Die Stadt Charkiw/Charkow – um 1875

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Das in der nordöstlichen Ukraine gelegene Charkiv/Charkiw/Charkow war im Russischen Zarenreich Gouvernementshauptstadt und später, bis 1934, sogar Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjet Republik. Vielen Deutschen hingegen ist Charkow wesentlich geläufiger als ein Ort, um den herum im Zweiten Weltkrieg schwere Kämpfe tobten. Der Beitrag nimmt sich der Stadt, ihrem Umland und den Menschen in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts an.

Von Robert Schlickewitz

Reisebücher oder Länderbeschreibungen zu als exotisch empfundenen oder weit abgelegenen Teilen der Welt erfreuten sich im 18. und 19. Jahrhundert in ganz Europa hoher Beliebtheit und mancher Autor konnte von den Einnahmen aus seinen derartigen Veröffentlichungen sogar seinen Unterhalt bestreiten. Anderen, wie etwa dem bayerischen Thronfolger Kronprinz Rupprecht, dienten deren Reisebücher zur Erhöhung ihres persönlichen Ruhmes.

1876 kam aus Leipzig das aufwendig hergestellte, reich illustrierte Werk Das heutige Rußland der beiden Herausgeber H. von Lankenau und L. von der Oelsnitz in den deutschen Buchhandel.

Bevor es angemessen gewürdigt und auf den ausgewählten Text eingegangen wird, sollen zusätzliche Informationen zur Erhellung sowohl des Zeitraums als auch der näheren und weiteren Umstände beitragen. Hierzu gehören einerseits der Blick auf das damalige deutsch-russische Verhältnis, andererseits der auf die Lage der Juden im Zarenreich.

Ebenso wie für unsere unmittelbare Gegenwart, muss auch für die zweite Hälfte der 1870er Jahre das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen als höchst ambivalent bezeichnet werden. Einerseits stand es politisch nicht gerade zum Besten mit den deutsch-russischen Beziehungen, andererseits bewunderten gerade akademisch gebildete Deutsche das rasche Aufholen Russlands auf vielen Gebieten und die messbaren wirtschaftlichen und kulturellen Erfolge des, damals noch unmittelbaren, Nachbarn im Osten. Polen war ja bekanntlich nach dessen dritter Teilung 1795 als souveräne Nation aus den Landkarten Europas ausgeschieden.

Zu gewissen politischen Verstimmtheiten hatten u.a. die ständigen Gebietserweiterungen, die Russland auch unter Zar Alexander II. in den 1850ern bis 1870ern vornahm, beigetragen: Eroberungen bzw. Annexionen des Amurgebiets, des östlichen Kaukasus‘, der mittelasiatischen Regionen um Taschkent, Samarkand und Buchara, der Tataren- Khanate Chiva und Kokand usw. Dabei war es bei den Inbesitznahmen von von Muslimen bewohnten Territorien zu unvorstellbaren Grausamkeiten der russischen Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung gekommen.

(Ebenfalls in diese Periode fällt übrigens, der Tausch Sachalins gegen die Kurilen mit Japan und der Verkauf Alaskas an die Vereinigten Staaten von Amerika, 1867.)

Vom deutschen Kaiserreich wurde der sog. Panslawismus zunehmend als Gefahr wahrgenommen, besonders im Hinblick auf den ‚natürlichen‘ Bundesgenossen, die multinationale k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn, aber auch für den Bestand des eigenen Territoriums, in dessen Osten gleichfalls ethnische Slawen lebten. Das noch bis in die 1990er von konservativen deutschen Politikern und ihnen nahestehenden Gelehrten gepflegte und stets aufs Neue befeuerte Schlagwort Panslawismus stand für westliche Befürchtungen, sämtliche Slawen Europas könnten sich unter russischer Führung zu einem solidarischen und feindlichen Block vereinigen.

Kritik fand in deutschen Landen die nicht selten als Sklaverei bezeichnete Leibeigenschaft der russischen bäuerlichen Bevölkerung, die die Lebensgrundlage des damaligen Oligarchentums („Adel“) stellte. Zwar hatte per Manifest und Gesetz im Jahre 1861 eine sog. „Bauernbefreiung“ stattgefunden, jedoch änderte diese konkret nichts am Schicksal der Bauern. Erst zwanzig Jahre später, als ein Gesetz über die obligatorische Ablösung erlassen wurde, kamen die Bauern frei von den Lasten der Fronarbeit sowie von den Geld- und Naturalienabgaben an ihre „Herren“. Relikte des alten Systems sollten freilich noch bis 1917 (!) überleben.

Für Verärgerung sorgte ferner, dass die Nachkommen der einst nach Russland ausgewanderten Deutschen, entgegen den Versprechungen von Katharina II., die sie ins Land geholt hatte, ab 1874 ebenso wie andere Untertanen des Zaren zum Wehrdienst herangezogen wurden.

