Quer durch Amerika – Eindrücke einer Reise

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Der nächste Teil der Reiseeindrücke des jiddischen Schriftsteller Schalom Asch, die ab November 1931 in Fortsetzung in der Zeitschrift Menorah erschienen. Sie sind eine Momentaufnahme des jüdischen Lebens in den USA…

Schalom Asch wurde 1880 in Kutno geboren und traditionell jüdisch erzogen. 1899 zog er nach Warschau und begann dort als Schriftsteller in Hebräisch und Jiddisch zu arbeiten. Nach einem Aufenthalt in den USA und der Rückkehr nach Russland, verbrachte Asch die Zeit des Ersten Weltkriegs in New York, wo er für jüdische Zeitschriften arbeitete und seine Theaterstücke erfolgreich aufgenommen wurden. 1923 kehrte er nach Polen zurück, musste jedoch 1938 erneut in die USA emigrieren. 1956 zog er nach Bat Jam nahe Tel Aviv. Schalom Asch starb am 10. Juli 1957 in London.

Quer durch Amerika
Eindrücke einer Reise

Von Schalom Asch
Autorisierte Übersetzung von Siegfried Schmitz
Erschienen in: Menorah, X. Jahrgang, Jänner/Februar 1932, Nummer 1/2

III.
Die verlorenen zehn Stämme

Ich liege im schaukelnden Prokrustesbett eines Pullmann-Wagens und wir rasen mit dem Sturmwind um die Wette über die unendliche Prairie, über die öde, menschenleere Wüste, durch das Totental, wo der Wind spielerisch die Sandberge hin- und herschiebt, unter denen die Leichen der ersten Pioniere liegen.

Ich hielt mich in großen und kleinen Städten auf, sah Juden mit Chinesen Handel treiben, sah Juden, die in den tropischen Niederungen von Kalifornien gedörrtes Obst bei den armenischen Gärtnern aufkaufen, — Juden, die einsam in neuentstandenen Siedlungen zwischen mexikanischen Farmern und amerikanischen Cowboys wohnen, keine Frau bekommen, die mit ihnen in den unzivilisierten Gegenden hausen will, und daher spanisch-amerikanische Bauernmädchen heiraten müssen. Ich sah Juden, die, um ihre Lungentuberkulose zu heilen, den fernen heißen Süden aufgesucht haben und jetzt mit alten Schuhen handeln. Bei ihnen sind Schuhe aus aller Herren Ländern zu finden, chinesische, japanische, mexikanische, italienische. Andere Juden sah ich, die „Expeditionen“ in die Wüste unternehmen, um Rohöl oder Silberminen zu finden, die Aktiengesellschaften gründen und Büros auf dem New Yorker Broadway haben. Ich sah auch Juden, die neue Siedlungen gründen, wie einst unsere Vorfahren in der Ukraine und in Neurußland, deren Siedlungen den Grund für die späteren jüdischen Städtchen legten. Einiges von dem, was ich gesehen, will ich hier beschreiben.

Zunächst möchte ich vom goldenen Kalifornien erzählen, dem Lande, das so sehr an unser eigenes Land Erez-Israel denken läßt, dessen Orangenduft die Erinnerung an die Orangehaine von Petach-Tikwah hervorruft und dessen Ölbaumpflanzungen das Bild von Sichem hervorzaubern; ehe ich aber von Kalifornien erzähle, wo das Wasser wie durch ein Wunder die Wüste in ein Paradies verwandelt hat (hier sehen wir, was aus Palästina werden kann), muß ich von einer sehr wichtigen Entdeckung berichten, die ich auf meiner Reise durch Amerika unweit von Chicago am Michigansee machen konnte: dort habe ich nämlich die so lange verlorenen und so viel gesuchten zehn Stämme Israels gefunden.

Bisher war man der Ansicht, die zehn Stämme Israels seien jenseits des Flusses Sambatjan zu finden, — denn hinter diesem Fluß, der glühende Steine auswirft, wohnen die „roten Juden“; aber man kann nicht zu ihnen gelangen, cs sei denn, man kommt gerade am Freitag abend ans Ufer des Sambatjan, wenn der Regen glühender Steine für einen Tag aufhört. So schreibt wenigstens der berühmte jüdische Weltreisende Benjamin von Tudela. Aber in Chicago erfuhr ich, daß die „roten Juden“, die Nachkommen der zehn Stämme, unweit von Chicago wohnen und zwar dort, wo sich auch das Paradies befindet.

