliche Eifersüchtelei wurde er noch dazu bei der Wahl des Oberfeldherrn gegen den kosakischen Aufstand übergangen, und statt seiner wurden drei gewählt, wie sie Chmielnicki für seine Siege nur brauchen konnte. Er musste zuletzt vor der Überzahl der Streifscharen und der mit ihnen sympathisierenden griechisch-katholischen Bevölkerung zurückweichen, was die Juden, welche auf seinen Heldenmut gerechnet hatten, mit ins Verderben zog. In der Festung Polonnoie (zwischen Zaslaw und Zytomyr) sollen 10 000 Juden, teils Einwohner, teils Flüchtlinge aus der Umgegend durch die Hand der belagernden Haidamaks und der verräterischen Einwohner umgekommen sein. Überall, wo die blutdürstigen Haidamaks auf Juden und Katholiken stießen, erschlugen sie sie ohne Erbarmen.
Der unglückliche Ausgang des zweiten Krieges zwischen Polen und Kosaken brachte ein blutiges Los über diejenigen Juden, welche sich weitab vom Schlachtfelde sicher geglaubt hatten. Es war kein Entrinnen für sie vor dem Ansturm der Zaporoger, es sei denn, dass sie die walachische Grenze erreichen konnten. Die weite Strecke von der Südukraine bis Lemberg über Dubno und Brody hinaus bezeichneten Blutspuren von erschlagenen und zertretenen Juden; in der Stadt Bar allein kamen zwei- bis dreitausend um. Die Grausamkeit der regulären Kosaken, wie der wilden Haidamaks machte keinen Unterschied zwischen Rabbaniten und Karäern. Von den wenigen karäischen Gemeinden Polens blieben nur zersprengte Überreste übrig. Die bedeutende Gemeinde Lemberg verlor viele ihrer rabbanitischen Mitglieder durch Hunger und Pest und noch dazu ihr ganzes Vermögen, das sie an die Kosaken als Lösegeld zahlen musste. Von Lemberg zog Chmielnicki mit seinem Heere auf Zamosc zu, um sich Warschau zu nähern, und bei der bevorstehenden Königswahl mit dem Schwerte den Ausschlag zu geben.
In der Stadt Narol, welche auf dem Wege lag, richteten die Zaporoger ein bis dahin unerhörtes Gemetzel an. 45 000 Menschen sollen daselbst unter grausamen Martern erschlagen worden sein und darunter über 12 000 Juden (Anfang November). Die Haidamaken schweiften indes in Wolynien, Podolien und Westrußland umher und löschten ihre Rache in dem Blute erschlagener Edelleute, Geistlichen und Juden zu Tausend und Zehntausend. In Krzemieniec schlachtete ein Unmensch mehrere Hundert jüdische Kinder, untersuchte zum Hohn deren Leichen, wie die Juden es beim ritualmäßig geschlachteten Vieh zu machen pflegen, und warf sie den Hunden vor. In manchen Städten bewaffneten sich indes die Juden gleich den Katholiken und trieben die blutdürstigen Kosaken auseinander.
Die endlich erfolgte Königswahl, die trotzdem der polnische Staat am Rande des Abgrunds war, unter leidenschaftlichen Kämpfen und Zuckungen vorgenommen wurde, machte dem Blutvergießen für den Augenblick ein Ende. Chmielnicki entschied sich für Jan Kasimir, bisher Primas von Gnesen, und er wurde gewählt. Infolgedessen entschloss sich der Hetman, die in Trümmer verwandelte Gegend zu verlassen und als Triumphator nach der Ukraine zurückzukehren. Den polnischen Kommissarien, welche ihn in seiner Kosakenresidenz aufsuchten, um mit ihm wegen Abschluss eines Friedens zu verhandeln, diktierte er barsch, dass in den Kosakenprovinzen keine katholische Kirche und kein Jude geduldet werden sollte. Die Kommission, welche diese Bedingungen nicht annehmen konnte, reiste unverrichteter Sache wieder ab (16. Februar 1649). Der Abbruch der Unterhandlung führte zu einem dritten Zusammenstoß. In dem Treffen bei Sbaraz wäre die polnische Armee von den Zaporogern und Tataren vollständig aufgerieben worden, wenn der König, der nahe daran war, in die Gefangenschaft zu geraten, sich nicht klugerweise mit dem Tatarenhäuptling verständigt hätte. Darauf folgte der Friedensschluss (August 1649), welcher unter einer andern Form Chmielnicki’s Programm vollständig bestätigte, auch den Punkt in Betreff der Juden.
