Heimatlos

1
162

Displaced Children’s Camps in Bayerisch Gmain und Prien

Von Andrea Livnat

Nach Kriegsende lebten in Westdeutschland ca. 200.000 Jüdinnen und Juden. Sie stammten überwiegend aus Osteuropa, hatten keine Familien, keine Heimat, keine Wurzeln mehr, waren nur mit dem Leben davon gekommen. Inmitten der „Trümmerlandschaft ihres ärgsten Feindes“ schufen sie eine Transitgesellschaft, mit Schulen, Sportvereinen, Zeitungen, politische Parteien und einem reichen Kulturleben.

Jim G. Tobias, Leiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, hat in zahlreichen Veröffentlichungen wegweisende Forschung zu diesen sog. Displaced Person Camps vorgelegt. In seinem neuesten Buch widmet er sich nun zwei Camps, die im Besonderen für die Betreuung von Kindern eingerichtet wurden. Etwa 13.000 Kinder wurden bis 1947 in den allgemeinen DP-Camps, aber auch in den speziellen Kinderlagern betreut. Im Unterschied zu nicht-jüdischen Waisen konnten die jüdischen Kinder und Jugendlichen nicht in ihre Heimatländer repatriiert werden. Zu groß und umfassend waren die Verluste und die daraus resultierenden Traumata. Auch wenn die Forschung in den letzten Jahren auch diesen Teilaspekt zunehmend in den Fokus rückte, viele Aspekte und viele Einrichtungen sind noch nicht systematisch erforscht.

Das Buch stellt die beiden oberbayerischen DP-Camps Bayerisch-Gmain und Prien vor. Während Bayerisch-Gmain ein Heim für ausschließlich jüdische Minderjährige war, diente Prien als multinationales Zentrum, das zur Hälfte mit jüdischen Kindern und Jugendlichen belegt war, denen auch zwei separate Häuser zur Verfügung standen. Jeweils um die 200 elternlose Kinder und Jugendliche lebten in diesen beiden Camps.

Die beiden Heime unterschieden sich gründlich in ihrer Ausrichtung. Auch wenn das Kinderheim in Bayerisch Gmain offiziell der UN-Hilfsorganisation unterstand, waren Betreuer und Bewohner in Bayerisch-Gmain in zionistischen Jugendorganisationen eingebunden. Die überwiegende Mehrheit der Kinder emigrierte entsprechend nach Palästina bzw. Israel. In Prien waren jüdische nicht-zionistische Gruppierungen, wie das American Jewish Joint Distribution Committee, die englische Jewish Relief Unit und der Canadian Jewish Congress dominierend, so dass die dort lebenden Jugendlichen versuchten, in die USA oder nach Kanada auszuwandern. 

Tobias zeigt den historischen Kontext der beiden Heime, die Umstände ihrer Gründung und das Alltagsleben der Kinder und Jugendlichen. Die Stärke des Buches ist die ausführliche Auswertung der Quellen, die den Leser in den Alltag der Heime eintauchen lassen. Von Schulunterricht über Freizeitaktivitäten bis hin zum Abschied aus dem Heim, Tobias lässt die Erinnerung der ehemaligen Bewohner und ihrer Betreuer sprechen. Daraus entsteht ein deutliches Bild von den Anstrengungen, die nötig waren, um die überlebenden, schwer traumatisierten Kinder und Jugendlichen aufzufangen und ihnen eine Zukunft zu ermöglichen.

Das sehr gut lesbare Buch wird sicherlich dabei helfen, das Bewusstsein für die Geschichte der Region zu schärfen. Das Thema ist aber auch weit über die Region hinaus relevant, denn die Geschichte der beiden Kinderlager bezeugt sehr eindrucksvoll die enge Verbundenheit mit Eretz Israel. Die jüdische Identität und Eretz Israel als Land der Juden war das einzige, das diesen Kindern und Jugendlichen blieb und der starke Gemeinschaftssinn half ihnen, die Schmerzen über den Verlust der Familie und die Leiden in den Lagern oder im Untergrund zu überwinden. Tobias zitiert eine jüdische Betreuerin, die auf den Vorwurf einer US-Pädagogin reagierte, wonach die starke Ausrichtung auf eine Zukunft in Palästina „Indoktrinierung“ sei. „Möglicherweise entspricht es nicht einer guten Erziehung, nur eine Seite darzustellen“, so die Betreuerin. „Aber wir können uns solchen Luxus nicht leisten: die Kinder haben nichts, gar nichts. Über was sollen wir mit ihnen reden? Über die Segnungen Polens? Die kennen sie. Über die Visa nach Amerika? Sie bekommen sie nicht. Die Landkarte von Israel ist ihre einzige Rettung. Indoktrinierung mag für normale Kinder in einer normalen Umgebung schlecht sein. Aber was ist an unserer Lage normal?“

Jim G. Tobias, Heimatlos. Displaced Children’s Camps in Bayerisch Gmain und Prien, Antogo Verlag 2021, 174 S., 21 Abb., Euro 16,00, Bestellen?

Bild oben: Purim-Feier im Kinderheim Jehuda Makabi in Bayerisch Gmain, Repro: nurinst-archiv

1 Kommentar

Kommentarfunktion ist geschlossen.