Helfen wollen den Menschen aus der Ukraine viele Organisationen und Freiwillige. Doch manche von ihnen haben eine zweite Agenda. Messianische Gruppen wie „Jews for Jesus“ oder „Chosen People Ministries“ betreiben dabei gezielt Judenmission.
Von Ralf Balke
Des einen Leid ist des anderen Chance. So jedenfalls könnte man die Aktivitäten von messianischen und evangelikalen Gruppen umschreiben. Denn unter den vielen Millionen Geflüchteten aus der Ukraine befinden sich auch zahlreiche Juden. Genau diese werden von ihnen ins Visier genommen, um neue Anhänger zu rekrutieren. „Jews for Jesus“ ist zweifelsohne eine der prominentesten dieser modernen Seelenfänger. Konkret heißt dies, dass sie ihre Hilfsangebote mit gezielter Missionsarbeit kombinieren, und zwar in Israel und auch in der Ukraine selbst. „Wir geben den Menschen Lebensmittel, Medikamente und Bibeln sowie Benzin für ihre Autos, damit sie weiterfahren können“, brachte Susan Perlman dieser Tage das Konzept dahinter auf den Punkt. „Die Bibel betrachten wir in dieser Situation als genauso praktisch wie all die anderen Dinge“, so die Mitgründerin von „Jews for Jesus“ gegenüber der Presse.
Laut Perlman habe ihre Organisation derzeit 19 Vollzeitmissionare und mehrere Gemeinden in der Ukraine. Und das auch nicht erst seit heute. Bereits Ende der 1980er Jahre kamen die ersten von ihnen ins Land, rekrutierten einheimische Mitarbeiter und bildeten sie in ihrem Sinne aus. Einige von ihnen seien weiterhin vor Ort aktiv, andere dagegen hat der Krieg ins Ausland verschlagen. Aber auch in Polen, Moldawien, Ungarn und Deutschland seien „Jews for Jesus“-Aktivisten derzeit unterwegs, um Geflüchteten aus der Ukraine „die Botschaft Jesu“ näher zu bringen. So habe man in Polen sogar ein provisorisches Zentrum zu diesem Zwecke errichtet. Und ein Team in Berlin sei damit ebenfalls beschäftigt und habe bereits 30 Personen geholfen, eine Bleibe zu finden, so Perlman. Mitarbeiter von „Jews for Jesus“ hätten sogar einer 90-jährigen Shoah-Überlebenden in Kiew bei ihrer Ausreise via Polen nach Israel, wo ihr Sohn leben würde, geholfen — angeblich alles ganz selbstlos. Weder der Sohn noch die Mutter ständen der messianischen Bewegung nahe, behauptet sie. „Wir transportieren nur Menschen, die Hilfe brauchen, und bringen sie an einen sicheren Ort, sei es von Kiew oder Odesa oder wo auch immer“, skizziert die rechte Hand von „Jews for Jesus“-Chef David Brickner die Arbeit.
Natürlich sei die religiöse Botschaft der messianischen Gruppierung ein „Teil des Pakets“, weshalb man weder Kosten noch Mühen scheue, möglichst viele russisch- und ukrainischsprachige Bibeln zu besorgen und zu verteilen. „Wir können nicht anders, als für die Menschen zu beten und ihnen das Evangelium mit auf den Weg zu geben“, betont Perlman ferner. Voller Stolz berichtet sie von einem 99-jährigen ehemaligen Offizier der Roten Armee in Odessa, der endlich Jesus als seinen Retter annehmen wollte, weshalb ein Missionar der örtlichen „Jews for Jesus“-Gruppierung den alten Mann zuhause aufsuchte, um mit ihm gemeinsam zu beten. „Die Menschen lernen so den Herrn kennen. Wir kümmern uns nicht um ihre unmittelbaren physischen Bedürfnisse, aber auch das ist ein Teil unserer Arbeit“, sagte sie. „Wir sagen nicht: >Du musst die Bibel lesen, um von uns Hilfe zu bekommen<, aber wir glauben, dass die Bibel eine große Quelle der Hilfe, Ermutigung und Hoffnung in Zeiten wie diesen ist.“ Trotzdem – oder besser: genau deshalb – unterscheidet sich „Jews for Jesus“ kaum von anderen Sekten, die die Notlage von Menschen ausnutzen, um so ihre Botschaft zu verbreiten und neue Anhänger zu rekrutieren. Das Muster ist bestens bekannt.
