Flüchtlinge oder Neueinwanderer?

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Mit der Aufnahme von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, tut sich Israel ziemlich schwer. Es geht zum einen um das Selbstverständnis, Zufluchtsort für Juden in Not aus aller Welt zu sein. Zum anderen ist nicht jeder Flüchtling wirklich gerne gesehen.

Von Ralf Balke

Willkommen zurück in den 1990er Jahren. „Die Bürger Israels stehen vor einer großen Herausforderung“, verkündete vor wenigen Tagen Naftali Bennett anlässlich einer Gedenkfeier für Joseph Trumeldor, den Gründer der zionistischen Jugendorganisation Hechalutz, in Tel Hai. „Wir sind am Anfang einer neuen Aliyah“, so der Ministerpräsident weiter. „Viele Juden wollen aus dem Kriegsgebiet in Europa zu uns nach Israel kommen. Sie gehören zu uns, und das israelische Volk wird sie aufnehmen.“ Zugleich forderte er alle Israelis auf, „unsere Brüder und Schwestern herzlich willkommen zu heißen“ und versprach, dass man die Neueinwanderer mit Wohnungen, Schulen und Arbeitsmöglichkeiten bestmöglich versorgen möchte. Bereits seit dem Beginn der Ukrainekrise spekulieren die Verantwortlichen darüber, wie viele Juden nun ihre Koffer packen werden und Israel zu ihrer neuen Heimat machen möchten. All das soll Erinnerungen an die Zeit der letzten größeren Einwanderungswelle vor knapp 30 Jahren wecken, als viele Hunderttausende aus der kollabierenden Sowjetunion ins Land geströmt waren.

Genau an diese Erfolgsgeschichte möchte man anknüpfen, spricht von rund 200.000 Menschen, die allein in der Ukraine auf Basis des Rückkehrgesetzes die Möglichkeit hätten, nach Israel einzuwandern und die Staatsbürgerschaft zu beantragen, weil sie Juden sind, jüdische Vorfahren haben, oder aber mit Juden verheiratet sind. 100.000 davon werden diese Option womöglich in Anspruch nehmen und bald kommen, heißt es bei den entsprechenden Behörden in Israel, die sich um die Formalitäten und Integration kümmern sollen. Zudem würden viele tausend Juden aus der Russischen Föderation oder Belarus aufgrund der sich dort rapide verschlechternden Wirtschaft, Sanktionen und den politischen Repressalien ebenfalls überlegen, woanders eine neue Heimat zu suchen, wobei man gerne die erste Wahl wäre. So nannte Neta Briskin-Peleg, Direktorin von Nativ, jener Organisation, die sich traditionell um die Belange ausreisewilliger Juden aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion kümmert, allein aus diesen beiden Staaten eine Zahl von über 14.000 Personen, die sich gerade um entsprechende Papiere kümmern würden.

Wer bei dem israelischen Konsulat in St. Petersburg oder der israelischen Botschaft in Moskau einen Termin haben möchte, um sich über die Konditionen einer Einwanderung zu informieren, kann locker acht Monate warten – so stark ist derzeit der Andrang. „Jeder, der die Hoffnung hat, die Staatsbürgerschaft zu erhalten und Russland zu verlassen, versucht genau das gerade zu machen“, erklärt ein Künstler in Moskau gegenüber der Jewish Telegraphic Agency. Er selbst hat das Einwanderungsverfahren bereits vor dem Krieg durchlaufen und wird bald nach Israel ausreisen, bat aber um Anonymität, weil derzeit mit der ausländischen Presse in Russland zu sprechen, nicht immer eine gute Idee ist. Doch die Tatsache, dass der Rubel außerhalb Russlands so gut wie wertlos ist und Devisen kaum zu bekommen sind, könnte manchen Ausreisewilligen einen Strich durch die Rechnung machen, weil sie sonst völlig mittellos in Israel ankommen würden.

