Paul Parins Briefkorrespondenzen

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Paul Parin war ein außergewöhnlich produktiver psychoanalytischer Theoretiker, Zeitkritiker und Schriftsteller. Nun erscheint sein Gesamtwerk nacheinander in einer Werkausgabe, die insgesamt 19 Bände umfassen wird.

Von Roland Kaufhold

Band 9 der Werkausgabe umfasst Auszüge aus Parins Briefkorrespondenz, in welcher sich zugleich sein internationales wissenschaftliches und publizistisches Netz widerspiegelt. Für den  nun vorliegenden Briefe-Band – er ist 483 Seiten stark, die sich für an der Psychoanalysegeschichte Interessierte spannend lesen – wurden 34 Briefkorrespondenzen ausgewählt, aus denen ein kleiner Teil vorgestellt wird.

Paul Parin tritt uns als herausragender Stilist sowie als Dialogpartner der ersten und zweiten Schülergeneration Freuds entgegen. Da ich den Band in der Fachzeitschrift psychosozial umfangreich besprechen werde, beschränkte ich mich an dieser Stelle auf die Aspekte seiner 60 Jahre umspannenden internationalen Briefkorrespondenz, in denen Parin Beziehung zu seiner jüdischen familiären Prägung, Reflexionen zu Israel sowie psychoanalyseinterne Fragestellungen zu den KZ-Folgen thematisiert werden (vgl. vertiefend Kaufhold 2016a).

Einige Briefpartner – und die Erwähnung Israels

Einer der internationalen Briefpartner Parins war Eric Wittkower. 1899 in Berlin in einer jüdischen Familie geboren studierte er in Berlin Medizin und forschte über Psychosomatik. 1933 vermochte er nach England zu emigrieren, wo er als Psychiater in der britischen Armee arbeitete. 1951 ging er weiter nach Montreal, wo er den Begriff der „Transkulturellen Psychiatrie“ prägte. Das war die thematische Verbindung zu Parin. Der im Buch dokumentierte Briefwechsel der Beiden dauerte von 1964 bis 1974.

In einem Brief vom 5.3.1974 erwähnt Parin einen Besuch bei Wittkower in Montreal und schreibt von den „schönen und anregenden Stunden bei Ihnen und die Gastfreundschaft in Ihrem Heim“, die ihm und Goldy in „frischer Erinnerung“ seien (S. 193). Sie vermochten diese Reise mit einem Besuch in Israel zu verbinden. Dort sei es „oberflächlich gesehen, sehr angenehm, entspannt und beruhigend“ gewesen, „kein Chauvinismus, nur Trauer gemischt mit alltäglicher leicht orientalisch getönter Lebensfreude.“ In der Tiefe habe es „bei allen `Einsichtigen´ „eine grosse Ratlosigkeit für die Zukunft“ gegeben. „Was tun“, so fragt Parin, „wenn das Schicksal nicht mehr von den eigenen Kräften abhängt?“ Wie solle man „auf eine Identität als Volk verzichten die allein das Volk erst geschaffen und seinen Charakter geprägt“ habe (ebd.). Parins Zugehörigkeit zum jüdischen Schicksal, dessen er sich bereits als Schüler bewusst war (vgl. Kaufhold 2016a), blieb von politisch getönten Ambivalenzen geprägt. Diese Identität, so fügte er hinzu, erweise „sich aber heute als unübersteigliches Hindernis“, wenn man „mit weiteren Zielen als den unheilvoll gewordenen nationalen“ leben wolle (ebd.).

Die Parins verstanden sich, obwohl sie nahezu ihr gesamtes Leben in Zürich verbrachten, immer als Internationalisten, als sozialistische (Paul Parin) oder aber als „anarchistische Brüdergemeinde“ (Goldy). Der Identifikation mit einer Nation verweigerten sie sich zeitlebens. Um der Enge von Zürich zu entkommen unterbrachen sie immer wieder ihre psychotherapeutische Tätigkeit, um zu Weltreisen aufzubrechen. In diesem Sinne schreibt Parin am 20.2.1978 an Wolfgang und Louise Jilek-Aall in Kanada: „Im Frühjahr 1977 sind Goldy und ich allein mit einem kleinen Renaut mit 4-wheel-drive durch die Sahara und Sahel nach Westafrika gefahren. Es war eine ganz ungewöhnlich schöne, interessante aber auch anstrengende Reise. Geforscht haben wir nicht unterwegs, aber in der Psychiatrischen Klinik Fann-Dakar im Senegal.“ (S. 220) Und am 2.10.1970 schrieb Parin in vergleichbarer Weise an seinen Kollegen René A. Spitz: „Wir drei“ – also er, Goldy und Morgenthaler – „wollen in diesem Winter wieder mit zwei Wagen in die Sahara und nach Westafrika, doch nur für 3 ½ Monate. Hauptzweck ist, wieder andere Luft zu schöpfen und eine pilote-study bei den maurischen Nomaden. Dort ist das Klima viel angenehmer als im Urwald.“ (S. 300)