Die russische Seite hingegen musste feststellen, dass das Gedankengut deutscher revolutionärer Denker wie Marx, Engels, Lasalle, Hegel etc. immer häufiger nach Russland hineingetragen, für eine gefährliche Untergrabung der Autorität des Zaren sorgte. Nicht selten waren es dabei Deutschstämmige oder Baltendeutsche, die in konspirative Aktivitäten verwickelt waren oder Attentate auf Funktionäre des Zarenreiches verübten oder zu Helfershelfern der Attentäter gehörten.

Noch im Jahr 1863, als die Polen in ihren Territorien auf breiter Basis gegen die russische Herrschaft aufstanden, war Deutschland Russland diplomatisch und mit seiner Exekutive gegen die Aufständischen und deren Sympathisanten beigestanden. Als im Jahr darauf der deutsch-dänische Krieg ausbrach, hielten sich die Russen, in Solidarität mit Deutschland, zurück, intervenierten sie nicht. Ebenso 1866 beim „preußisch-deutschen (Bruder-)Krieg“ und 1870/71 beim deutsch-französischen Völkerringen. Jedoch, bereits bei diesem, letzteren, standen die Sympathien vieler Russen auf Seiten Frankreichs.

Ganz besonders sollte dann die „Orientalische Frage“, in die als Hauptakteure Russland und das Osmanische Reich sowie, als parteiische Schiedsrichter, England und Österreich, involviert waren, das deutsch-russische Verhältnis belasten. Die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1877/1878, die möglicherweise an die 170 000 Menschen das Leben kosteten, und deren Folgen sollten noch bis nach dem Ersten Weltkrieg die Weltöffentlichkeit beschäftigen.

Diese sog. Orientkrise hatte übrigens Zar Alexander II. veranlasst beim Generaladjutanten Kaiser Wilhelms I. nach der Haltung Deutschlands zu fragen. Reichskanzler Otto von Bismarck, der selbst drei Jahre über preußischer Gesandter in St. Petersburg gewesen war, erklärte wenig später vor dem Reichstag [durchaus wahrheitswidrig], dass sein Land keine Interessen auf dem Balkan oder im Nahen Osten verfolge und soweit neutral bleibe, als die Integrität der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gewahrt bleibe.

Das Regnum Alexanders II. gilt für die Juden im Zarenreich als die Zeit der „Ruhe vor dem Sturm“. Tatsächlich brachen die schlimmsten Pogrome erst nach dem letzten, tödlich verlaufenen Attentat auf den Zaren von 1881 los.

Der deutsche Historiker der Universität Hannover, Hans-Heinrich Nolte, nimmt sich in seiner Kleine(n) Geschichte Rußlands (Stuttgart 2003, S. 149f) diesem Kapitel wie folgt an:

Auch die Juden Rußlands waren gebildeter als ihre russische oder polnische Umwelt – jeder Jude kann die Thora lesen. Aber die Juden waren in ihrer rechtlichen und sozialen Stellung unterprivilegiert. Die mit Abstand größte Gruppe, die jiddisch sprechenden Aschkenasim, waren als Folge der Eroberung Polens russische Untertanen geworden und bildeten als Kleinhändler, Geldverleiher und Handwerker eine Zwischenschicht zwischen Adel und Bauern. Rußland verbot die Ansiedlung von Juden außerhalb der alten polnischen Grenzen und des ehemals türkischen Südens. Innerhalb dieses Ansiedlungsgebietes bildeten sie die überwiegende Bevölkerung der Städte, die aufgrund ihrer sozialen Lage und ihres Bildungshintergrunds weit überdurchschnittlich in die industriellen und akademischen Berufe strebte.

Durch ihre religiöse und kulturelle Besonderheit waren die Juden seit alten Zeiten Objekte des christlichen Antisemitismus, der aus vielfältiger Verschuldung und Abhängigkeit ukrainischer und polnischer Bauern heraus leicht zu aktualisieren war. Als akademisch und industriell führende Schicht aber eigneten sich die Juden auch als Sündenböcke eines konservativen Antikapitalismus. Es entstand eine antisemitische rechtsradikale Bewegung, besonders in der Ukraine, die – nicht selten mit Billigung der Behörden – Pogrome veranstaltete und in Krisensituationen immer wieder versuchte, Schuld auf die Juden zu wälzen. Die Juden antworteten zum Teil durch die Auswanderung nach Amerika, zum Teil, indem sie sich in revolutionären Parteien engagierten – wo sie deutlich überrepräsentiert waren –, zum Teil, indem sie sich der Idee zuwandten, daß auch das Volk Israel eine moderne Nation mit einem eigenen Territorium werden müsse, der Idee des Zionismus. Der größte Teil allerdings ertrug Bedrohung und Benachteiligung in Geduld oder auch in der Hoffnung der Chassidim auf den „verborgenen Gerechten“.