Infolge des Friedensschlusses von Sbaraz hatten die Polen und die Juden etwa anderthalb Jahre so ziemlich Ruhe. Soweit ihnen der Aufenthalt gestattet war, kehrten die flüchtigen Juden in ihre Heimat zurück. Den aus Todesfurcht getauften Juden gestattete der König Jan Kasimir, sich zum Judentum offen zu bekennen. Viele hundert jüdische Kinder, welche ihre Eltern und Verwandten verloren hatten und im Christentum auferzogen waren, brachten die Juden wieder an sich, gaben sich Mühe, ihre Abstammung zu erforschen und hängten die Zeugnisse in einem Röllchen an den Hals, damit sie später nicht in Blutsverwandtschaft heiraten möchten. Die im Winter (1650) in Lublin zusammengetretene allgemeine Synode von Rabbinen und Vorstehern hatte vollauf zu tun, um die Wunden der polnischen Judenheit nur einigermaßen vernarben zu machen. Viele Hunderte oder gar Tausende von jüdischen Frauen wussten nicht, ob ihre Männer im Grabe lagen oder bettelnd im Osten oder Westen, in der Türkei oder Deutschland umherirrten, ob sie Witwen oder Ehefrauen wären – oder befanden sich in anderen Verlegenheiten, welche das rabbinische Gesetz geschaffen hatte. Die Synode von Lublin soll dafür vortreffliche Anordnungen getroffen haben. Auf Anregung des Sabbatai Kohen (Schach) wurde der Tag des ersten Gemetzels in Remirow (20 Siwan) zur Erinnerung als allgemeiner Fasttag für die Überbleibsel der polnischen Gemeinden festgesetzt.
Nach anderthalbjähriger Pause brach der Krieg von neuem aus, dessen erste Opfer abermals die Juden waren, da Chmielnicki mit den wilden Zaporogern nunmehr in die polnischen Gebiete einfiel, wo sich wieder jüdische Gemeinden angesiedelt hatten. Freilich so massenhaft konnte das Gemetzel nicht mehr ausfallen, es gab nicht mehr Tausende von Juden abzuschlachten. Auch hatten sie durch die bösen Tage Mut bekommen, hatten sich bewaffnet und dem König eine Schar jüdischer Soldaten gestellt. Indessen wendete sich diesmal das Schlachtenglück gegen die Kosaken, da die abermals herbeigerufenen Tataren plötzlich vom Schlachtfelde abzogen und Chmielnicki als Gefangenen mitschleppten. Jan Kasimir und seine Minister vergaßen nicht, das Recht der Juden ausdrücklich in dem Vertrage mit den besiegten Kosaken zu wahren. Es sollte ihnen unbenommen bleiben, sich nach wie vor in der Ukraine und überhaupt überall niederzulassen und Güter in Pacht zu nehmen.
