Mariupol einst und heute

0
91

Ein Ortsname stand in der ersten Jahreshälfte 2022 immer wieder in den Medien, einer unter dem sich zuvor kaum jemand etwas vorstellen, oder gar ihn geografisch zuordnen konnte: Mariupol. Ähnlich auslautende Toponyme wie Melitopol, Tarnopol, Sewastopol oder Simferopol hatte man sicher irgendwann am Rande registriert, aber Mariupol? – Noch so ein Ort irgendwo im Osten, zu dem sich kein Bezug herstellen läßt? – Oder doch ein Fleck Erde mit individuellen Merkmalen und Besonderheiten, die aufhorchen lassen könnten?

Von Robert Schlickewitz

Eher letzteres, meint der Autor, denn, z.B., wo außerhalb Griechenlands, und weit weg von Griechenland, gründeten turkophone Griechen in der Mittelneuzeit eine Stadt und stellten sie dort noch lange die Mehrheit der Bewohner! – Aber das ist noch lange nicht alles, Mariupol spielte zugleich auch mannifaltig in die nationalen Geschichten von Russen, Ukrainern, Juden und Deutschen hinein. Gründe genug also, sich mit der Stadt einmal näher zu befassen.

Jedoch, muss bedauerlicherweise einschränkend angemerkt werden, kann die unten wiedergegebene Mariupoler Stadthistorie in Chronikform nur als Diskussionsgrundlage angesehen werden, denn es gibt zu weiten Bereichen zu viele, zu unterschiedliche und zu widersprüchliche Aussagen, nicht nur bei den allerneuesten Entwicklungen.

Neolithikum

Es sind menschliche Ansiedlungen für den Raum der heutigen Stadt Mariupol nachweisbar.

16. Jahrhundert

Über eine Siedlung namens Adamacha als Vorgängerin der Stadt Mariupol berichten alte Dokumente. In ihrer Nähe lag im 16. Jahrhundert die Kosakenfestung Kalmius.

1778

Andere Aufzeichnungen nennen eine Stadt Pawlowsk, die bereits im Jahr darauf in Mariupol umbenannt wird. Der Name entstammt dem Griechischen und bedeutet übersetzt – Marienstadt. In der Folge siedeln sich dort christlich-orthodoxe, turksprachige Griechen an, die aus dem Krimchanat stammen.

1820

Aus diesem Jahr datiert die erste Erwähnung von Juden als Bewohnern von Mariupol. Bis Ende des 19. Jahrhunderts sollte ihre Zahl beständig zunehmen und es entstehen in der Stadt vier, nach anderen Angaben fünf, Synagogen sowie mehrere Gebetshäuser.

1853-1856

Der Krimkrieg schneidet Mariupol vom Seehandel ab und fügt der Wirtschaft der Region erheblichen Schaden zu. Im Jahre 1855 dringt ein britisch-französisches Geschwader ins Asowsche Meer ein und es kommt zu einem Gefecht zwischen Mariupoler Küstenartillerie und den Geschützen der Angreifer.

1864

Die älteste Synagoge von Mariupol, die in der Charlampiewskaja Ul. wird ihrer Bestimmung übergeben. Ihr Bau geht zurück auf eine Initiative des Handwerkers Abram Freiman. Zu seiner Zeit lebten knapp 400 Juden in der Stadt.

1882

Die zweite, Choral Synagoge genannte und bald Hauptsynagoge Mariupols, wird eröffnet. Sie liegt in der Georgijewskaja Ul. 18. Das Grundstück, auf dem sie steht, hatte der Kaufmann Anton Chabanenko zur Verfügung gestellt, während Josif I. Averbach (Auerbach) als ihr Hauptinitiator gilt. Das Gebäude ist im neoklassizistischen Stil, in vornehmlich unverputzter Ziegelbauweise errichtet. Seine Grundfläche misst 20 m auf 25 m und es weist durchgehend Rundbogenfenster, Pilaster sowie Gesimse auf. Die Südfassade, jene zur Straße hin gewandte, ziert ein Dreiecksgiebel. Damit sie sich besser von der sie umgebenden Architektur abhebt, erhält die Synagoge noch in den 1880er Jahren eine Kuppel.