Als ich diese Mär erfahren, ließ es mir keine Ruhe — ich mußte mit eigenen Augen die zehn Stämme Israels sehen, die unweit von Chicago in unmittelbarer Nachbarschaft des Paradieses wohnen.

Doch ich will schön der Reihe nach erzählen, wie es kam, daß die „roten Juden“, die Nachkommen der zehn Stämme, oder wie sie sich nennen, die „Kinder Israels“ aus dem Hause Davids, sich unweit der Riesenstadt Chicago ansiedelten.

Von den „Bnei Israel“, den Kindern Israels ist sehr oft die Rede, sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Sie gelten als die Creme der Menschheit, als die Auserwählten Gottes. Ihnen ist der Herr erschienen, um ihretwillen wird der Erlöser kommen, und auch der Nazarener sagte, er sei nicht zu den Götzendienern gekommen, sondern zu den Kindern Israels, und nicht eher werde das „Königreich des Himmels“ erstehen, das heißt, nicht eher werde die Welt erlöst werden, als bis die „Bnei Israel“ gesammelt seien von allen Enden der Erde und zurückkehrten in das Land, das Gott ihren Vätern Abraham, Isaak und Jakob verheißen.

Bisher war man der Ansicht, mit den „Bnei Israel“ seien wir Juden gemeint, von uns sei im alten und neuen Testament die Rede, uns wollten die Christen „erlösen“ und nur wir seien so verblendet, uns nicht erlösen zu lassen. So haben sie denn versucht, uns gewaltsam zu „erlösen“ und uns durch die Macht der Inquisition, der Folter und der Scheiterhaufen unter die Fittiche des christlichen Glaubens zu nehmen, damit die Welt erlöst werden könne. Als dies jedoch nichts half, da verzweifelten die Christen an uns und — die Welt ist unerlöst geblieben.

Da hatte ein kluger Christ einen guten Einfall: Warum sollen wir die Juden erst bitten Christen zu werden, damit die Welt erlöst werde? Sie sind ja gar nicht die „Bnei Israel“, von denen so viel im Alten und Neuen Testament die Rede ist. Juden und „Bnei Israel“ sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Juden sind — Juden, und die „Bnei Israel“ sind diejenigen, die ihm, dem Entdecker dieser neuen Lehre, anhängen, ihm ihr ganzes Vermögen geben, in seine Kommune eintreten, dort ihr Lehen lang arbeiten, ohne Rechnunglegung zu verlangen oder an „Gewinn“ zu denken, ihm vertrauen, alles tun, was er sie heißt, und nach den Regeln und Weisungen leben, die er geradewegs von Gott erhält.

„Warum soll Gott, der Abraham, Isaak und Jakob erschienen ist, nicht auch einem Abraham von heute erscheinen?“ — legt mir beim Empfang in seinem Büro der Stellvertreter des neuen Abraham dar, ein Christ mit einem herrlichen blonden Bart, der ihm viel Ähnlichkeit mit einem frommen Juden gibt, einem wunderschönen hellen Gesicht und zwei großen blauen Kinderaugen, deren feuriger Blick geradezu blendet. Er hat das schönste Männerantlitz, das ich seit langem sah — eine gerade, griechische Nase, frische rote Lippen und eine hohe Stirn, von der der Schimmer des Glaubens leuchtet.

Der Mann, dem Gott zu unseren Tagen erschienen ist und der das „Haus Davids“ erbaut hat, heißt Benjamin.

„Die Bnei Israel“ — erklärt mir sein Stellvertreter weiter — „sind die zehn Stämme, die zur Zeit der ersten Tempelzerstörung verloren gingen. Sie haben sich mit den Völkern der Erde vermischt und sind unter Christen und Juden zu finden. Von Millionen gehört einer zu den Bnei Israel. Und Gott erschien Benjamin und sprach: ‚Mache dich auf und sammle die Kinder Israels!‘ So sammelt denn Benjamin die Kinder Israels im „Hause Davids“, das er in der Nähe eines Gartens hart am Michigan errichtet hat. Dort leben alle Männer, Frauen und Kinder, in Gemeinschaft. Sie übergeben Benjamin ihr Vermögen und arbeiten in einer Kommune. Die Geschäftsführung besorgt Benjamin mit seinem Stab für sie. Und wenn alle Kinder Israels gesammelt sein werden, dann kommt die Welterlösung.“

Richtig, noch etwas — die Bnei Israel sterben nicht. Nach dem Wort der Schrift: „Du wirst nicht verschnitten werden von deinem Volke“ — natürlich, wenn du gut und fromm bist, dein Vermögen Benjamin übergibst und Mitglied seiner Kommune wirst.