Israel: „Äusserlich war alles unverändert, etwas schlampig und unglaublich sympathisch“

Am 14.2.1974 schreibt Parin an Ruth Eissler-Selke. Er bespricht mit ihr verschiedene Kooperationsformen. Dann schreibt er von ihrer – gemeinsam mit seiner Ehefrau Goldy – Reise nach Israel. Dort hätten sie „14 sehr bewegte Tage“ verbracht: „Äusserlich war alles unverändert, sorglos, ruhig, etwas schlampig und unglaublich sympathisch ohne Chauvinismus“ (S. 405f.), berichtet er ihr. „Innerlich“ seien die Menschen, „denen man näher kommt, aber ratlos und traurig. Das ist kein Wunder. Es sind nicht nur die Wunden des vergangenen Krieges“ – Parin spielt hierbei auf den Jom-Kippur Krieg vom 6.10 – 26.10.1973 zwischen Israel sowie Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten an. Es scheine so, „als ob sich am politischen Schicksal des Volkes in Israel die Tragik einer Wunderheilung wiederholen würde.“ (S. 406) Wie „überraschend schnell“ sei Israel doch entstanden, wie heilsam für den eigenen Narzissmus sei es, dass Juden nun „ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und Hoffnung und Glaube“ sie beflügele. Man halte in Israel weiterhin am „Ideale einer Volksidentität“ fest, obwohl dieses „doch nichts mehr hergebe“. Eine „Umorientierung, kreative politische Ideen, eine aktive Bewältigung der Vergangenheit und damit ein Ausblick für die Zukunft“ scheine „auch für das ganze Volk so wie für viele Einzelpersonen eine kaum lösbare Aufgabe zu stellen.“ (S. 406) Und doch, so hebt Parin hervor, liege in diesem „kaum“ auch „meine Hoffnung, dass es doch noch gelingen möge. Dann berichtet er von seinem Treffen mit dem amerikanischen Psychoanalytiker Albert Jay Solnit in Bersheva. Dort hatte Solnit von August 1973 bis Juli 1974 am Sroka Medical Center in Beer-Sheva gearbeitet. Solnit habe ihnen „einen grossen Eindruck gemacht, als Mensch und vor allem auch als ein wirklicher Pionier.“ (S. 406) Solnit sei „bereits Israeli, oder vielmehr Bewohner von Bersheva geworden.“ (ebd.) Der Psychoanalytiker Solnit habe „diese Stadt nicht nur in sein Herz geschlossen, sondern fühlt sich anscheinend so als ob er sie selbst gebaut hätte und weiterbauen müsste.“ (ebd.) Zu ihnen sei er „ganz riesig nett“ gewesen und sie hätten durch ihn „mehr über Israel erfahren als durch viele, die immer dort gelebt haben.“ (ebd.)