In der Folgezeit entstehen zwei weitere Synagogen, eine in der Italiiskaja Ul. und eine in der Nikolajewskaja Ul. 

Ebenfalls 1882 wird Mariupol an das russische Bahnnetz angeschlossen und die Verbindung zum Donbass hergestellt, wodurch die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt zunimmt.

Anmerkung: Ul./Uliza (russ.), Vuliza (ukr.) = Straße

Mariupol 1885

1892

In Mariupol leben inzwischen ca. 7000 Juden.

1897

Jiddisch ist ganz offensichtlich bis zur Revolution neben Russisch die meistgesprochene Sprache in Mariupol. Ein Generalzensus des Jahres 1897 ergibt für den Bezirk Mariupol eine Gesamtzahl von 31 116 Bewohnern. Von diesen bedienen sich ca. 63 % der russischen, ca. 15 % der jiddischen und ca. 10 % der „kleinrussischen“ (ukrainischen) Sprache; Griechisch sprechen in ihrem Alltag ca. 5 % und Türkisch ca. 3 %.

Mariupol, Hafenstadt im russ. Gouv(ernement) Jekaterinoslaw, am Asowschen Meer, unfern der Mündung des Kalmius und an der Linie Jassinowataja-M(ariupol) der Donez-Eisenbahn, besteht aus der eigentlichen Stadt und zwei Vorstädten, Marinska und Karassu, hat 5 griechisch-katholische und eine römisch-kath(olische) Kirche, ein Theater, Gymnasium, Zollamt, Militärlazarett und (1889) 18 607 Einw(ohner), außer einer geringen Zahl Juden fast ausschließlich Griechen, welche lebhafte Gewerbthätigkeit (Fischsalzerei, Gerberei, Talgsiederei ec.) und bedeutenden Handel (Ausfuhr von Getreide, Leinsamen, Häuten und Talg) treiben. – Hier soll im Altertum die Stadt Adamacha gestanden haben; die jetzige Stadt entstand Ende des 18. Jahrh., als 18 000 Griechen aus der Krim nach Rußland übersiedelten und das Land um M(ariupol) erhielten (1779).

(Meyers Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, 11. Bd., „neuer Abdruck“, Leipzig und Wien 1897.)

Anmerkungen:

Die Stadt Jekaterinoslaw wurde 1926 in Dnjepropetrowsk/Dnipropetrovsk umbenannt und heißt seit 2016 Dnipro.

Das Asowsche Meer ist ein kleines, seichtes (nicht tiefer als 15 m) Binnenmeer, und, dank der erheblichen Süßwasserzufuhr durch Don und Kuban, nur mäßig salzig, jedoch ausgesprochen fischreich. Die geringe Tiefe weiter Teile des Gewässers erschwert den Schiffsverkehr. Winde bewirken, dass in den Hafenstädten Mariupol, Rostow am Don, Taganrog und Berdjansk die Wasserhöhe bis zu vier Meter ansteigen kann. Das Asowsche Meer weist zahlreiche Nehrungen, schmale Sandbänke, mit dahinterliegenden lagunenartigen Salzseen auf. Im Winter vereist der Nordteil, während der Süden zumeist eisfrei bleibt. Die Sommersonne bewirkt eine rasche und länger anhaltende Erwärmung des Wassers, wobei Wassertemperaturen von 25 bis 30 Grad gemessen werden. Benannt wurde das Binnenmeer nach der Stadt Asow (Gebiet Rostow, Russ. Föderation), die auf eine Gründung der Griechen lange vor Beginn der Zeitrechnung zurückgeht. Spätere Eroberer bzw. Bewohner der Region waren die Polowzer, die Venezianer, die Genuesen, die Tataren, die Osmanen und schließlich (18. Jh.) die Russen. In den Monaten Oktober und November 1941 fanden rund um das Asowsche Meer allerschwerste Kämpfe zwischen deutschen und sowjetischen Truppen statt, die viele Tausend Menschenleben forderten.