„Aber dann und wann stirbt ja doch jemand?“ — frage ich den Stellvertreter des neuen Abraham.

„Das ist ein Zeichen, daß er nicht von den Bnei Israel stammt und nicht hiehergehört hat.“

„Und wenn nun Benjamin selbst stirbt?“ — frage ich hartnäckig.

„Benjamin wird nie sterben“ — erklärt mein Gewährsmann in bestimmtem Ton. — „Er kann nicht sterben, denn er stammt von den Bnei Israel.“

„Aber was wird geschehen, wenn er dennoch stirbt?“ — ich beharre auf meinem Skeptizismus.

„Dann, dann . .., ja, ich weiß nicht, was dann geschehen wird“ — lautet die Antwort.

Doch wenn ihr dem Manne in die großen blauen Augen schaut und den majestätischen blonden Bart in seinem leuchtenden Antlitz betrachtet, wenn ihr diese vibrierenden Nasenflügel, diese beweglichen vollen Lippen sehet, — dann seid auch ihr überzeugt: Benjamin wird nie sterben, Benjamin wird immer wieder lebendig werden.

Bisher haben sich etwa tausend der „Kinder Israels“ in Davids Hause gesammelt, zumeist Farmer, die aus nur ihnen bekannten Ursachen ihres bisherigen Lebens müde geworden sind und mit ihrem Kreise gebrochen haben. Offenbar von religiösen Stimmungen und von innerer Unruhe getrieben, haben diese Suchenden ihr Geld, ihre Arbeitskraft und ihre Zukunft Benjamin überantwortet. Alle tragen große ungeschorene Bärte und lassen sich Haar und Schläfenlocken lang wachsen. Das verleiht ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Juden — nicht denen Amerikas, sondern den osteuropäischen. Die große Bodenfläche, die ihnen zur Verfügung steht, haben sie in eine Stadt mit tausenden von Acres hochkultivierten Landes verwandelt, das sie mit ihren Kräften, wohl auch mit ihrem Glauben und ihrer religiösen Ekstase fruchtbar gemacht haben. Ihr Besitz gilt als der am besten bearbeitete in den Vereinigten Staaten. Das Obst und Gemüse, das sie ziehen, findet im ganzen Lande Abnehmer. Sie wohnen gemeinschaftlich in der mit einer Mauer umgebenen kleinen Stadt, die zu betreten streng untersagt ist. Über dem Stadttor steht in großen Goldbuchstaben das Wort „Jerusalem“. Sie leben in einer Kommune. Dem entsprach auch bis vor kurzer Zeit ihr Privatleben und so griff denn prompt die Regierung ein, deren Aufgabe es ist, jeder neuen und interessanten Lebensform, die durch neue Strömungen hervorgebracht wird, ihr Augenmerk zuzuwenden und sie in die banalen Formeln des Herkömmlichen zu pressen. Seither sind die Männer genötigt, sich mit ihren Frauen „trauen“ zu lassen.

Krieg und Militärdienst lehnen sie ab. Dennoch wurden sie im letzten Kriege gezwungen, in die Armee einzutreten. Doch eines ihrer ältesten Mitglieder, ein Greis mit einem langen lockigen Judenbart, erklärte mir — und dabei glänzte das Licht des Glaubens in seinen Augen:

„Gott war mit uns. Ehe noch unsere Brüder ins Feld geschickt wurden, war der Krieg zu Ende.“

„Gott bewahrte uns davor, Blut zu vergießen“ — fügte ein anderer hinzu.