Briefe mit Kurt und Ruth Eissler: „Ich habe viele Helden sterben sehen“

Vom Umfang sowie von der thematischen Breite her am gehaltvollsten ist der Briefwechsel mit Kurt R. und Ruth Eissler. Er reichte von 1965 bis 1992 und umfasst 88 Seiten. Kurt R. Eissler, 1908 in Wien geboren, war ein Schüler Aichhorns. Die Eisslers flüchteten 1938 als Juden in die USA, und er entfaltete in New York als treuer Freud-Archivar eine herausragende schriftstellerische Produktivität. Parin unterstreicht Eisslers literarisches Talent, dessen „sowohl sorgfältigen wie eigenartigen und kühnen Stil“ (S. 393). Sie informieren einander regelmäßig über ihre neuen Projekte und Forschungsreisen. Parin erinnert sich des Todes vieler junger Partisanen, den er als revolutionärer Arzt im Spital in Montenegro1944/45 erleben musste: Er habe, so schreibt Parin Eissler 1966, „viele Helden sterben sehen“; Freiheitskämpfer, „die für das Ideal der Befreiung von der Naziherrschaft alles und zuletzt das Leben geopfert haben.“ (S. 398) Das Sterben sei ihnen leicht gefallen, „jedoch unter einer Bedingung: sie durften nicht allein sein.“ (ebd.) Das Ideal, das ihre überlebenden Kampfgefährten teilten, erleichterte ihnen den Abschied. Es ist dieser Geist, der Parins großes Werk über ihr gemeinsames Engagement als Arzt in Titos Partisanenarmee (Es ist Krieg und wir gehen hin, Parin 1992) beflügelte und dieses zu einer ewig frischen Lektüre macht.

Vier Jahre später erinnert Parin seine frühen Begegnungen mit der „Stimme Hitlers“ (S. 404), der er schon 16-jährig in Slowenien bei von ihm organisierten „anti-hitlerischen Strassendemonstrationen“ begegnet sei (S. 404; vgl. Kaufhold 2016a, 2016b). Seiner jüdischen Abstammung sei er sich hierbei bewusst gewesen, er habe gesagt: „Ich heisse zwar Parin, bin aber als Jude ein unversöhnlicher Gegner von Mussolini“ (ebd.). Er habe erst später innerlich wahrgenommen, dass er sich als Antifaschist von seiner Familie „nie ganz entfremdet“ habe, auch wenn er sich „nie für den Zionismus erwärmt“ habe (ebd.). 1978 berichtet Eissler – dessen Bruder Erich im Oktober 1943 in Auschwitz ermordet wurde – von seiner gutachterlichen Tätigkeit für Konzentrationslager-Opfer (vgl. Eissler 1963). Immer wieder kommen sie auch auf Freuds Wien und die Verfolgungen zurück, so in einem langen Brief Parins, in dem er Richard Sterbas Weigerung erinnert, 1938 das Wiener psychoanalytische Institut weiterzuführen, „als alle Juden weg mussten“ (S. 422) Die Sterbas emigrierten, obwohl sie als nicht-Juden nicht durch die Nazis bedroht waren, aus Solidarität mit ihren vertriebenen Kollegen in die USA (vgl. Kessler & Kaufhold 2015; Kaufhold & Hristeva 2021).

„Sie sind der einzige Psychoanalytiker, der mir den Mut gibt, mit unseren Einsichten in der Oeffentlichkeit zu wirken“

Edith Ludowyk-Gyömröi, 1896 in Budapest geboren, interessierte sich bereits früh für die Psychoanalyse. 1923 ging sie nach Berlin, machte ab 1929 ihre Lehranalyse bei Fenichel und gehörte in Berlin zu dem linken, marxistisch orientierten Kreis von Psychoanalytikern um Reich und Fenichel. Sie emigrierte als Jüdin nach Colomb auf Ceylon und gehörte dort zu dem geheimen Kreis der Empfänger von Otto Fenichels „Geheimen Rundbriefen“. Dieser richtete sich an die nun in der Welt verstreut lebenden vertriebenen linken Psychoanalytiker (Reichmayr & Mühlleitner 1998).

Edith Ludowyk-Gyömröi wurde Mitglied der indischen psychoanalytischen Gesellschaft, promovierte 1944 in Colombo und betrieb ethnologisch-psychoanalytische Studien. Zusätzlich schrieb sie Romane und Erzählungen. 1956 übersiedelte sie nach London und arbeitete an der berühmten Hamstead Clinic über die Analyse von Opfern der Konzentrationslager. Aus diesem Anlass und vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Interessen für die Ethnopsychoanalyse schrieb ihr Parin am 16.4.1964 einen englischsprachigen Brief, in dem er auf ihre ein Jahr zuvor erschienene KZ-Studie eingeht: „Though it is a habit to answer to the sending of a print of a published paper by a similar return your paper about „The analysis of a young concentration cam victim“ gave me the feeling I must write you.“ (S. 308)