Erster Weltkrieg, Oktober-Revolution, Bürgerkrieg

Im Jahre 1917 besetzen österreichisch-ungarische bzw. deutsche Truppen Mariupol. Im Bürgerkrieg der Revolution ergreift die Stadtbevölkerung, ein hoher Anteil gehört dem Industrieproletariat an, die Partei der Bolschewiken. Dennoch sind es die Weißen, die Anhänger des alten Regimes, die 1918 die feindlichen Besatzungstruppen aus der Stadt jagen. Frankreich, das die Weißen unterstützt, besetzt 1919 kurzfristig Mariupol. 1920 ergibt sich die Stadt den Matrosen der Asow-Flotille der Roten. Der Bürgerkrieg führt in vielen Teilen des ehemaligen Zarenreiches zu unvorstellbaren Grausamkeiten vor allem gegenüber jüdischen Menschen. Sowohl die Weißen als auch die Roten suchen und finden in Juden Sündenböcke, die sie nach Gutdünken und zu Tausenden abschlachten, vor allem auf dem Gebiet der Ukraine.

1926

Eine Volkszählung stellt einen Anteil von 11 % Juden an der Mariupoler Stadtbevölkerung fest.

1930

Die Gründung des berühmten Stahlwerks „Asowstal“ wird feierlich begangen. Später, während des Zweiten Weltkriegs, wird es speziell gehärteten Stahl für den Panzer T-34, für Torpedoboote sowie für das Schlachtflugzeug Il-2 Schtormowik, daneben noch Pontons, Panzersperren und die Mäntel für Fliegerbomben liefern. Im Russisch-ukrainischen Krieg des Jahres 2022 sollte es eine Schlüsselstellung einnehmen.

Mariupol 1936

1930er Jahre

Die Choral- bzw. Hauptsynagoge Mariupols, die anders als die christlichen Kirchen, die gesprengt wurden, die Wirren der Revolutionszeit relativ unbeschadet überstanden hatte, wird im Zuge der sowjetischen, religionsfeindlichen Innenpolitik geschlossen und bald darauf als Turnhalle eines Gymnasiums genutzt.

Zweiter Weltkrieg

Die Besatzung Mariupols durch die Wehrmacht dauert vom 8. Oktober 1941 bis 10. September 1943. Als die Deutschen kommen, leben 241 000 Menschen in der Stadt, als sie sie verlassen, sind es nur noch 85 000. Deutsche erschießen ca. 10 000 Stadtbewohner. 50 000 junge Männer und Frauen verhaften sie von der Straße weg und deportieren sie zur Zwangsarbeit ins Reich. Wer kann, flüchtet.

Am 21. und 22. Oktober 1941 findet in der Nachbarstadt Berdjansk die Erschießung von etwa 10 000 Mariupoler Juden durch Angehörige des Sonderkommandos 10 A der Einsatzgruppe D statt. Die Verantwortung trägt SS-Obersturmbannführer, später Standartenführer, Heinrich Seetzen. In Berdjansk erinnert heute das Mahnmal „Memorial Menorah“ an die ermordeten Mariupoler Juden.

Ab 1942 fällt die Stadt ins Einsatzgebiet der Partisanen. Sabotageakte gegen die von den Besatzern genutzte Infrastruktur und Überfälle auf kleinere Gruppen von Wehrmachtssoldaten beginnen sich zu häufen. Die übliche, deutsche Reaktion darauf besteht in Terrorakten gegenüber den Stadtbewohnern wie etwa Geiselerschießungen.

In den deutschen Kriegsgefangenenlagern in und um Mariupol sterben 36 000 sowjetische Soldaten an Hunger, Kälte, Krankheiten oder unter den Misshandlungen ihrer Bewacher.

Die Stadt Mariupol wird von Truppen der 44. Armee der Südfront der Roten Armee und von Marinesoldaten der Asow-Flotille befreit.

