Der letzte Jolly Boy ist gegangen

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Der Schoah Überlebende Leon Henry Schwarzbaum starb im Alter von 101 Jahren

Von Christel Wollmann-Fiedler

Das Georg-Mendheim-Oberstufenzentrum in Oranienburg zeigte im Jahr 2014 den Film „Ein Weg – Tausende Schicksale“ in Sachsenhausen. Der Film entstand aus einem Projekt von Schülern und einigen Lehrern. Mit sechs Überlebenden des Holocausts führen sie in Deutschland und Israel Gespräche über ihr Leben als Juden damals, über ihre furchtbare Zeit in Konzentrationslagern und lassen sich über den Todesmarsch von Sachsenhausen nach Schwerin erzählen. Die Überlebenden, die im Film gezeigt werden, sind Zwi Helmut Steinitz, Zelik Blotnik, Jacov Tsur, Simcha Applebaum und Fanny Englard. Die Schüler und Lehrer führen Gespräche mit ihnen in Israel und filmen die Szenen und Erlebnisse im Land an der Levante. Henry Leon Schwarzbaum, der sechste Zeitzeuge, wird von den gut vorbereiteten Schülern in seiner Wohnung in Berlin interviewt. Das Thema des Todesmarsches von Sachsenhausen durch den Belower Wald bis nach Schwerin ist ein wichtiges Thema des großartigen Dokumentarfilms.

Zwi Steinitz und seine Frau Regina sind zur Filmpremiere aus Tel Aviv nach Oranienburg gekommen und auch Leon Schwarzbaum aus Berlin. Ich höre gespannt zu als der kultivierte alte Herr Henry Leon Schwarzbaum im Anschluss mit uns Gästen über sein Leben spricht und über das Überleben mehrerer Konzentrationslager.

Polnische Juden sind Leon Schwarzbaums Eltern, die vor dem 1. Weltkrieg westlich gezogen sind und in Hamburg blieben. Der Sohn Leon Henry wird am 20.2.1921 in der Hanse- und Hafenstadt Hamburg geboren. Die Mutter hat Heimweh, so geht es nicht nach Argentinien, wohin der Vater mit der Familie auswandern möchte. Die Familie zieht bereits 1923 nach Oberschlesien, nach Bedzin an die Schwarze Przemsa, nahe bei Katowice, zu den Großeltern. In Bedzin besucht Leon die Schule treibt Sport, singt und steppt mit Freunden in der A-capella Gruppe die „Jolly Boys“. Bedzin hat seinerzeit eine der größten jüdischen Gemeinden Kleinpolens mit fast 25.000 jüdischen Bürgern. 1939 überfällt Hitlerdeutschland Polen, Bedzin wird von der Deutschen Wehrmacht besetzt und Oberschlesien völkerrechtswidrig ins Deutsche Reich eingegliedert. Bedsin heißt seitdem Bendsburg. Für die jüdische Bevölkerung in dem Dombrowaer Kohlebecken wird das Leben furchtbar. Leon Schwarzbaum kommt ins Ghetto in Bedzin, von dort werden alle Juden, auch die Familie Schwarzbaum, in das nur unweit entfernte Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Die Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins, über dreißig Verwandte von Leon, werden direkt nach dem Ankommen ermordet. Er, Leon, wird Zwangsarbeiter im KZ Auschwitz im Außenlager Bobrek bei den Siemenswerken. Der spätere Weitertransport geht ins KZ Buchenwald bei Weimar und weiter zum Arbeiten bei Siemens in Haselhorst im kriegszerstörten Berlin. Sachsenhausen ist die letzte Station seines unerträglichen Lebens. Im April 1945 wird das KZ Sachsenhausen von der SS geräumt und die jüdischen überlebenden Häftlinge, darunter auch Henry Leon Schwarzbaum, von der SS auf den Todesmarsch getrieben. Viele tausende unterernährte Gefangene halten die Strapazen nicht aus, sterben am Weg oder werden erschossen. Auf den Straßen ist Chaos, Fahrzeuge der deutschen Wehrmacht sind unterwegs in eine nicht mehr vorhandene Zukunft, Trecks von Flüchtlingsfamilien aus den Gebieten im Osten Deutschlands kreuzen den Weg gen Westen. „Es war die Hölle“, wie Schwarzbaum erzählt. In Raben Steinfeld bei Schwerin wird Leon Schwarzbaum am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit.

Nach dem 2. Weltkrieg kommt Schwarzbaum über Bedzin, Stettin und New York in West Berlin an, wo er zusammen mit seiner Frau einen Antiquitätenhandel führt. Im Alter erzählte er in Schulen über seine Vergangenheit in der Nazizeit. Im Fernsehen tritt er als Zeitzeuge bei Markus Lanz auf, der Filmregisseur Volker Schlöndorff führt ein ausgiebiges Gespräch mit Schwarzbaum, im Film „Der letzte Jolly Boy“ von Hans-Erich Viet begleitet der Holocaustüberlebende Leon Schwarzbaum das Filmteam in seine Kindheits- und Jugendstadt Bedzin und zu anderen wichtigen Stationen seines Lebens. Nebenkläger und Zeuge ist er im Landgericht Detmold bei dem Prozess gegen den SS-Unterscharführer und Wachmann Reinhold Hanning. 2019 erhält er für sein hohes Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Vor einigen Tagen starb Leon Schwarzbaum im biblischen Alter von 101 Jahren in Potsdam.