Der Historiker der verehrungswürdigen, US-amerikanischen Columbia University, Simon Schama, sieht in Belonging. The Story of the Jews 1492-1900 (London 2017/2018, S. 611f) die Situation der Juden während und nach Zar Alexander II.:

… Sympathy in non-Jewish Russia was limited. For there was an additional element now enriching the stew of hatred: conspiracy theory…

When the paranoia about revolutionaries undermining the regime gathered force, the sense that the Jews were an incorrigibly estranged, dangerously subversive element in Russian society became a standard mindset in certain quarters of the government. The charge of ‘separateness’, a staple accusation directed against religious Jews, was neatly transferred to revolutionaries and became tantamount to treason. The fact that the Jews were notoriously literate, studious not just in the Talmud (…) but also now in secular disciplines, with a strong presence in journalism and political and philosophical literature, only intensified this police paranoia. Where once their esoteric religious texts had been the scripture of subversion, now it was their immersion in, and propagation of, anarchism and socialism that marked them out as enemies of Mother Russia and the world beyond…

It was natural, then, that when one of the revolutionaries involved in the assassination of Tsar Alexander II., Gesya Gelfman, was identified as a Jewish woman, the violent death of the sovereign could, at the popular level, be characterized as the fruit of a malevolent Jewish plot. ‘The Jews killed the tsar’ was the wildfire rumour among peasants who believed his successor Alexander III. was a friend of the landlord class in cahoots with the Jews…

A wave of pogroms broke out around Easter/Passover 1881, often again with some sort of quasi-religious detonator so that the murdered Christ and the murdered tsar became one and the same victim of you-know-who…

Zurück zur besprochenen Publikation und deren Porträt der Stadt Charkiw/Charkow: Um Ihrem Prachtwerk, aber auch dem Gegenstand Russland, eine gewisse, publikumswirksame, Aufwertung mit auf den Weg geben zu können, hatten die beiden Herausgeber die Redaktion der „Illustrierten Bibliothek der Länder- und Völkerkunde“ um die Abfassung eines Vorworts gebeten, eine Bitte, der deren leitende Mitarbeiter, Friedrich von Hellwald und Richard Oberländer, auch entsprachen.

Zitat:

Niemand verhehlt sich wohl heute, daß selbst das gebildete Publikum Westeuropa’s lange Jahre hindurch in einer seltsamen Unterschätzung des Russenthums befangen war. Sind doch auf solche Unkenntniß die Überraschung und das Staunen zurückzuführen, womit man die Leistungen Rußlands sowohl auf der Wiener Weltausstellung 1873 als neuerdings auf der internationalen Ausstellung der geographischen Wissenschaften zu Paris im August 1875 betrachtete. Die stille, geräuschlose Thätigkeit, welche dieser Staat auf allen Gebieten menschlicher Kultur seit der Thronbesteigung des regierenden Kaisers Alexander II. entfaltet, legt uns die bestimmte Pflicht auf, das Ringen eines hochbegabten, thatkräftigen Volkes nach Wissen und Gesittung mit aufmerksamen Blicken zu verfolgen. Ursachen und Ziele dieses Strebens lernen wir aber erst dann erfassen und würdigen, wenn wir zuvörderst „Land und Leuten“ näher getreten sind. Dazu beizutragen ist der hauptsächliche Zweck unseres Buches…

Über die beiden Herausgeber des Werkes wird in diesem Vorwort weiter unten noch berichtet, dass sie „jahrelange“ Aufenthalte in Russland zu ihren Ausführungen ganz besonders befähigten.

„Das heutige Rußland“ besteht aus zwei Bänden, von denen der erste dem europäischen Teil, der zweite dem asiatischen des Riesenreiches gewidmet ist. Den hier interessierenden ersten Band, „Das Russische Reich in Europa“, haben seine Herausgeber unterteilt in die Hauptkapitel: St. Petersburg, Finnland, Das nördliche europäische Rußland und Nowaja-Semlja, Von St. Petersburg nach Moskau, Von Moskau nach Nischni-Nowgorod, Die Wolga von ihrem Ursprung bis Astrachan, Kleinrußland, Südrußland, Die Krim, Das vormalige Königreich Polen und Lithauen, Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen (Estland, Livland, Kurland). Eine Durchsicht der Unterkapitelüberschriften belehrt den modernen Leser darüber, dass ‚Ukrainisches‘ in mehreren Kapiteln zusammengesucht werden muss, denn eine eigene Verwaltungseinheit Ukraine oder ein eigenes Territorium Ukraine, das dem Gebilde ähneln könnte, das wir heute als Ukraine kennen, hat es zur Zeit der Abfassung noch nicht gegeben.

Informationen ganz speziell zur Stadt Charkow stehen, neben anderen Unterkapiteln wie „Poesie der Kleinrussen“, „Die Ukraine“, „Charakter der Kleinrussen im Vergleich zu den Großrussen“, „Kiew“ und „Volksaberglauben“ im Kapitel VII, „Kleinrußland“ auf den Seiten 263-266:

Die Ukraine/Ukrainische Dörfer/Charkow

Wer Land und Leute kennen lernen will, der dürfte wohl, um diesen Zweck zu erreichen, jede andere Reisegelegenheit der Fahrt auf der Eisenbahn vorziehen. Wenn man sich aber, wie dies zwischen Kursk und Charkow der Fall ist, der Grenzscheide von zwei in Charakter, Sitten und Lebensart so heterogenen Volksstämmen nähert, wie es Großrussen und Ukrainer sind, so wird die Wahl der großen Landstraße jedenfalls besonders lohnend sein.