Auch mit Alexander und Margarete Mitscherlich führte Parin einen ausführlichen Briefwechsel, von dem ein kleiner Ausschnitt im Buch dokumentiert wird (S. 322-326). Die Mitscherlichs gehörten zu der Minderheit der Psychoanalytiker, die die Psychoanalyse auch für gesellschaftliche Themen öffnen wollten. Und  auch deshalb hatte A. Mitscherlich das berühmte Frankfurter Sigmund Freud Institut aufgebaut. Für sein Fehlen an Mitscherlichs Feier zu seinem 65.ten Geburtstag entschuldigt Parin sich und richtet ihm stattdessen einen schriftlichen Dank aus: „Sie sind der einzige Psychoanalytiker, der mir den Mut gibt, mit unseren Einsichten in der Oeffentlichkeit (einschließlich der Schar unserer Fachkollegen) zu wirken“, schreibt Parin ihm am 8.10.1973 (S. 322). Mitscherlichs Vorbild, dessen Wirken habe ihn selbst immer wieder ermutigt, seine eigene „Skepsis und Inertie“ zu überwinden und mit dem Schreiben fortzufahren. (ebd.) Dann schlägt Parin einen Bogen zu dem vier Wochen zurückliegenden Putsch Pinochets in Chile gegen Salvador Allende (11.9.1973) und schreibt: „In Chile hat, so glaube ich, der dritte Weltkrieg bereits begonnen. Es ist zu ähnlich dem 33er Jahr. Und jetzt wieder in Israel.“ (ebd.) Er sei sehr skeptisch, ob ihre psychoanalytischen Kenntnisse „über die Menschen und die Möglichkeiten für eine Verbesserung ihrer Verhältnisse“ (ebd.) jemals eine Wirksamkeit erlangen könnten.     

Über Wilhelm Reich: „Die Massenpsychologie des Faschismus war ein ganz wichtiges Buch für uns“

Paul Parin las Wilhelm Reichs wegweisenden, marxistisch orientierten Studien bereits im Studium mit großer Aufmerksamkeit – und war begeistert von diesen, wie man seiner Briefkorrespondenz mit Goldy, deren Bruder August Matthèy sowie Fritz Morgenthaler zu entnehmen vermag (Parin 2019). Innerlich war er, wie auch seine Lebensgefährtin Goldy Parin-Matthey, mit dem kühnen, stürmischen, leidenschaftlichen Theoretiker Wilhelm Reich identifiziert, wie viele andere, darunter auch Bruno Bettelheim (Kaufhold 2001).

In einem im Buch (S. 256) wiedergegebenen Brief (1986) Parins an den damaligen Reich-Forscher Peter Bahnen schreibt Parin über seine Begeisterung an Reichs Schriften: „Goldy und ich hatten W. R. gelesen, lange bevor wir daran denken konnten, Psychoanalytiker zu werden. Die Charakteranalyse, die Massenpsychologie des Faschismus und Der Einbruch der Sexualmoral waren ganz wichtige Bücher für uns (vgl. Andreas Peglau) und sie haben ihren historischen Wert meiner Ansicht nach nicht verloren. Rudolf Brun, der Analytiker bei dem Fritz Mo. (Mo: Morgenthaler, d. Verf.), Goldy, Harry Lincke, ich selber (und noch andere Zürcher Analytiker) die eigene Analyse gemacht haben, war sehr beeindruckt von W. R., obwohl er ihn, so viel mir bekannt ist, nicht persönlich gekannt hat.“ Und Parin fügt, auf Reichs umstrittene „direkte“ Behandlungsmethode Bezug nehmend, hinzu: „Brun hat auch einiges von W.R. „Technik“ im Sinne des Aufbrechens der Charakterpanzerung übernommen. Das wirkte ziemlich grob und lag uns nicht. Sobald wir selber mit Patienten arbeiteten, sahen wir, dass dieses Aufbrechen auch sehr unzweckmässig war. Den Biologismus Reichs habe ich und haben wohl die meisten Zürcher bald verlassen.“ (S. 256)

„Wieviele idealistische deutsche Kommunisten sind mit Begeisterung nach Sowjet Russland gegangen, um dort ermordet zu werden“