Eine andere Organisation, die ebenfalls ukrainische Juden auf dem Radar hat, um sie Jesus näherzubringen, heißt „Chosen People Ministries“. Sie ist die älteste der messianischen Gruppierungen und wurde bereits 1894 als „American Board of Missions to the Jews“ von dem aus Ungarn stammenden Rabbiner Leopold Cohn gegründet, der schließlich zum Christentum konvertierte und versuchte, „das Wissen über Yeschua (Jesus), den Messias, mit dem auserwählten Volk Gottes zu teilen“. Seit Jahren schon ist man ebenfalls in Israel aktiv und hat dort die frühen Zuwanderer aus den Kampfzonen in der Ukraine zur Zielgruppe auserkoren. Bereits im März 2017, so liest man auf der Homepage des Chosen People Ministries, habe die Gruppierung vier Familien bei der Ausreise nach Israel geholfen und bis zu Pessach desselben Jahres angeblich fünfzehn von ihnen getauft. Und auch ganz aktuell seien zwei Aktivisten der frömmelnden Organisation damit beschäftigt, in Warschau ukrainische Geflüchtete mit dem Nötigsten zu versorgen und mit ihnen zu beten. Denn das eine geschieht nicht ohne das andere. 230 Geflüchtete würde man in einem Übergangsheim außerhalb Warschaus betreuen. „Wir wollen im wahrsten Sinne des Wortes dem Vorbild Jesus folgen“, sagt Mitch Glaser, der Präsident von „Chosen People Ministries“. „Auch er hatte sich um die Bedürftigen gekümmert.“ Vor allem Minderjährige sollen so bedacht werden. Laut Glaser, der als Jude in New York aufgewachsen ist, hätte man rund hundert Kinder und Jugendliche mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Aber nicht nur das. Die Mitarbeiter der messianischen Gruppierung halten dabei auch Gebetsgottesdienste ab, organisieren Bibelstudien und ködern die Menschen mit Einladungen zu McDonald’s und Bowling, heißt es bei der „Times of Israel“.
Beobachter dieser Szene schlagen deshalb bereits Alarm. So berichtet Shannon Nuszen, Gründerin und Direktorin von „Beyneynu“, einer gemeinnützigen Organisation, die judenmissionarische Aktivitäten überwacht, dem Nachrichtenportal „World Israel News“, dass man im Besitz von Aufzeichnungen einer Telefonkonferenz von „Chosen People Ministries“ sei, in der die Teilnehmer „beschreiben, wie sie sich an die Frauen und Kinder wenden, die ohne ihre Männer nach Israel kamen, und wie sie deren Kindern Bibelunterricht erteilen wollen“. So heißt es darin: „Ich weiß, dass wir alles tun werden, was wir können, um diesen Menschen zu dienen und ihnen die Liebe Jesu zu zeigen, wenn sie in Israel ankommen.“ Die Missionare nutzen die Notlage der Geflüchteten gnadenlos aus und machen sich nicht einmal die Mühe, ihre wahren Absichten zu verbergen. Ferner erklärte Nuszen, dass die ukrainischen Juden „vor einer sehr realen physischen Bedrohung fliehen … nur um in Israel zu landen und am Flughafen von denen begrüßt zu werden, die ihre Identität zerstören wollen.“ Viele der Seelenfänger von „Chosen People Ministries“ in Israel sind selbst russische Muttersprachler. Dabei geht stets nach einem bestimmten Muster vor. „Sie werden immer dort aktiv, wo es Juden gibt, die in irgendeiner Form verletzlich sein könnten, seien es Geflüchtete, aber auch Studierende an Universitäten oder Kinder in den Sommerferien.“ Dabei richten sich ihre Angebot vor allem an Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die oftmals nur ein rudimentäres Wissen über das Judentum haben, was sie ohnehin anfälliger für die Bekehrungsversuche der Missionare von „Jews for Jesus“ oder „Chosen People Ministries“ macht.