Aus der Ukraine hat es ebenfalls bereits manche nach Israel verschlagen, auch wenn die Zahlen angesichts über 3,5 Millionen Flüchtlinge insgesamt ein verschwindend kleine Größe sind. Rund 20.000 nichtjüdische ukrainische Staatsbürger befanden sich bereits vor Ausbruch des Krieges in Israel. Sie dürfen vorerst im Land bleiben. Hinzu kamen rund 7.000 weitere Personen, von denen rund die Hälfte auf Basis des Rückkehrgesetzes sofort Israelis werden könnte. Rund 150 Personen aus der Ukraine aber hat man die Einreise verweigert. Doch es gibt einen Unterschied im Umgang mit denen, die auf Basis des Rückkehrgesetzes einwandern können und jenen, die einfach nur als Flüchtlinge kommen. Während den potenziellen Israelis von Morgen alle Vergünstigungen zur Verfügung gestellt werden, die laut Gesetz Neueinwanderern zustehen – angefangen von einer finanziellen Soforthilfe bis hin zu Steuererleichterungen, verfuhren die Behörden mit den nichtjüdischen Ukrainern sehr restriktiv. So verlangte man von ihnen bereits am Flughafen eine Art Kaution in Höhe von 10.000 Schekel, umgerechnet rund 2.700 Euro – eine Summe, die kaum jemand bezahlen konnte. Anderenfalls dürften sie nicht einreisen. Am Ben Gurion Airport kam es deshalb zu unschönen Bildern, die im wahrsten Sinne des Wortes gestrandete Ukrainer zeigten, die auf dem Gelände bei unzureichender Versorgung festgehalten wurden. Einwanderungsministerin Pnina Tamano-Shata bezeichnete die Situation „völlig inakzeptabel“ und machte Innenministerin Ayelet Shaked für die katastrophale Lage verantwortlich. „Es ist beschämend und beschädigt unser Ansehen in der Welt.“ Auf Facebook konterte Shaked: „Jeder vernünftige Mensch versteht, dass der winzige Staat des jüdischen Volkes kein Ersatz sein kann für die verschiedenen europäischen Länder, einschließlich der Nachbarn der Ukraine, die ihre Grenzen jetzt so großzügig geöffnet haben.“

Die israelische Öffentlichkeit zeigte sich gleichfalls schockiert, sodass aufgrund der Kritik an diesem Umgang mit den Flüchtlingen Shaked, die diese Regeln veranlasst hatte, am 8. März zurückrudern musste. Fortan erhielten die Ukrainer ein Visum, das ihnen den Aufenthalt in Israel gestattete, und zwar für genau drei Monate. Sollten die Kampfhandlungen danach weiter andauern und eine Rückkehr unmöglich machen, dürfen sie aber länger bleiben und sogar Jobs annehmen. Und statt einer Kaution müssen nun alle nichtjüdischen Ukrainer, die keine jüdischen Partner oder Familienangehörigen haben, ein Formular unterschreiben, in dem sie versprechen, Israel sofort nach Beendigung des Ausnahmezustands in der Ukraine wieder zu verlassen. Ohne eine zuvor Online eingeholte Genehmigung zur Einreise kann sowieso kein Flüchtling mehr in ein Flugzeug Richtung Israel steigen. Zehn Tage später sorgte Shaked erneut für Negativ-Schlagzeilen, weil sie darauf bestand, dass der israelische Staat nicht für die medizinische Versorgung der Geflohenen im Land aufkommen werde. „Das ist eine Schande und ein Skandal“, so die Reaktion von Gesundheitsminister Nitzan Horowitz auf diese Ankündigung und versprach, dass seine Kabinettskollegin nicht damit durchkommen werde. Diese legte aber noch eine Schippe drauf und erklärte, dass doch die Personen, bei denen die Flüchtlinge derzeit untergekommen waren, gefälligst auch noch die Arzt- und Medikamentenrechnungen der Ukrainer zahlen sollen.