Die Psychoanalytikerin Paula Heimann (1899 – 1982), die 1933 wegen ihres politischen Engagements nach England fliehen musste, schrieb am 22.12.1978 über Marie Langers Verhalten als junge Kommunistin in der Nazizeit in Wien, das sie als „entsetzlich naiv“ bezeichnet, und fügt hinzu: „Wieviele idealistische deutsche Kommunisten sind mit Begeisterung nach Sowjet Russland gegangen, um dort ermordet zu werden. Sie stellen auch Wilhelm Reich´s Ausschluss nicht richtig dar: Es war nicht sein Kommunismus, es waren es waren eine Reihe von – ja: kranke Dinge, einschließlich Geldsucht (sein Orgon Geschäftsbetrieb), mit denen er sich hinauswarf. … Wir müssen einmal mit einander reden.“ (S. 321)

Damit lag Heimann in einer Linie mit Kurt R. Eisslers Wahrnehmung von Wilhelm Reich. In einem vier Seiten langen Brief an Parin – „Sehr geehrter Herr Doktor“ – vom 6.7.1978 widerspricht Eissler Parins Darstellungen und Interpretationen zum Ausschluss von Reich: „Es unterliefen Ihnen kleinere Fehler. (…) Wilhelm Reich wurde nicht eliminiert. Er benahm sich in einer Art und Weise, die ihn als Analytiker unmöglich machte.“ Auch Parins verschiedentlich wiederholte historische  Einschätzung, dass „jeder intelligente Zeitungsleser“ die Machtergreifung Hitlers „voraussehen konnte“ (S. 416) widerspricht der Zeitzeuge Sterba: Viele hätten gehofft, „dass Mussolini Hitlers Vorstoss nicht billigen wuerde.“ (ebd.) Er selbst, schreibt Eissler, sei damals sehr pessimistisch gewesen. Aber auch heute noch sei er der Auffassung, dass „Freuds Aushalten“ in Wien (vgl. Kaufhold & Wirth 2006) dessen Biografie „veredele“ (S. 416). „Sie sind Marxist“, fügt Sterba gegenüber seinem Freund Parin hinzu „und wenn ich mir eine persoenliche Bemerkung erlauben darf, so wuerde ich vermuten, dass Ihr Marxismus sich weniger auf tiefgehendes Studium der entsprechenden Literatur begruendet, sondern, wie bei uns allen, Ihre politische Stellungnahme durch stark subjektive Motive beeinflusst und verursacht wird.“ (S. 417)[i] Eine Seite weiter schließt Eissler seinen ausführlichen Brief mit einer Entschuldigung für das „Durcheinander meiner Gedanken.“ Aber es habe ihn „gedraengt, Ihnen kritiklos mitzuteilen, was mir beim Lesen Ihres schoenen Aufsatzes durch den Kopf gegangen ist.“ (S. 417)

12 Tage später, am 18.7.1978, antwortet ihm Parin auf sechs Seiten ausführlich. Er freue sich sehr über die kritischen Einwände Eisslers aus den USA, insbesondere auch weil Eissler als Psychoanalytiker und fleißiger Publizist immer wieder „so wie einst Freud, zu brennenden Fragen aktiv“ (S. 419) geworden sei. Parin hat zwischenzeitlich weitere Studien Eisslers gelesen, die ihm bisher unbekannt geblieben waren. Insbesondere Eisslers Beiträge über die Armee sowie dessen berühmte Studie über die psychischen Folgen von KZ-Haft und die höchst fragwürdigen Widergutmachungsprozesse in der Bundesrepublik – Eissler, K. R. (1963): Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben“ – habe einen „bedeutenden Einfluss auf die intellektuelle Welt zumindest in der Bundesrepublik ausgeübt.“ (S. 419) Damit sei Eissler eine Ausnahme, auch im deutschsprachigen Bereich. „All die vielen anderen Analytiker“ verharrten „wohl im Elfenbeinturm ihrer beruflichkastenmässigen Selbstbescheidung.“ (S. 419) Dann geht Parin auf Eisslers Beschreibung zum berühmten „Luzerner Kongress“ – bei dem Wilhelm Reich psychoanalyseintern geächtet und rausgeworfen wurde (Peglau 2013, 2020) – ein. „Ueber Wilhelm Reich wissen Sie sicher mehr direktes als ich“ (S. 421) versichert er dem vertriebenen Wiener Eissler und verweist auf seine eigenen Gespräche mit dem Schweizer Psychoanalytiker und Zeitzeugen Ernst Blum. Blum sei bei dem Luzerner Kongress dabei gewesen und der „Reichs Benehmen nicht „unmöglich“ fand, die meisten Teilnehmer am Kongress jedoch sehr.“ (ebd.) In Norwegen habe Reich nach seiner Emigration „dauernde achtenswerte Freunde“ gefunden (ebd.). Insofern sei es in Luzern und danach zu besagter standespolitischer „Eliminierung“ Reichs gekommen, ohne „dass die analytische Welt sich recht bewusst“ geworden sei, was sie mit Reich getan habe. Heute, ein halbes Jahrhundert später, sei diese sich dessen ganz sicher nicht bewusst. „Die „Massenpsychologie des Faschismus““ sei „noch heute ein bedeutendes und lesenswertes Werk, war damals das einzig relevante, was ein Psychoanalytiker zur kommenden Weltkatastrophe zu sagen hatte.“ (S. 421)