Auch Rabbiner Tovia Singer, Leiter der NGO „Outreach Judaism“, die die Agitation messianischer Gruppen beobachtet, sagt, dass „Jews for Jesus“ oder „Chosen People Ministries“ vor allem eines umtreibt, und zwar „humanitäre Hilfe als Waffe einzusetzen, um das Evangelium zu verbreiten“. Auf der einen Seite zeigt man sich dabei jüdischen Traditionen und Praxis verpflichtet, auf der anderen Seite propagieren sie aber die Botschaft, dass Jesus Christus der kommende Messias sei, was im direkten Widerspruch zu allen Glaubensprinzipien des Judentums steht. „Dies ist eine Taktik, die bereits Mitte der 1970er Jahre, also in der Anfangszeit der messianischen Bewegung, entwickelt wurde“, ergänzt Nuszen. „Die Idee war es, den Unterschied zwischen Judentum und Christentum zu verwischen, um so Juden anzulocken, die die direkte Botschaft der Kirche ablehnen würden.“ Die Inhalte sind demzufolge stets die gleichen, nur das Auftreten nach außen hat sich dank geschickter Public Relation geändert. „Es gibt absolut keinen Unterschied zwischen dem, was Mitch Glaser glaubt, und beispielsweise die Southern Baptist Denomination“, weiß sie zu berichten. „Chosen People Ministries hat einfach das Christentum in eine jüdischen Verpackung gesteckt.“ All das sind auch die Gründe, warum angefangen von der Reformbewegung bis hin zur Ultraorthodoxie sich alle Strömungen im Judentum in ihrer Ablehnung gegenüber diesen Gruppierungen einig so sind.
Dabei würden es einige dieser messianisch eingestellten Juden sehr begrüßen, wenn ihre Bewegung als eine Strömung innerhalb des Judentums anerkannt wird und betrachten sich auch als eine solche. Doch die Tatsache, dass sie alle eng mit Evangelikalen zusammenarbeiten, macht sie automatisch zu Vorfeldorganisationen der Judenmission. Zwar ist es nach israelischem Recht nicht legal, Minderjährige zum Wechsel der Religion zu motivieren, oder finanzielle und sonstige Unterstützung als Gegenleistung für einen Glaubenswechsel anzubieten. Doch „Chosen People Ministries“ würde beides betreiben, ist Nuszen überzeugt. Wenig überraschend erklärt Glaser gegenüber der „Jerusalem Post, dass diese Behauptungen „Lashon hara und unwahr“ wären, also böse Nachrede. Zugleich gibt er aber zu, dass seine Arbeit sehr effektiv sei – ohne dabei das Wort „Bekehrung“ zu verwenden, weil seiner Überzeugung nach Juden, die an Jesus glauben, trotzdem weiterhin Juden bleiben würden.
Und Glaser verweist auf die Erfolge der Vergangenheit. So seien die 1990er Jahre die Blütezeit seiner Organisation gewesen, weil im Rahmen der Aliyah aus der ehemaligen Sowjetunion „viele junge Menschen aus der Ukraine, Weißrussland und Russland zum Glauben an Jesus kamen“. Sie hätten sich „Chosen People Ministries angeschlossen und würden nun ebenfalls als Missionare tätig sein. Kurzum, man will an die Erfolge von einst wieder anknüpfen. Genau deshalb kümmern sich messianische Gruppierungen wie seine so sehr um die Geflüchteten aus der Ukraine. Denn bei den allermeisten anderen Juden würde ihre Agitation im Namen Jesu nicht greifen, glaubt Rabbiner Tovia Singer. Deshalb richten sich ihre Angebote immer an Gruppen in einer schwierigen Lage. „An Ältere, die beinahe an Einsamkeit sterben, an Menschen, die nichts über ihren Glauben wissen oder Jugendliche mit Problemen. Und sicherlich auch an neue jüdische Einwanderer aus Osteuropa, deren jüdische Erziehung sie zu schwach macht, um darauf zu reagieren.“
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