Mariupol, 1943

Anmerkungen:

Heinrich Seetzen, geb. 1906 in Rüstringen, NSDAP- und SA-Mitglied, war Arbeitseinsatzführer des Konzentrationslagers Eutin und Leiter der Staatspolizei Eutin gewesen, ehe er SS-Mitglied und Angehöriger der Gestapo wurde. Ihm oblag die Erschießung nicht nur der Mariupoler, sondern auch, ebenfalls 1941, die der Juden aus Taganrog und 1942 der Einsatz eines Gaswagens. Seetzen beging im September 1945 bei der Verhaftung durch die britische Militärpolizei Selbstmord.

(Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Hamburg 2016.)

Nahezu sämtliche Angaben zum Völkermord der Deutschen an den Juden von Mariupol mussten nichtdeutschen Quellen entnommen werden. Weder die einschlägigen, „klassischen“, deutschen Nachschlagewerke (Brockhaus) noch die virtuelle (deutschsprachige) Enzyklopädie Wikipedia waren/sind in der Lage die Nachkommen der Opfer und die Nachkommen der Täter umfassend zu informieren.

Warum können wir Deutschen nicht endlich offen und ehrlich mit unserer Geschichte umgehen!

1955

Mariupol, seit 1948 Shdanow, Hafen und Industriestadt am Asowschen Meer, in der Ukraine mit (1939) 222 400 Einw(ohnern); Getreide-, Kohlen-, Eisenerzhafen; Hütten- und Walzwerke, Herstellung von Rundfunkgeräten, Schiffsreparaturwerk mit Schwimmdock, Getreidesilos und Lagerhäuser.

(Der Grosse Brockhaus (12 Bde.), 16. Aufl., Wiesbaden 1955.)

Anmerkung:

Der Sohn der Stadt und ihr vorübergehender Namenspatron, Andrej Alexandrowitsch Shdanow/Schdanow/Zhdanow (1892-1948), war ein sowjetischer Politiker und ergebener Anhänger Stalins gewesen. Zum Nachfolger seines ermordeten Vorgängers S. Kirow ernannt, wurde er bald zur Schlüsselfigur der sowjetischen Innenpolitik. Shdanow war maßgeblich an den sog. „Stalinistischen Säuberungen“ (1935-1938) beteiligt, die Hunderttausenden die Freiheit, die Gesundheit oder das Leben kosteten. Verdienste erwarb sich Politbüromitglied Shdanow bei der Verteidigung Leningrads gegen die Deutschen. Ab 1946 fielen mit scharfen Repressionen verbundene Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Intellektuellen und Künstlern der Sowjetunion in seinen Zuständigkeitsbereich. Diese ganz besonders traurige Phase sowjetischer Nachkriegs-Innenpolitik, die auch Leben und Karriere zahlreicher Juden („Kosmopoliten“) der UdSSR bedrohte oder vernichtete, wurde nach ihrem Urheber benannt: „Shdanowschtschina“.

1973

Mariupol, bis 1948 Name der Stadt Schdanow in der Ukrain. SSR.

Schdanow, bis 1948 Mariupol, Stadt in der Ukrain. SSR, Hafen am Asowschen Meer, an der Kalmius-Mündung mit (1970) 417 000 Einw(ohnern), wichtiger Umschlagplatz für Kohle-, Eisen- und Manganerz, Getreide, Salz; Standort von zwei Hütten- und Stahlwerken („Asowstal“, „Iljitschwerk“), Maschinenbau, Schiffbau, chem(ische), elektrotech(nische) und Nahrungsmittelind(ustrie); Metallurg(isches) Institut, drei Fachschulen, Theater.

(Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bdn., 17. Aufl., Wiesbaden 1971 (Mariupol)/1973 (Schdanow).)  

Anmerkung:

Weder die Brockhaus-Enzyklopädie der 16. noch die der 17. Auflage gibt die Anzahl der von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs getöteten bzw. ermordeten Ukrainer an. Weder unter dem Stichwort „Ukraine“, noch unter „Ukrainer“ oder unter „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ finden sich Zahlen zu den ukrainischen Opfern von uns Deutschen.