Eissler antwortet Parin am 26.7.1978 erneut ausführlich, dankt Parin als „ein getreuer Briefeschreiber“ (S. 424). Er geht auf einzelne Protagonisten der damaligen Zeit ein, vor allem auf die „linke“ Marie Langer und fügt hinzu: „Ich beginne mich zu erinnern. Es war eine gefährliche Zeit. Man war besonders um Freud besorgt.“ (S. 424) Sterba verteidigt seine Einschätzung im Detail, fügt aber hinzu: „Im allgemeinen waren meine politischen Voraussagen falsch. Nur zweimal habe ich recht behalten damals.“ (S. 425) Ob er Parin darauf aufmerksam machen dürfe dass alle Marxisten, die er damals kannte, „darauf schworen, dass England, ein kapitalistisches + reaktionäres Land niemals Hitler den Krieg erklären würde. Ich werde Reichs Buch genauer lesen. Was er nach seinem Abfall von der Psa (Psychoanalyse, RK) schrieb, ist unter der Kanone.“ (S. 425)

Über Alice Miller: „Gegen sie ist so lange nichts einzuwenden, so lange sie nicht Bücher schreibt“

Lesenswert sind auch Parins Ausführungen zu seiner Schweizer Kollegin Alice Miller (1923-2010). Diese genoss in den 1980er Jahren bei vielen Menschen mit ihren Büchern, in denen sie nahezu alle Menschen vor allem als unglückliche Opfer gefühlskalter Mütter und Eltern darstellte, geradezu einen Kultstatus. Viele Jahre lang wurden Psychotherapeuten von Patienten aufgesucht, die von reißerischen Titeln wie Am Anfang war Erziehung, Das Drama des begabten Kindes sowie Du sollst nicht merken angezogen wurden. Zugleich trennte Miller sich hierin, sich selbst ins Grandiose stilisierend, von den Grunderkenntnissen und Methoden Freuds. Einzig die Schriften von Heinz Kohut ließ sie gelten. Kohut, 1913 in Wien geboren, schloss dort sein Medizinstudium noch ab, begann bei August Aichhorn seine Lehranalyse, musste dann wegen seiner Teil-jüdischen Identität emigrieren und kam 1940 in den USA an. Seine Werke zur „Psychologie des Selbst“ und zu „narzisstischen Störungen“ wurden weltweit in Fachkreisen rezipiert. Am 23.11.1980 schreibt Parin Kohut nach Chicago, dass er – Kohut – in Europa sehr berühmt sei, weil Alice Miller seine Ideen und Narzissmus-Theorien „stilistisch gut und etwas popularisierend in ihren Büchern“ verbreitet habe (S. 386).

Parin war in den 50er und 60er Jahren in der Schweiz ein Kollege Millers – diese lebte in Zollikerberg – , nahm diese jedoch weniger als „progressiv“ denn als sehr autoritär wahr. Gegenüber Kurt R. Eissler macht er aus seiner massiven Skepsis an deren vermeintlichen Status als „Kinderrechtlerin“ und am Gehalt von deren Bestseller-Werken kein Geheimnis. Am 8.6.1986 schreibt Parin Sterba, nicht frei von Ironie, diese sei, so wisse er aus ihrer langjährigen Bekanntschaft, eine „gebildete, höfliche und freundliche Dame“ (S. 450). Gegen sie sei so lange nichts einzuwenden, „so lange sie nicht Bücher schreibt oder „Wissenschaft“ betreibt.“ (S. 451) Er selbst könne jedoch keinen Kontakt mehr mit ihr aufnehmen, er habe dies mehrfach vergeblich versucht. Diese halte ihn für einen bezahlten Agenten Moskaus und scheine „noch heute einen Hass auf mich zu hegen.“ (ebd.)