Auch dieser Vertrag wurde beschlossen und beschworen, um gebrochen zu werden. Chmielnicki hatte ihn nur angenommen, um sich zu stärken und sein erschüttertes Ansehen bei den Kosaken wiederherzustellen. Sobald er sein nächstes Ziel erreicht hatte, begann er von neuem Feindseligkeiten gegen Polen, welche die Juden stets am schmerzlichsten empfanden. In zwei Jahren seit dem ersten Aufstande der Zaporoger waren mehr denn 300 Gemeinden vollständig durch Tod oder Flucht untergegangen, und das Ende der Leiden war noch nicht abzusehen. Die polnischen Truppen konnten vor Chmielnickis Gewaltstreichen nicht bestehen. Als er von den Tataren keine Hilfe mehr erwarten konnte, verband er sich mit den Russen und reizte diese zu einem Kriege gegen das unglückliche und doch in sich geteilte Polen.
Zufolge des russischen Krieges (1654 und 1655) litten auch diejenigen Gemeinden, welche bis dahin von den Kosakenschwärmen verschont geblieben waren, die westlichen Gebiete und Litauen. Die Gemeinde Wilna wurde durch das Gemetzel von Seiten der Russen und durch die Flucht vollständig entvölkert. Als hätte damals das Verhängnis die Auflösung Polens beschlossen, trat ein neuer Feind zu den Kosaken und Russen hinzu, Schweden. Durch den schwedischen Krieg unter Karl X. kamen auch die groß- und kleinpolnischen Gemeinden von Posen bis Krakau in Not und Verzweiflung (1656). Bis auf die Neige mussten die Juden Polens den Giftkelch leeren. Diejenigen, welche die Kosaken, Russen und die wilden Schweden aus dem Dreißigjährigen Krieg verschont hatten, misshandelte der judenfeindliche polnische General Czarnicki [sprich: Tscharnitzki] unter dem Vorwande, sie stünden in verräterischem Einverständnis mit den Schweden. Ganz Polen glich damals einem blutigen Schlachtfelde, auf dem sich Kosaken, Russen, Preußen und Schweden und noch dazu Scharen des Fürsten Ragoczi [sprich: Ragotschi] von Siebenbürgen tummelten; die Juden wurden von allen gemisshandelt und erschlagen. Nur der große Kurfürst von Brandenburg verfuhr milder gegen sie. Die Zahl 600 000 jüdischer Seelen, welche in dem Jahrzehnt dieser Kriege (1648-1658) umgekommen sein sollen, ist zwar sehr übertrieben, aber auf eine Viertelmillion kann man wohl die erschlagenen Juden Polens veranschlagen. Mit dem Sinken Polens als Großmacht ist auch die Bedeutung der polnischen Judenschaft geschwunden. Die Überbleibsel waren verarmt, gebeugt und erniedrigt und konnten sich nicht mehr erholen. Ihre Not war so groß, dass sich diejenigen, welche nach Preußen verschlagen wurden, als Taglöhner für Feldarbeit an Christen um Brot vermieteten.
Wie zur Zeit der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal man überall auf flüchtige sephardische Juden stieß, ebenso begegnete man während der kosakisch-polnischen Kriege fliehenden polnischen Juden in elender Gestalt, die, dem Blutbade, den Feuersbrünsten, dem Hunger, der Seuche entkommen, oder von Tataren in Gefangenschaft geschleppt und von ihren Brüdern ausgelöst, irgendwo ein Unterkommen suchten. Westwärts über Danzig und die Weichselgegend kamen solche Flüchtlinge nach Hamburg, wanderten nach Amsterdam und wurden von da nach Frankfurt am Main und anderen rheinischen Städten befördert. Südwärts entflohen viele derselben nach Mähren, Böhmen, Österreich und Ungarn und wanderten von da bis nach Italien. Die Gefangenen im Heere der Tataren kamen nach den türkischen Provinzen und wurden zum Teil nach den Barbaresken verschlagen. Überall wurden sie von ihren Brüdern voller Herzlichkeit aufgenommen, verpflegt, bekleidet und unterstützt. Die italienischen Juden übten an ihnen die Pflicht der Auslösung und Unterstützung mit großen Opfern. Die wohlhabenderen Mitglieder der Gemeinde von Livorno verwendeten ein Viertel vom Hundert ihres Einkommens für die Befreiung und Unterhaltung der unglücklichen polnischen Juden. Auch die deutschen und österreichischen Gemeinden, obwohl sie unter den Drangsalen des Dreißigjährigen Krieges auch gelitten hatten, betätigten an ihnen jene Brüderlichkeit, die sie weniger mit den Lippen bekannten, aber desto mehr im Herzen trugen. Indessen war die Zahl und das Elend der aus Polen Entflohenen und Gefangenen so groß, dass die deutschen Gemeinden genötigt waren, die für Jerusalem bestimmten Gelder teilweise für sie zu verwenden.
