Fragiler Frieden für Galiläa

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Vor genau 40 Jahren begann der erste Libanonkrieg. Ziel Israels war es, die PLO aus dem Nachbarland zu vertreiben und den Norden des Landes vor Raketenangriffen zu schützen. Doch die Rechnung sollte nicht aufgehen, weshalb die Folgen dieses Konflikts bis heute zu spüren sind.

Von Ralf Balke

„Schalom HaGalil“, zu deutsch „Frieden für Galiläa“ – so lautete die Bezeichnung für die israelische Militärintervention im Libanon, die Anfang Juni 1982 für Schlagzeilen sorgte. Neun Divisionen mit rund 78.000 Soldaten und allerlei militärischem Gerät überquerten damals die entmilitarisierte Zone der „United Nation Interim Forces in Lebanon“ (UNIFIL) und marschierten in drei Kolonnen entlang der Küste, durch das Zentrum des Landes sowie entlang der syrisch-libanesischen Grenze Richtung Norden. Erklärtes Ziel Israels war die Neutralisierung der PLO unter Führung von Yassir Arafat, die zu Beginn der 1970er Jahre nach dem sogenannten „Schwarzen September“, also der Vertreibung der Palästinenser-Organisation aus Jordanien, Beirut zu ihrem neuen Hauptquartier auserkoren hatte. Darüber hinaus war sie zu einem Akteur in dem seit 1975 tobenden Bürgerkrieg im Libanon mutiert, die den Süden des Landes quasi unter ihre Kontrolle gebracht und militärische Strukturen aufgebaut hatte. Von dort aus schoss die PLO Hunderte von Katyusha-Raketen auf Ortschaften im Norden Israels. Auch wurden immer wieder Terrorkommandos entsandt, die unter anderem den berüchtigten Küstenstraßen-Anschlag von 1978 verübten, wobei 37 Zivilisten, darunter zehn Kinder, den Tod fanden. Als Reaktion sollte die israelische Armee in der „Operation Litani“ das Gebiet zwischen israelisch-libanesischer Grenze und dem gleichnamigen Fluß besetzen, musste aber auf Druck der Vereinigten Staaten sich rasch wieder zurückziehen.

Aber auch die Eindämmung des syrischen Einflusses gehörte zu den Kriegszielen von 1982. Denn Damaskus hatte sich ebenfalls in das Bürgerkriegsgeschehen eingemischt und seit 1976 über 30.000 Soldaten im Libanon stehen. All das bereitete der Regierung in Jerusalem große Sorgen, weshalb man im nördlichen Nachbarland ebenfalls aktiv wurde. Stützen konnte sich Israel dabei auf die christlich-maronitische Minderheit im Südlibanon, zu der man bereits seit Jahrzehnten enge Kontakte pflegte. Deren Milizen, die mit den Palästinensern auf Kriegsfuß standen, belieferte man – in Abstimmung dem Iran, wo noch der Schah herrschte – mit allerlei Kriegsgerät. Sich selbst an den Auseinandersetzungen zu beteiligen, diese Option stand aber nicht im Raum. „Wir werden nicht für sie kämpfen. Wir werden ihnen aber helfen, damit sie in die Lage gebracht werden, selbst zu kämpfen“, so Rafael Eitan, damals als Militärkommandeur für den Norden Israels zuständig.

Im Frühjahr 1982 steigerte sich die Zahl der palästinensischen Raketenangriffe auf den Norden Israels. Die Stimmung war also bereits äußerst angespannt, als Ende Mai 82 ein Palästinenser ein Attentat auf Shlomo Argov, dem israelischen Botschafter in London, verübte, was von Seiten Israels dann als casus belli betrachtet wurde. Ariel Scharon, Verteidigungsminister im Kabinett von Ministerpräsident Menachem Begin, erhielt den Auftrag, bis zu 40 Kilometer in den Libanon vorzustoßen, um für ein Ende des Raketenterrors auf Israel zu sorgen. Mit syrischen Truppen sollte es möglichst keine Zusammenstöße geben, nur im Falle eines Angriffs durfte man sich verteidigen – so das Mandat. Und damit rutschte auch Israel peu à peu in das, was man später gemeinhin den „libanesischen Sumpf“ bezeichnete. Denn es blieb nicht bei den 40 Kilometern, die die israelische Armee vorstieß, sondern man rückte immer weiter vor nach Norden. Rafael Eitan, nunmehr Generalstabschef, behauptete später, dass es eine solche räumliche Einschränkung nie gegeben hätte. Bald schon hatte man auch den Flughafen von Beirut sowie einige südliche Stadtviertel unter Kontrolle gebracht – eine vollständige Besetzung der libanesischen Hauptstadt unterblieb aber erst einmal aus Furcht vor negativen internationalen Reaktionen, vor allem in der arabischen Welt. Und auch mit syrischen Verbänden gab es zahlreiche heftige Kämpfe, wobei die Unterlegenheit der zumeist aus der Sowjetunion stammenden Waffen deutlich zutage trat.

Und zu dem eigentlichen Kriegsziel, der Vertreibung der PLO, gesellte sich plötzlich ein weiteres Konzept, das man heute wohl Regime Change nennen würde, und zwar die Installierung einer Regierung in Beirut, die Israel freundlich gesonnen ist. Dabei setzte Jerusalem auf Bashir Pierre Gemayel, einen christlich-maronitischen Politiker, der zugleich Anführer der Phalange-Milizen sowie der Forces Libanaises war. Am 23. August 1982, mitten im Krieg, wählte ihn das libanesische Parlament zum neuen Präsidenten. Danach hatte er sich mit Begin getroffen, um einen Friedensvertrag zwischen beiden Ländern auszuhandeln, der jedoch nie Wirklichkeit werden sollte. Schon am 14. September 1982 fiel Gemayel einem Attentat zum Opfer, woraufhin die israelische Armee doch noch in Beirut einmarschierte, aber nicht in die palästinensischen Flüchtlingslager. Dort, und zwar in Sabra und Shatila, richteten Angehörige der Phalange-Milizen ein Massaker an, dem zwischen 700 bis 800 Zivilisten – so die israelischen Angaben – und laut PLO 3.300 Personen zum Opfer fielen. Über die genauen Zahlen wird weiterhin spekuliert.