Ihr Sohn Martin Miller hatte bereits drei Jahre nach dem Tode seiner Mutter eine literarische „Abrechnung“ mit seiner Mutter – der Shoah-Überlebenden – vorgelegt. Deren Plädoyer für eine einfühlsame und gewaltfreie Erziehung sei gar nicht mit seinen eigenen kindlichen Erfahrungen vereinbar, teilte er in seinem Buch mit. Sie haben ihn nicht als Kind, sondern als Repräsentant seines Vaters wahrgenommen und behandelt, so seine Erinnerung. Die Zeit titelte demgemäß von der „Maske der Kinderrechtlerin“. 2020 erschien mit dem Dokumentarfilm „Who’s afraid of Alice Miller?“ eine filmische Fortsetzung. 

Alice Millers Biografie ist vor dem Hintergrund ihrer eigenen jüdischen Verfolgungserlebnisse von einer besonderen Tragik, wie Ingo Way beschrieben hat. 1923 im polnischen Piotrków Trybunalski in einer streng orthodoxen jüdischen Familie geboren überlebte sie unter dem Tarnnamen Alicja Rostowska; eigentlich hieß sie Alicija Englard. Bei seinen Recherchen zum Überleben seiner Mutter entdeckte Martin Miller sehr viel Verstörendes, über das innerfamiliär nie gesprochen worden war. Ihr Vater Meylech kam in einem Ghetto ums Leben, auch weil er nur jiddisch sprach und sich somit keine Tarnidentität aufzubauen vermochte. Alice Miller musste ihre Herkunft komplett verleugnen, um zu überleben. „Ich hatte so große Angst, dass ich eines Tages verhaftet werden könnte, weil ich mit dem falschen Namen meine jüdische Identität versteckt hatte. Ich habe noch Jahrzehnte Angst gehabt, dass die Nazis kommen und mich ins Konzentrationslager einsperren würden“, erzählte sie ihrem Sohn später.

Paul Parin: Wissensflüsse. Korrespondenzen zur Ethnopsychoanalyse, Transkulturellen Psychiatrie und Psychoanalyse. Hg.: Christine Korischek. Wien, Berlin: Mandelbaum Verlag, 486 S., 34 Euro

Literatur

Eissler, K. R. (1963): Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben, Psyche, 1963, 17(5), S. 241-291.
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein. Federn. Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial Verlag.
Kaufhold, R. (2016a): “Für einen Juden ist „nach Auschwitz“ nichts mehr so, wie es früher war.“ Zum 100. Geburtstag der Psychoanalytikers, Schriftstellers und Abenteurers Paul Parin. In: Psychoanalyse im Widerspruch, 28. Jg., Heft 56/2016, S. 69-93
Kaufhold, R. (2016b): „Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen.“ Paul Parin – Biografische Facetten aus dem Leben eines Abenteurers“. In: Reichmayr, J. (Hg., 2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 450-470.
Kaufhold, R. (2019): Parin, Paul: Beziehungsgeflechte. Korrespondenzen von Goldy und August Matthèy, Fritz Morgenthaler und Paul Parin, in: Kinderanalyse, Oktober 2019, 27. Jahrgang, Heft 4, S. 388-392.
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In. Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021, S. 7-66.
Kessler, J. & R. Kaufhold (Hrsg.) (2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial Verlag.
Parin, P. (2019): Beziehungsgeflechte. Korrespondenzen von Goldy und August Matthèy, Fritz Morgenthaler und Paul Parin. Zürich: Mandelbaum Verlag.
Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Reich, W. (1933/2020): Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Hrsg.: Andreas Peglau (2020). Gießen: Psychosozial Verlag.

[i] Hier unterlag Eissler einem Irrtum: Paul Parin hatte während seines Medizinstudiums auch Marx Schriften sowie das weiterer marxistisch orientierter Autoren ausführlich studiert.