1982

Shdanow, Hafenstadt am Asowschen Meer (Ukrain. SSR); 500 000 E(in)w(ohner); Eisenmetallurgie, Schwermaschinenbau; Hochschule; Theater; Kurwesen.

(BI Lexikon. A bis Z in einem Band. (Hg.) Lexikonredaktion des VEB Bibliographisches Institut Leipzig. Leipzig 1982. 3. Aufl.;201.-320. Tsd.)

Anmerkung:

Das DDR-Lexikon macht zurecht darauf aufmerksam, dass Mariupol/Shdanow nicht nur eine Schwerindustriestadt, sondern auch eine Kurstadt war, mit sämtlichen dazugehörigen Einrichtungen.

Am Rande ebenfalls von Interesse erscheint, dass die BI-Redakteure zwar die Stadt Shdanow einer Aufnahme für würdig befanden, deren, inzwischen umstrittenen, Namenspatron hingegen in ihrem Lexikon aussparten.

1989 oder 1990

Noch vor Ende der Sowjetunion erhält die Stadt Mariupol ihren alten Namen zurück.

Mitte der 1990er Jahre

Schneemassen drücken das Dach der Mariupoler Choral Synagoge ein. Der rapide Verfall des bereits länger nicht genutzten Gebäudes nimmt seinen Lauf.

Choral Synagoge Mariupol, (c) Wanderer777 / CC BY-SA 4.0

Während des Krieges hatte die Synagoge als Lazarett der Besatzer und als Sammelstelle für Arbeitskräfte gedient; 1944 war sie in Brand geraten aber schon bald wieder instand gesetzt worden. Danach wurde in ihr eine sowjetische Organisation, die sich um den Wiederaufbau der Industrie kümmerte, untergebracht, später verschiedene Schulen. Zumindest eine der Tora-Rollen der Synagoge hat überlebt und kam in ein Museum.

Die jüdische Gemeinde Mariupols reorganisiert sich.

2001

Laut Umfrage sprechen fast 90 % der Mariupoler Bürger im Alltag Russisch, knapp 10 % Ukrainisch und 0,2 % Griechisch. Außer der Synagogenruine und mehreren christlichen Kirchen gibt es noch drei Moscheen in der Stadt.

2002

Eine Volkszählung ergibt folgende Verteilung der Mariupoler Bevölkerung nach Ethnien:

48,7 % Ukrainer, 44,4 % Russen, 4,3 % Griechen und 0,2 % Juden.

2014

Prorussische Demonstranten fordern im März lautstark eine Stadtratssitzung, in der über ein Referendum diskutiert und abgestimmt werden soll. Im Mai brechen Kämpfe zwischen prorussischen Milizen und dem ukrainischen Militär aus; sie ziehen sich über einen Monat lang hin. Im Januar 2015 greifen prorussische Rebellen erneut mit Raketen die ukrainische Staatsmacht an, wobei es Tote und Verletzte zu beklagen gibt. Eine ukrainische Gegenoffensive beendet vorübergehend weitere Kampfhandlungen.

2016

Die Jüdische Gemeinde von Mariupol erhält zumindest das Grundstück der Choral Synagoge wieder zurück. Das Gebäude jedoch gehört noch einem anderen Eigentümer und so bleibt der bisherige Zustand, es stehen nur noch Fassaden- und Grundmauern, unverändert.

2017

Statistiken geben die Anzahl der Russischsprechenden in Mariupol mit 60-80 % an.

2021

In der Ruine der Mariupoler Choral Synagoge findet eine Feier zum Gedenken an den 80. Jahrestag des Holocaust in der Ukraine statt, an der auch der Bürgermeister teilnimmt. Die Stadt anerkennt öffentlich die Bedeutung der Immobilie der jüdischen Gemeinde und bezeichnet eine Restaurierung als ebenso „wünschenswert“ wie die vollständige Rückgabe an die jüdische Gemeinde.