Die Bewohner der Kolonien sind zumeist ältere, vom Leben müde Leute, denn die heranwachsende Jugend bleibt nicht in der Kommune. Sogar der Sohn des Propheten Benjamin hat dem „Hause Davids“ den Rücken gekehrt und führt jetzt, wie man mir erzählt, in Paris ein lustiges Leben. Es gibt aber auch junge Leute, zu denen der Ruf des Propheten gedrungen ist und die sich im „Hause Davids“ niedergelassen haben.

Ohne Zweifel werden die meisten, die hieher kommen, von tief religiösen Empfindungen dazu veranlaßt. Denn die Gesichter der „Bnei Israel“ (die übrigens kein Fleisch essen) sind nicht nur durch den langen Bart und das lange Haar, das sie wie Frauen in Zöpfe geflochten tragen, sondern vor allem durch das Licht des Glaubens, das aus ihnen leuchtet, zu edler Feinheit verschönt, die an die Gesichter heiliger jüdischer Männer gemalmt. Ein junger Deutscher, den ich dort sah, hat ein Gesicht, das ich nie vergessen werde: die saphirblauen Augen klar wie ein Bergbach; das rote Haar glänzt wie eine Feuerflamme, das schmale reine Asketengesicht ist von einem feuerroten Bart umgeben, der es wie ein Heiligenschein umkränzt. Ich begegnete ihm im Wintergarten, wo er junge Stecklinge umsetzte. Er erinnerte an eine der mittelalterlichen in Holz geschnitzten und farbig bemalten Christusfiguren, die in allen deutschen Kirchen zu finden sind. Bei seinem Anblick sagte ich mir: Wäre ich eine Frau, ich wollte sofort eine Tochter Israels werden und mich im „Hause Davids“ ansiedeln …

Im „Hause Davids“, wie die Kolonie der Bnei-Israel genannt wird, dünkt man sich ins alte Erez Israel der Vorzeit versetzt. Die Gesichter, denen man begegnet, sind jüdisch, rabbinisch, vor allem durch die Bärte und Schläfenlocken. Auch die Straßennamen sind jüdisch: Eine Gasse heißt „Jerusalem“, eine andere „Zion“, eine dritte „Jericho“. Alle biblischen Ortsnamen sind vertreten. Doch das Wunderbarste im „Hause Davids“ ist — das Paradies.

Über dem Tor eines großen Gartens steht in Goldbuchstaben: „Paradies, Eintritt 25 Cents.“

Es interessierte mich zu sehen, wie die Amerikaner sich das Paradies vorstellen. Der Charakter eines Volkes läßt sich aus seiner Vorstellung vom Paradies erkennen. Die Juden sehen sich im Paradies auf goldenen Stühlen thronen, neben ihnen ihre Frauen auf Schemeln; sie erfahren die Geheimnisse der Thora und werden vom Licht der Gottesherrlichkeit umstrahlt. Im Dirnenviertel von Kairo sah ich das Paradies der Muselmanen: nackte Negermädchen tanzten den berühmten Bauchtanz. Die Perser stellen sich ein Paradies vor, in dem die Seelen der Menschen in den Körper schöner Tiere, wie Hirsche und Gazellen wohnen und einander lieben, wie es in der persischen Dichtung besungen, auf persischen Miniaturbildern dargestellt und in kostbaren Teppichen gewebt ist. Wie aber stellt sich der Amerikaner das Paradies vor?

Amerikas Paradies befindet sich in nächster Nähe einer Großstadt. Ob dies der Prophet Benjamin wohl durchdacht hat, um mehr Seelen ins Paradies zu bringen, oder ob es bloßer Zufall ist, weiß ich nicht. Tatsache ist, daß im Sommer das „Haus Davids“ sehr viele Besucher aus Chicago und der ganzen Umgebung hat. Für sie hat auch der Prophet das Paradies errichtet.

Ich zahlte meinen Vierteldollar und gelangte als Lebender ins Paradies. Das erste, was ich im amerikanischen Paradies sah, war ein Karussel mit Holzpferdchen. Für ein Zehncentstück kann man eine Fahrt im Flugzeug machen und wer noch mehr „Emotion“ haben will, macht die aufregende Tour mit der Berg- und Talbahn mit, die in jähem Auf und Ab sogar durch Wasser und Tunnels fährt. Mit einem Wort — ein kleines Coney Island.