Aber auch solchen Flüchtlingen, die aufgrund des Rückkehrgesetzes Anspruch auf die israelische Staatsangehörigkeit haben, kann Ungemach drohen. Wie bereits bei der großen Einwanderungswelle in den 1990er Jahren gelten aus halachischer Sicht viele von ihnen als Nichtjuden, weil sie keine jüdische Mutter vorweisen können. Dieses Problem haben mehrere hunderttausend Israelis, die zwar der Wehrpflicht unterliegen, aber in zivilrechtlichen Angelegenheiten wie Hochzeit oder Beerdigung schnell an Grenzen stoßen. Noch ist es zu früh, um zu wissen, wie viele der neuen Bürger aus halachischer Sicht nicht als jüdisch gelten, weshalb sie unter die Kategorie „religionslos“ fallen, aber es dürfte rund die Hälfte von ihnen sein. Bei einem Briefing für das Jewish People Policy Institute präsentierte Vladimir Khanin, Professor an der Universität Tel Aviv und selbst gebürtiger Ukrainer, Statistiken, die zeigen, dass von den ukrainischen Einwanderern nach Israel aus dem Zeitraum zwischen 2014 bis 2018 nur etwa 40 Prozent drei oder vier jüdische Großelternteile hatten, 22 Prozent zwei jüdische Großeltern, 21 Prozent eines und 23 Prozent keines. Und dass es nicht einfacher wird, darauf verweisen Versuche seitens nationalreligiöser Politiker wie Bezalel Smotrich, die das Rückkehrgesetz dahin gehend ändern wollen, dass allen Personen, die halachisch nicht zu hundert Prozent als Juden gelten, die Staatsangehörigkeit verweigert werden sollte.

Über die Einstellungen der Israelis gegenüber den nichtjüdischen Flüchtlingen gibt es jetzt eine brandneue Umfrage. Diese zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit und Religiosität. So befürworteten lediglich sechs Prozent der Personen, die sich als ultraorthodox oder Haredi bezeichneten, die Aussage, dass Israel unabhängig von der Frage, ob es sich um Juden oder Nichtjuden handelt, so viele ukrainische Flüchtlinge wie möglich aufnehmen sollte. Bei orthodoxen und nationalreligiösen Israelis waren es immerhin 20 Prozent, die dafür plädierten, bei traditionell-religiösen oder traditionellen, aber nicht-religiösen Israelis stimmten 35 Prozent dafür und bei den Säkularen sogar 60 Prozent. Wer sich politisch eher dem linken Lager zuordnete, war in drei Viertel aller Fälle für eine solche Regelung, bei Befragten mit einer zentristischen Einstellung lag der Wert bei knapp 60 Prozent und diejenigen, die sich als rechts einstufen, befürworten einen solchen Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen nur zu 31 Prozent.

In der Untersuchung, durchgeführt vom Israel Democracy Institute, wurde ebenfalls nachgefragt, wer für den Krieg in der Ukraine die Verantwortung trägt. 75,8 Prozent der befragtem jüdischen Israelis nannten Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin. Bei den israelischen Arabern sah das dagegen ganz anders aus. Nur 26,6 Prozent von ihnen sehen in Russland den Schuldigen, fast ein Viertel nennen die Vereinigten Staaten und die NATO, sieben Prozent die Ukraine selbst und zwei Prozent die russischen Separatisten in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Etwas mehr als 19 Prozent gaben allen Parteien gleichermaßen die Schuld, weitere 19 Prozent sagten, sie wüssten es nicht. Aber noch eine Aussage ist interessant: Die überwältigende Mehrheit der jüdischen Israelis, und zwar fast neun von zehn, ist der Auffassung, dass der Einmarsch Russlands in der Ukraine „Israel eine Lehre sein sollte, dass man sich bei der Aufrechterhaltung seiner Sicherheit niemals auf internationale Institutionen verlassen darf, sondern nur auf sich selbst.“

Bild oben: Ministerin Pnina Tamano-Schata heißt 150 jüdische Einwanderer aus der Ukraine am Flughafen willkommen, Foto: Screenshot GPO