Für das Judentum war die kosakische Judenverfolgung von einschneidender Wirkung. Hatte bereits bis dahin die polnisch-rabbinische Lehrweise die Talmudschulen in Deutschland und zum Teil auch in Italien durch die überreiche Literatur der Autoren aus derselben beherrscht, so wurden sie durch die Flüchtlinge – die meistens talmudkundig waren – tonangebend und unterjochend. Die Rabbinatssitze wurden meistens polnischen Talmudisten übertragen: in Mähren Ephraim Kohen und Sabbatai Kohen, in Amsterdam Mose Ribkes, in Fürth und später in Frankfurt am Main Samuel Ahron Kaidonower, in Metz Mose Kohen aus Wilna. Diese polnischen Talmudisten waren eben wegen ihrer Überlegenheit in ihrem Fache stolz, sahen mit Verachtung auf die Rabbinen deutscher, portugiesischer und italienischer Zunge herab. Weit entfernt, in der Fremde ihre Eigenart aufzugeben, verlangten sie vielmehr, dass alle Welt sich nach ihnen richte, und setzten es auch durch. Man spottete über die „Polacken“, ordnete sich ihnen nichts desto weniger unter. Wer sich gründliches talmudisches und rabbinisches Wissen aneignen wollte, musste sich zu den Füßen polnischer Rabbiner setzen. Jeder Familienvater, der seine Kinder für den Talmud erziehen wollte, suchte für sie einen polnischen Rabbi. Die polnischen Rabbiner zwangen allmählich den deutschen und zum Teil auch den portugiesischen und italienischen Gemeinden ihre klügelnde Frömmigkeit und ihr Wesen auf. Durch sie sanken wissenschaftliche Kenntnisse und auch die Bibelkunde noch mehr als bis dahin. Gerade im Jahrhundert Descartes‘ und Spinozas, als die drei zivilisierten Völker, Franzosen, Engländer und Holländer, dem Mittelalter den Todesstoß versetzten, brachten die jüdisch-polnischen Emigranten, die von Chmielnickis Banden Gehetzten, ein neues Mittelalter über die europäische Judenheit, das sich mehr als ein Jahrhundert in Vollkraft erhalten hat und zum Teil noch in unserer Zeit fortdauert.
(Der besseren Lesbarkeit zuliebe wurde der Originaltext in der Wiedergabe der modernen Rechtsschreibung angepasst. Erläuterungen stehen jeweils in eckigen Klammern […].)
Erläuterungen/Glossar:
Kaiser Karl IV.: römisch-deutscher Kaiser ab 1355; geb. 1316 in Prag, gest. 1378 in Prag.
Der neue Haman der Juden: der Feind des Volkes der Juden schlechthin
Kaiser Matthias: von 1612 bis 1619 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; geb. 1557 in Wien, da auch verstorben 1619.
Adar: jüdische Monatsbezeichnung; Adar beginnt Mitte Februar gemäß dem gregorian. Kal.
Kaiser Ferdinand II.: von 1619 bis 1637 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; geb. 1578 in Graz, gest. 1637 in Wien.