2022

Am 1. März umschließen russische Truppen die Stadt, heftige Kämpfe toben, u.a. das Mariupoler Theater wird mit Raketen beschossen. Es gibt offensichtlich mehrere Hundert Opfer. Mitte Mai befindet sich die ganze Stadt, mit Ausnahme des Stahlwerks, in russischer Hand. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 90 % der Bausubstanz Mariupols entweder erheblich beschädigt oder ganz zerstört ist. Ebenfalls von den Kämpfen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden die bei Ukrainetouristen bis dahin so beliebten, zum Teil im Originalzustand erhalten gebliebenen, Griechendörfer im Mariupoler Umland.

Exodus der Mariupoler Juden: Unter dem Eindruck der Kämpfe verlassen bis zu 16 000 Juden die Stadt. Nur wenige bleiben zurück.

In der Jüdischen Allgemeinen Nr. 21/22 vom 25. Mai 2022 berichtet Vyacheslav Likhachev (sprich: Wiatscheslaw Lichatschew) in seinem Beitrag „Für immer verloren“ über den Auszug der Juden aus der Ukraine. Die Mariupol betreffende Passage lautet: „… (sind die) alte Synagoge und das neue Gemeindezentrum vollkommen zerstört und können nicht wiederhergestellt werden…“. Außerdem bedauert Likhachev, dass es „derzeit keine Karäer mehr“ in Mariupol gibt.

 

Zum guten Schluss möchte der Autor dieses Beitrags noch an drei jüdische Promis aus der Stadt am Asowschen Meer erinnern und auf ein Monument dort hinweisen:

Der russisch-ukrainisch-israelische Schriftsteller, Bühnenautor und Kinderbuchautor Felix Krivin (1928-2016) war gebürtiger Mariupoler. Ebenso der Mediziner-Wissenschaftler, und Pionier der Augenheilkunde Michail Josifowitsch Averbach (1872-1944) sowie der Tänzer, Choreograph, Maler und Pädagoge Alexander Sacharoff (eigtl. Zuckermann; 1886-1963). Letzteren kennt bei uns in Bayern ein jeder, der sich für die Kunst des ‚Blauen Reiter‘ interessiert, denn das berühmte Gemälde des Kandinsky-Spezls Alexej von Jawlensky von 1909, das einen bizarr geschminkten, schwarzhaarigen Androgynen mit knallroter Oberbekleidung zeigt, ist niemands anderen Porträt als das Sacharoffs!

Nicht mehr ganz junge Russen, Exsowjetjuden und Ukrainer, egal wo sie leben, egal was aus ihnen geworden ist oder wie sie sich geben, sie verehren nach wie vor ihren gemeinsamen Barden und unumstrittenen König des sowjetkritischen Chansons, Wladimir Wysotzky (1938-1980). Die Mariupoler errichteten ihm zu Ehren 1998 eine Statue. Hoffentlich, inshallah, überlebt wenigstens die die Kämpfe…

Anmerkung:

Wladimir Wysotzky war russisch-jüdisch-ukrainischer Abstammung.

 

Zusätzliche Quellen:

https://en.wikipedia.org/wiki/Mariupol  (aufgerufen am 30.6.2022)

https://fr.wikipedia.org/wiki/Marioupol (aufgerufen am 30.6.2022)

https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9C%D0%B0%D1%80%D0%B8%D1%83%D0%BF%D0%BE%D0%BB%D1%8C (aufgerufen am 30.6.2022)

https://uk.wikipedia.org/wiki/%D0%9C%D0%B0%D1%80%D1%96%D1%83%D0%BF%D0%BE%D0%BB%D1%8C (aufgerufen am 30.6.2022)

https://de.wikipedia.org/wiki/Mariupol (aufgerufen am 30.6.2022)

https://de.wikipedia.org/wiki/Choral-Synagoge_(Mariupol) (aufgerufen am 30.6.2022)

https://en.wikipedia.org/wiki/Choral_Synagogue_(Mariupol) (aufgerufen am 30.6.2022)

 

Weitere Beiträge des Autors zu Städten der Ukraine, siehe:

Kiew , OdessaSimferopol