Wenn man auf der an 34 Meter breiten, von Gräben eingefaßten Landstraße von Kursk nach Charkow wandert, wird man schon wenige Meilen nach Kursk den Übergang aus Groß- nach Kleinrußland bemerken. Man sieht an der Bauart der Häuser, daß man sich in einer waldarmen Gegend befindet. Die Fugen zwischen den übereinander gelegten Balken sind mit Lehm verschmiert. Zum Teil bestehen die Wände der Häuser, wie im Süden, aus Flechtwerk und Lehm. Die Dörfer sind meistens sehr ausgedehnt und ziehen sich oft mehrere Werst weit zu beiden Seiten der Landstraße hin. Das hügelige Land hat aufgehört und man sieht ein unabsehbares Feld vor sich, dessen Einförmigkeit durch Gebüsche und kleine Laubwälder unterbrochen wird. – Auffallend ist die große Menge von Singvögeln, die in den schattigen Gebüschen und Hainen in der Nähe der Dörfer nisten: die kurskischen Nachtigallen werden trotz ihrer ebenbürtigen ukrainischen Schwestern in ganz Rußland sehr geschätzt. Die russischen Kaufleute namentlich treiben einen großen Luxus mit diesem Singvogel, und es ist nichts Seltenes, daß eine vorzügliche Nachtigall mit 100 – 150 Rubel bezahlt wird. In Moskau erschallen im Gostinoi-Dwor mitten im Geräusche der hin- und herwogenden Menge, die schmetternden Triller der Lerche und die harmonischen Weisen der Nachtigall. Es gibt in dieser Stadt wohl keine Restauration, wo nicht bei heller Gasbeleuchtung vom November bis Ende Juni eine kurskische Nachtigall im Käfig schlüge.

Die Dörfer sind hier ohne Ausnahme von großen Gärten umgeben. Auch einen in der Ukraine und in Kleinrußland sehr geschätzten Gast findet man hier: gravitätisch spaziert der Storch auf dem Felde in der Nähe des Hauses einher, während seine Ehehälfte mit dem Schnabel klappernd auf einem Bein im Neste steht. – Auf der Landstraße begegnet man immer häufiger jenen mit Ochsen bespannten, schmalen Fuhrwerken, die in endlosen Zügen meist Getreide aus Kleinrußland führen. Überhaupt verschwindet nach und nach das Pferd als Zugtier, der Ochse tritt an dessen Stelle. Auch zahlreiche Herden silbergrauer, podolischer oder tscherkessischer Ochsen sieht man zur Schlachtbank nach Moskau treiben; des Nachts weiden sie an den Grabenböschungen der Straße, während die Führer in malerischen Gruppen tabakschmauchend um die hellodernden Feuer sitzen und ihr jederzeit sehr einfaches Nachtmahl kochen.

Unter der Regierung des Zaren Alexei, des Vaters Peter’s des Großen, traten viele Kosaken aus dem Süden in russische Dienst; aus den selben wurden verschiedene Regimenter gebildet, welche man an den Grenzen als Schutz gegen Polen in „Sloboden“ ansiedelte. Die Vorteile, welche die Ansiedler hier fanden, zogen mit der Zeit noch mehrere derselben herbei. Es entstanden aus den Sloboden die Städte Charkow, Isum u.a., und der ganze schmale, nordwestliche Strich des Landes von Kleinrußland, wo die Kosaken sich in Sloboden niedergelassen und viele Dörfer gegründet hatten, erhielt den Namen Ukraine, d.h. Grenzland, Mark, von dem russischen Worte „Krai“, d(as) i(st) Rand. Die Bewohner dieses Landstriches waren durchaus durch keinen nationalen Unterschied von den Kleinrussen getrennt, wurden jedoch mit dem besonderen Namen „Ukrainzi“ (Ukrainer), d.h. an der Grenze Wohnende, benannt. Diejenigen Teile Kleinrußlands, welche die heutigen Gouvernements Poltawa, Kiew und Tschernigow bilden, gehörten nicht zu der Ukraine, sondern machten das eigentliche Kleinrußland aus. Eben so wenig wie es auf der Karte eine Grenze zwischen der Ukraine und Kleinrußland gibt, so wenig nennen sich auch die Bewohner der Ukraine anders als „Malorossi“, d.h. Kleinrussen. Bis zum Jahr 1836 gab es noch einen Generalgouverneur von Kleinrußland. Heute kennt man nur die Gouvernements von Poltawa, Kiew, Tschernigow und Charkow.