Jesuiten und Juden: Der Orden der Jesuiten (S.J.) war (und ist) seit Langem neben den Orden der Dominikaner und Franziskaner die judenfeindlichste Gemeinschaft innerhalb der katholischen Kirche. So pflegte die von Jesuiten herausgegebene Hauszeitschrift des Vatikan, „Civiltà Cattolica“, ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit in die 1930er Jahre hinein in ihren Beiträgen einen Antijudaismus, der mit dem der Propagandisten des Nationalsozialismus vergleichbar war. Das deutsche Antijudenmagazin „Der Stürmer“ des später als Kriegsverbrecher hingerichteten Julius Streicher bedankte sich sogar in mindestens einer Ausgabe, durchaus öffentlichkeitswirksam, bei den ‚Kollegen‘ in Rom. — Noch bis vor wenigen Jahren vertraten prominente Jesuiten, etwa bei Versuchen Papst Benedikt XVI. zu rechtfertigen, judenfeindliche Positionen.
Wasserfälle des Dnjepr: Graetz meint hier die Stromschnellen im Dnjepr, die zu seiner Zeit Hindernisse für den Boots- bzw. Schiffsverkehr darstellten.
König Sigismund III.: ab 1587 König von Polen; geb. 1566 in Schweden, gest. 1632 in Warschau.
griechische Kirche: gemeint ist natürlich die russische orthodoxe Kirche.
griechische Ketzer: dito
Lügenbuch Sohar: Bedeutendes Schriftwerk der Kabbala (der mystischen Überlieferung); zumeist Kommentare zu Texten der Tora.
Racenkrieg = Rassenkrieg
Pultava = Poltawa (liegt südlich einer gedachten Linie Kyiiv/Kiew — Charkiw/Charkow, zwischen beiden Städten)
griechische Popen: auch hier steht „griechisch“ für russisch-orthodox
Popen: orthodoxe Geistliche
griechische Christen = russisch-orthodoxe Christen
Stadt Tulczyn: Tultschyn, Stadt in der Westukraine
Homel: Gomel, Stadt im Südosten der Republik Belarus
Starodub: Stadt in Russland, im Gebiet Brjansk
Czernigow: Tschernihiw, ukrainische Stadt am Ufer der Desna
griechisch-katholische Bevölkerung: der Ostkirche angehörige Christen, die den Papst anerkennen
Lemberg: Lwiw, Lwow; Stadt in der Westukraine, nahe der polnischen Grenze
Dubno: Stadt in der Westukraine, am Ikva-Fluss
Brody: Stadt in der Westukraine im Gebiet Lwiw
Bar: Stadt in der Zentralukraine, im Gebiet Vinnytsia, am Fluss Riv
Rabbaniten: Mehrheit der Juden, die keine Karaiten sind
Karäer: Karaiten, Karaim; eine Abspaltung vom rabbinischen Judentum
Narol: Stadt in Polen im Karpatenvorland
Wolynien: Wolhynien, historische Landschaft in der Westukraine
Podolien: historische Landschaft in der südwestlichen Ukraine und im nordöstlichen Moldawien
Krzemieniec: Kremenez, Stadt in der Westukraine, im Gebiet Ternopil
Friedensschluss von Sbaraz: Sbarasch, ukrainische Stadt im Gebiet Ternopil
Siwan: Monatsbezeichnung aus den hebräischen Kalender, fällt in die Monate Mai/Juni des gregorian. Kalenders
Barbaresken: muslimische Piraten im Mittelmeer, die von der nordafrikanischen Küste aus operierten (16.-19. Jh.)
Bildquellen:
Porträt Bogdan Chmelnicky und Kosakenversammlung: S. N. Syrov: Stranizy Istorii, Moskau 1986
Kosakentypus (Porträt): Lankenau und Oelsnitz: Das heutige Russland, Leipzig 1876
Kosake mit Pferd: Egon von Kapherr: Mit Kreuz und Knute. Das Kosakenbuch. Berlin 1931.