Dieses Blutbad unter den Augen der israelischen Armee, die enormen Verluste – allein in der Zeit zwischen Beginn des Krieges und dem Rückzug auf die rund 24 Kilometer breite Sicherheitszone entlang der israelisch-libanesischen Grenze im Februar 1985 – fielen 657 israelische Soldaten im Kampf oder durch Hinterhalte sowie die verheerenden außenpolitischen und wirtschaftlichen Folgen, die der Einmarsch verursachte, brachte die Israelis auf die Straße. Bereits am 6. Juli 1982 nahmen 100.000 Menschen in Tel Aviv an einer Anti-Libanonkrieg-Demonstration teil. Am 25. September 1982, unmittelbar nach dem Massaker von Sabra und Shatila, waren es schon 400.000, rund 10 Prozent der damaligen israelischen Bevölkerung, die Aufklärung forderten sowie den Rücktritt aller Verantwortlichen. Daraufhin setzte die Regierung die Kahan Kommission ein, die untersuchen sollte, inwieweit Israel eine Verantwortung für das Geschehene trage. Während man Ariel Scharon „persönliche Verantwortung“ attestierte und dem Generalstabschef Rafael Eitan „massive Pflichtverletzungen“, fiel das Urteil für Menachem Begin deutlich günstiger aus. Sowohl Scharon als auch Begin räumten ihre Sessel, nur Eitan blieb auf seinem Posten. Viel ist seither davon die Rede, dass Scharon und Eitan den Ministerpräsidenten einfach über die Realitäten des Krieges und ihre wahren Absichten nicht richtig informiert hatten.

Was in den Jahren danach folgte, war ein Rückzug auf Raten. Die Sicherheitszone wurde unter hohen Kosten an menschlichen Leben bis zum Jahr 2000 gehalten – weitere 256 israelische Soldaten mussten dort sterben. Erst Ministerpräsident Ehud Barak zog im Mai 2000 endgültig den Stecker und ordnete in einer Nacht und Nebel-Aktion den völlig überstürzten Rückzug der letzten Truppen an, der fast schon einer Flucht glich. All das sind Gründe, warum der Libanonkrieg und die Jahre bis zur Jahrtausendwende im Vergleich zu anderen Konflikten eine Sonderstellung einnehmen und man diesen Waffengang lieber verdrängen möchte. „Es handelte sich um einen Krieg ohne Ruhm“, glaubt Haim Har Zahav, Autor von “Lebanon: The Lost War“. Seine Erklärung: „Es gab keine Schlacht am Mitla-Pass, die Befreiung der Klagemauer oder das Erklimmen des Bergs Hermon unter Beschuss. Es war eine Sisyphusarbeit, tagein, tagaus, die längste in der Geschichte Israels. 18 Jahre dauerte sie, und kein General oder Politiker kann damit glänzen, weder jemand von rechts noch von links.“

Auch Ehud Baraks Begründung vom Sommer 2000 hört sich retrospektiv geradezu naiv an, wenn er damals sagte, dass dieser plötzliche Abzug aus dem Libanon gut für das Image Israels sei, weil ansonsten „die Hisbollah in ihrem Kampf gegen einen ausländischen Besatzer an internationale Legitimität gewinnen würde.“ Diese brauchte sie schon gar nicht mehr zu diesem Zeitpunkt. Zwar war mit dem Abzug der PLO-Führung und ihrer Kämpfer aus Beirut in Richtung tunesisches Exil ein Kriegsziel weitestgehend erreicht worden. Aber mittlerweile hatte im Iran die sogenannte islamische Revolution stattgefunden. Das Ayatollah-Regime exportierte sein Modell bald schon in den Libanon. Angehörige der iranische Revolutionsgarden halfen bei der Geburt der Hisbollah, einem Gegner Israels, der nicht nur den Norden des Landes seither stärker bedrohen kann, als es die PLO jemals vermochte – diese leidvolle Erfahrung musste man 2006 im zweiten Libanonkrieg machen. Es waren ihre Selbstmordkommandos, die erst die Amerikaner und Franzosen aus Beirut bombardierten und anschließend die Israelis aus der für sie so unsicher gewordenen Sicherheitszone. Dass dies möglich wurde, ist ebenfalls den Verantwortlichen von 1982 zu verdanken. Denn die schiitische Bevölkerung hatte die israelischen Soldaten ursprünglich als Befreier von den verhassten Palästinensern willkommen geheißen. Dummerweise sorgte die Besatzungspolitik und die israelische Zusammenarbeit mit den christlich-maronitischen Phalangisten dafür, dass die Stimmung sehr schnell kippte und sich die Schiiten scharenweise der Hisbollah anschließen sollten. Auch deshalb hat der lange Arm der Mullahs den Süden des Libanons seither voll im Griff, die Fahnen der Hisbollah wehen praktisch vor den israelischen Häusern im Grenzbereich. Und die Ruhe in Galiläa ist damit fragiler denn je.

Bild oben: Auf der Fahrt Richtung Beaufort, Foto von Sami Mualem im August 1982, (c) Oren 1973 / CC BY-SA 3.0