Die meisten Dörfer in der Ukraine, wie überhaupt in Kleinrußland, gewähren einen recht malerischen Anblick, besonders wenn man nach langer Wanderung über das einförmige Plateau der Steppe an einem jener großen Dörfer anlangt, macht die anmutige Lage desselben einen umso angenehmeren Eindruck. Diese Dörfer zählen meist 3 – 4000 Einwohner und liegen nicht auf der Ebene der Steppe, sondern an solchen Orten, wo dieselbe sich in Schluchten und Talgründen verzweigt. An den Abhängen der letzteren, denen selten ein murmelnder Bach fehlt, lehnen sich die von Blumengärten und Hollundersträuchern umgebenen Häuser; weithin zerstreut verschwinden sie fast gänzlich in grünem Laube. Auf den Vorsprüngen der Talränder erheben sich zwei bis drei Kirchen mit ihren Türmen. Zahlreich kleine Windmühlen schließen auf der Höhe der Steppe in einem weiten Kranze das Bild ab.

Die Bevölkerung dieser Dörfer bestand bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft aus leibeigenen Bauern, aus freien Bauern und Edelleuten. Die freien Bauern nennen sich im gerechten Stolze auf ihre Freiheit und ihre Abkunft noch heute „Kosaken“; sie scheiden sich scharf von den früheren Leibeigenen, leben im Dorfe getrennt von diesen und vermischen sich selten durch Heirat mit ihnen. Die großen Sloboden in Kleinrußland, von denen manches Dorf mehr als hundert zählt, sind die Wiege des kleinen Adels. Derselbe ist aber meist so verarmt, daß er außer seinen verbrieften Adelsrechten nichts besitzt. In Bildung, in Lebensart und selbst Kleidung unterscheiden sich diese kleinen Edelleute wenig vom Bauer. Es gibt im Süden von Großrußland, besonders aber in Kleinrußland, eine Masse solcher verbauerten, den polnischen „Schlachtizen“ ähnliche Edelleute, welche gewissermaßen eine besondere Adelskaste bilden und mit dem Namen „Odnodworzi“ (Einhöfler) bezeichnet werden. Vor einigen Jahren hat die Regierung die Adelsrechte derselben einer näheren Prüfung unterworfen, infolge deren Hunderte von Namen aus den Adelsbüchern gestrichen wurden. Es gibt jedoch unter den Edelleuten im Dorfe auch wohlhabende, deren geschmackvoll gebaute Häuser mit Gärten und Wirtschaftsgebäuden nicht wenig zur Zierde des Dorfes beitragen; hin und wieder trifft man ein Schloß, stolz aus seinem Parke hervorragend.

Es ist wohl natürlich, daß bei dem Verkehr von zwei in Charakter, Sitten und historischer Entwicklung so verschiedenartigen Völkern, wie die Groß- und Kleinrussen, das gegenseitige Verständnis und mithin auch die rechte Sympathie fehlt. Der Kleinrusse nennt seinen Vetter stirnrunzelnd „Moskal“, d.h. Moskowiter; dieser, der mehr ein Auge für die Fehler als für die Vorzüge jenes hat, spricht geringschätzend von dem „Chochol“. Das verhindert jedoch beide nicht, im Ganzen recht gute Freunde zu sein. Mit dem Spottnamen „Chochol“ hat es folgende Bewandtnis: Chochol heißt soviel als Schopf oder Zopf; die Kleinrussen hatten und haben oft auch noch die Gewohnheit, den unteren Teil ihres Haupthaares zu scheren und und auf dem Schädel einen langen Haarbüschel stehen zu lassen, sodaß das Haar zu beiden Seiten herunterhing; häufig wurde dasselbe in Zöpfe geflochten und um die Ohren gelegt.

Der Kleinrusse ist kein Freund vom Leben in der Stadt, er wohnt am liebsten auf dem Lande, in den großen Dörfern, im Chutor. Selbst der reichere Adel besucht die Gouvernementsstadt nur dann, wenn seine Pflicht oder sein Interesse ihn dahin ruft. Daher kommt es auch, daß es im Verhältnis zu der über 10 Millionen betragenden Bevölkerung Kleinrußlands wenig Städte gibt, und daß die industrielle Entwicklung derselben hinter den Städten Großrußlands weit zurückgeblieben ist.

C h a r k o w, die Hauptstadt der Ukraine, oder, wie es noch vor einigen Jahren hieß, des slobodo-ukrainischen Gouvernements, ist nebst Kiew nicht nur die bedeutendste Stadt von Kleinrußland, sondern überhaupt in vieler Beziehung eine der wichtigsten Gouvernementsstädte von ganz Rußland. Charkow ist, wie fast alle Städte Kleinrußlands, eine junge Stadt. In den ersten Jahren der Regierung des Zaren Alexei Michailowitsch [1629-76; Thronbesteigung 1645] erbaute hier ein Kosak, namens Charkow, auf dem hohen Ufervorsprung der Flüßchen Lopan und Charkowka seine Lehmchate. Bald fanden sich noch mehr Ansiedler ein, sodaß nach und nach die Slobode Charkow entstand. Der Zar verlegte ein Kosakenregiment nach der in kurzer Zeit zu einer Stadt erblühten Slobode. Im Jahre 1780 wurde Charkow Sitz des Gouverneurs der Ukraine. Die günstige Lage, am Knotenpunkt der drei Hauptstraßen, die nach dem Asow’schen und Schwarzen Meere führten, hat viel zu dem schnellen Emporwachsen der Stadt beigetragen.

In vielen Beziehungen läßt sich, wenn auch in verjüngtem Maßstabe, zwischen Kiew und Charkow eine ähnliche Parallele führen, wie zwischen Moskau und Petersburg. Auch Kiew, die Wiege des Altrussentums, erscheint, wenn man die vorhandenen polnischen Elemente in Abrechnung bringt, mit seinen Monumenten der Vergangenheit, als echter Vertreter des altrussischen Elements, wogegen Charkow in seiner Entwicklung, seinem Aufblühen die moderne Phase des Russentums bezeichnet.

Die Gesellschaft, das rege geistige Leben, die Universität und Bildungsanstalten der verschiedensten Art, sowie der blühende Handel zeichnen Charkow vor allen Gouvernementsstädten Rußlands aus.

Charkow hat 60 000 Einwohner und ist nach Odessa, Kiew und Kasan die größte Provinzialstadt in Rußland. Gleich den meisten russischen Städten gewährt Charkow auf dem über hundert Fuß hohen Flußvorgebirge, mit seinen vorzüglichsten Gebäuden, der Universität, dem Kloster und dem großen Gostinoi-Dwor, einen recht malerischen Anblick. Die meist aus elenden Lehmhütten bestehenden Vorstädte stehen zwar nicht mit der inneren Stadt, mit ihren geraden, breiten Straßen und schönen drei- bis vierstöckigen steinernen Häusern im Einklang, doch findet man solche Kontraste in den meisten russischen Städten; nach einem Jahrhundert werden auch diese Gegensätze verschwunden sein.

Außer der Universität, zwei Gymnasien und vielen Privatunterrichtsanstalten hat Charkow einen botanischen Garten, eine öffentliche Bibliothek, welche besonders viele alte Handschriften enthält, ein naturhistorisches und ein physikalisches Kabinett.

Die günstige Lage der Stadt hat dem Handel derselben einen großen Aufschwung gegeben und die Märkte, namentlich die Wintermessen, sind die bedeutendsten in Kleinrußland. Charkow ist Zentralpunkt des ganzen Handels zwischen Norden und Süden des weiten Russischen Reiches, daher hat es unter allen kleinrussischen Städten die größte Zukunft vor sich.

(Die Wiedergabe des Textes erfolgte der besseren Lesbarkeit wegen in einer der modernen Orthographie angepassten Schreibweise. Erläuternde Ergänzungen wurden in eckigen Klammern [ ] eingefügt.)

Anmerkungen:

Friedrich (Anton Heller) von Hellwald (1842-1892) war ein österreichischer Kulturhistoriker, Publizist und Redakteur.

Richard Oberländer (1832-1891) stammte aus Sachsen und trat als Forschungsreisender, Kartograf, Redakteur und Schriftsteller in Erscheinung.

Die „Illustrierte Bibliothek der Länder- und Völkerkunde“ bewegte sich am Rande zwischen Populärwissenschaft und Wissenschaft. Während einige Ihrer Publikationen noch heute als wertvolle Dokumente ihrer Zeit gelten, kann über andere heute nur noch geschmunzelt werden.

Über H. von Lankenau (1813-1888), dessen Vorname selbst von der DNB lediglich mit dessen Anfangsbuchstabe wiedergegeben wird, ist bekannt, dass er als Publizist und Autor tätig war.

L(udwig Eugen) v(on) d(er) Oelsnitz (1809-1891) war preußischer Offizier gewesen, ehe er Korrespondent der Kölner Zeitung und Deutschlehrer in Moskau wurde. Er wirkte auch als Schriftsteller.

Werst = Längenmaßeinheit, die im Zarenreich von 1721 bis 1917 in Gebrauch war; entspricht ca. 1,07 km.

Gostinoi-Dwor => Gostiny Dwor bedeutet so viel wie Kaufhaus, Laden, Verkaufshalle, Kaufhof.

Restauration = veraltet für Restaurant, Gasthaus, Wirtshaus.

Podolien = historische Landschaft, die die südwestliche Ukraine und den Nordosten des heutigen Moldawien (einen Teil der Pridnestrowje/Transnistriens) einschloss.

Tscherkessen = Kaukasus-Volk, Eigenbezeichnung Adyge, lebt nach intensiver Verfolgung ab dem 19. Jh. in seiner Mehrheit in der Diaspora (Naher Osten, Türkei, Balkan, USA, Europa). Tscherkessische Frauen galten im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. in der Unterhaltungsliteratur und in Medien verschiedener Länder Europas als Inbegriff für exotische, weibliche Schönheit.

Chochol >> Das Russisch-Deutsche (Basis-) Wörterbuch (ca. 53 000 Stichwörter) des Verlags Russkij Jazyk, 11. Auflage, Hg.: K. Leyn, Moskau 1991, gibt als Erstbedeutung für Chochol (Betonung auf der zweiten Silbe!) „Schopf“, „Haube“, „Federbusch“, und, zweitrangig, als umgangssprachliche Entsprechung „Ukrainer“ an. Das ähnliche geschriebene Chachal, betont auf der ersten Silbe, ist das russische Wort für „Liebhaber“ bzw. „Geliebte“.

Chutor = in der Übersetzung „Einzelgehöft“, „Anwesen“ oder „Einzelhof“, jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch auch so viel wie Weiler, oder Ansammlung von wenigen Gehöften.

Chate = Hütte

 

Als zweiter Text zu Charkow diene ein Lexikoneintrag aus dem legendären „Pierer“, der ebenfalls im Jahre 1876 veröffentlicht, bzw. gedruckt, wurde.

Das „Encyklopädische Wörterbuch“ von Pierer kam während der Biedermeierepoche, genauer, ab 1824, heraus und verstand sich als „Anti-Brockhaus“. Es erschien noch vor dem ersten Meyer (1840), einer weiteren, bald hochangesehenen, deutschen Enzyklopädie. Der Pierer, zu dessen Mitarbeitern von Anfang an herausragende heimische Wissenschaftler gehört hatten, genoss noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (auch an deutschen Universitäten) einen guten Ruf als verlässliches historisches Nachschlagewerk. Die letzte mehrbändige Enzyklopädie, die den Namen Pierer trug, kam in den Jahren 1888-1893 in den Buchhandel.

Charkow, 1) russisches Gouvernement, (zu Klein-Rußland gehörend) im Norden an das Gouvernement Kursk, im Nordosten an das Gouvernement Woronesch, im Osten an das Land der donischen Kosaken, im Westen an das Gouvernement Poltawa und im Süden an das Gouvernement Jekaterinoslaw grenzend; 54 493, 9 qkm (…); 1870: 1 698 015 Einwohner; das Land bildet eine Hochebene von 100 – 150 m Seehöhe, wird von dem Donez bewässert, welcher den Mosch, Scherebez, Aidar, Oskol und den Lopan aufnimmt; die Flüsse haben tief eingeschnittene Täler, deren rechtsseitiger Rand überall steiler ist als der linke; 414 Werst Eisenbahnlinien: Kursk-Charkow-Taganrog 309 Werst und Elisabethgrad-Charkow 65 Werst; Klima mild und gesund, doch strenge Winter; Boden sehr fruchtbar; Ackerbau, Garten- und Weinbau; Vieh-, besonders Pferde-, Rindvieh- und Bienenzucht; die Industrie umfasst bes. Rübenzucker-, Wollen-, Baumwollen- und Lederfabrikation, Branntweinbrennerei etc. Der Handel ist nicht unbedeutend und erstreckt sich bes. auf Schafwolle, Vieh, landwirtschaftliche und industrielle Produkte; das Gouvernement enthält 11 Kreise.

2) Gouvernementssitz, an der Charkowka und dem Lopan, Knotenpunkt der oben genannten Eisenbahnen; Sitz eines Civilgouverneurs und des Erzbischofs von Charkow und Achtyrka; 18 Kirchen, worunter eine lutherische; Domänenhof, Medicinalverwaltung; Universität mit vier Fakultäten, von etwa 600 Studierenden besucht; Klinik, anatomisches Museum, Sternwarte, Naturaliencabinet, Botanischer Garten, theologisches Seminar; Theater; 1 Wollenhandelscompagnie; Rübenzucker-, Eisen-, Seifen- etc. –Fabriken, Webereien und Branntweinbrennereien; 4 bedeutende Messen; 1867: 59 968 Einwohner.

Charkow-Nikolajew, (1874) 642 km lange Eisenbahn in den russischen Gouvernements Charkow, Poltawa und Cherson; besteht aus den Linien Elisabethgrad-Charkow (408 km), und Snamenka-Nikolajew (234 km); hatte 1873 ein Betriebsmaterial von 58 Lokomotiven, 120 Personen- und 1142 Güterwagen und 1874 eine Einnahme von 428 Rubel auf 1 Werst; in ganz Rußland 655 Rubel auf 1 Werst; Direktionssitz: St. Petersburg.

(Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe. 6. Aufl., Vierter Band. Oberhausen und Leipzig 1876.)

Über die Juden, die in Charkow, ebenso wie in anderen großrussischen, weißrussischen und kleinrussischen Städten, lebten, bzw. über deren so wechselvolles Schicksal, erfuhr der zeitgenössische Leser der beiden oben zitierten Wissensquellen bedauerlicherweise ebenso wenig wie dessen moderner Ururenkel, der sich zum Beispiel der 26 bändigen Brockhaus-Enzyklopädie von 2003, einer der letzten der gedruckten Brockhaus-Ausgaben, bedienen möchte.

(Brockhaus Universal Lexikon von A – Z in 26 Bänden. Herausgegeben und bearbeitet von der Brockhaus Lexikonredaktion. F. A. Brockhaus GmbH, Leipzig 2003. Sonderausgabe für die Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg.)

Die Geschichte der Charkower Juden lässt sich aufgrund gegebener Quellenlage mit Sicherheit bis zum Jahr 1734 zurückverfolgen, als die Behörden des Zaren jüdischen Händlern gestatteten, die Stadt zu betreten und in ihr Handel zu treiben.

Da sich die Stadt außerhalb eines sog. Ansiedlungsrayons (in dem begrenzte Ansiedlung von Juden möglich war) befand, wurde jede Bewegung von Juden genau observiert, kontrolliert und registriert. 1821 verloren die Angehörigen der Minderheit ihre Aufenthaltsrechte in Charkow, konnten sie aber vierzehn Jahre später wiedergewinnen. Während der Regierungszeit von Zar Alexander II. (1855-81) betrieben die russischen Behörden eine ganz spezielle, sehr selektive Bevölkerungspolitik, ganz ähnlich übrigens wie zu gewissen Zeiten auch in deutschen Landen, in Bezug auf die Juden. Nur wer als nützlich erschien und/oder wohlhabend war, durfte sich ansiedeln. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Charkow zu einem der wichtigsten Zentren der Zionistischen Bewegung in Russland geworden. 1897 lebten gemäß Zensus annähernd 11 000 Juden in der Stadt. Während der Sowjetzeit nahm ihr Anteil stark zu. 1926 zählte man ihrer 65 000 und 1939 bereits 130 000. Es gab hebräische Schulen, jüdische Zeitungen und Buchverlage sowie hatten jüdische politische Organisationen entweder ihren Sitz in Charkow oder hielten dort ihre wichtigen Tagungen und Konferenzen ab.

Als die Deutschen kamen, ermordeten Sie die Charkower Juden zu Tausenden. Sie ließen sie verhungern und erfrieren oder verbrannten sie in Häusern, die sie zuvor sorgfältig verriegelt hatten; sie verabreichten jüdischen Kindern tödliches Gift und erschossen allein in der Schlucht Drobytsky Jar, dem Gegenstück zu Babyn Jar bei Kiew, etwa 15 000 Menschen.

[Warum zählt der oben genannte Brockhaus von 2003 in seinem Charkow-Eintrag Prunkbauten und christliche Einrichtungen minuziös auf, unterschlägt aber gleichzeitig den von Deutschen vorort begangenen Völkermord an den Juden? Sind denn irgendwelche Zierde und Status geweihte Gemäuer wirklich wichtiger als menschliche Schicksale? Muss das Gedenken an die Ermordeten tatsächlich vor dem Bedürfnis nach Unbeflecktheit des deutschen Namens zurückstehen?]

Auf die mit dem Leben Davongekommenen wartete ab 1948 erneutes Ungemach. Die altbekannten Repressionen des Sowjetkommunismus‘ der Nachkriegszeit machten auch vor Charkow nicht halt: das Jüdische Theater musste schließen, ebenso die letzte verbliebene Synagoge; der weit über die Grenzen seiner Stadt bekannt gewordene Rabbi Shmuel Lev sel. Ang. wurde verhaftet, Gläubige, die trotz des Verbotes die hohen Feiertage begehen wollten, ebenso. Erst unter Gorbatschow durften jüdische Kultur und jüdischer Glaube wiederaufleben. 1990 konnte die Charkower Choral-Synagoge, nachdem sie lange Zeit weltlichen Zwecken gedient hatte, wiedereröffnet werden. Dennoch machten jetzt Tausende lieber Aliyah als zu bleiben. Im Jahre 2000 lebten offiziellen Angaben zufolge ca. 50 000 Juden in Charkow, wenige Jahre später nur noch etwa 11 000.

Verwendete Literatur und Internetquellen:

„Russisches Reich – Geschichte“ In: Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte Aufl., Fünfzehnter Band. Leipzig und Wien 1897.
„Brockhaus“, „Meyer“, „Pierer“ In: Werner Lenz: Kleine Geschichte großer Lexika. Gütersloh u.a. 1972/1974.
Leo Sievers: Deutsche und Russen. Tausend Jahre gemeinsame Geschichte. (München) 1983. S. 332-394.
„Alexander II.“, „Berliner Kongreß“, „Leibeigenschaft“, „Orientalische Frage“, „Panslavismus“ In: Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. (Hg.) Hans-Joachim Torke. München 1985.
Dietrich Geyer: Späte Europäisierung. In: Gottfried Schramm (Hg.): Rußlands langer Weg zur Gegenwart. Göttingen 2001. S. 32-43.
Hans Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Russlands. Stuttgart 2003.
Horst Günther Linke: Geschichte Russlands. Von den Anfängen bis heute. Darmstadt 2006. S. 125-138.
Simon Schama: Belonging. The Story of the Jews 1492-1900. London 2017/2018.
https://www.yadvashem.org/righteous/stories/kharkov.html
https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/kharkiv
https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_the_Jews_in_Kharkiv#:~:text=During%20the%20Holocaust%2C%20when%20Ukraine,Jews%20living%20in%20the%20city.
https://en.wikipedia.org/wiki/Drobytsky_Yar
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Drobyzkyj_Jar

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