Es heißt, daß das „Paradies“ den „Bnei Israel“, die zu den verlorenen zehn Stämmen gehören, viele Tausende von Dollar einbringt und daß das „Haus Davids“ eine der einträglichsten Unternehmungen im Staate Illinois ist. Denn was Coney Island für New York ist, das ist das „Paradies“ und das „Haus Davids“ für Chicago.

Als ich mit eigenen Augen sah, wie gute Geschäfte die Kinder Israels machen, die zu den verlorenen zehn Stämmen gehören, sagte ich mir: Was für schlechte Geschäftsleute sind doch wir, die Kinder Israels aus dem Stamme Juda! Wir müßten einen Manager haben, wie ihn die verlorenen zehn Stämme in dem Propheten Benjamin besitzen! Er würde mit uns dick verdienen, z. B. durch den Versand von Jordanwasser in Flaschen für die Taufe, von 5-Pfund-Packeten Palästina-Erde u. dgl. In der Bibel steckt doch ein Bombengeschäft! Ein tüchtiger Manager kann daran Millionen verdienen!

IV.
Ein Judenstädtchen am Ufer des Mississippi

Ganz, ganz anders habe ich mir den „Vater der Flüsse“ vorgestellt, der unweit des Golfs von Mexiko entspringt und einen halben Erdteil durchzieht, jenen Strom, in dem der Spanier Dessato, der ihn zum ersten Mal zu durchschwimmen wagte, sein Grab fand. Ich erwartete zwischen seinen wildwuchernden Uferbüschen noch die Spuren jener weltberühmten Expedition des Franzosen La Salas und seines Schiffes „Griffin“ zu finden, das als erstes den Strom bereiste und in der Urwaldwildnis verschollen ist. So viel hatte man doch in den Knabenjahren davon gehört und so sehr die Helden beneidet, jene Abenteurer und Pioniere, die sich auf ihren Schiffen in unbekannte Fernen wagten, um neue Länder zu entdecken! Und der Knabe war fest entschlossen, wenn er erwachsen und ein Mann geworden sei, ebenfalls über den Ozean zu fahren und die Quellen des Mississippi zu erforschen. Und jetzt stehe ich an den Ufern des Stromes aller Ströme, mit dem meine Kinderphantasien sich so oft beschäftigt haben! Sein schmutziges Wasser erinnert mich an die Weichsel, ebenso seine hohen sumpfigen Ufer. Bloß die Pflaumengärten fehlen. Dafür aber liegt in einem Tal am Ufer des Mississippi, zwischen den Städten St. Paul und Minneapolis, ein kleines polnisch-jüdisches Städtchen.

In keiner Stadt Amerikas sah ich so viele engere Landsleute wie dort: Männer und Frauen aus Lowitsch, Skierniewice, Schochlin und Kutno; mehrere mit mir verwandt; ja noch mehr — einige, von denen ich überzeugt war, daß sie nicht mehr auf Gottes Erdboden weilten, standen plötzlich hier im Tal vor meinen Augen von den Toten auf. Sie waren Teilnehmer einer „Expedition“, die man nach Galveston gesendet hatte, und von dort waren sie in diese Gegend gebracht worden. Es mag sein, daß die Juden aus Furcht, zu sehr aufzufallwn, sich so gern in Tälern verstecken. Auch diese Einwanderer wählten für ihre Ansiedlung ein Tal in der Nähe von St. Paul und hier ließen sie ein richtiges polnisch-jüdisches Städtchen erstehen. Sie übernahmen den Stil ihrer Häuschen mit den Balkonen, die über die ganze Front laufen, den Fensterläden, die bei Nacht geschlossen werden, und den kleinen Kramladen, in denen es noch Petroleumbeleuchtung gibt. In diesen winzigen Geschäften, die hier — Gott weiß, warum — „grosseries“ genannt werden, erhält man, was das Herz begehrt, von einem Stückchen guter Warschauer Wurst bis zu einem Tallis, von saueren Gurken an bis zu einer Mesusah. Alles ist koscher und hat den vertrauten Wohlgeschmack wie daheim.

Ich meinte, in ein Judenstädtchen Polens geraten zu sein, als ich in der stillen Nacht durch die engen krummen Gäßchen ging, die vom Schnee bedeckt im Schein eines heimatlichen Mondes hell erglänzten. Wahrhaftig, der Mond leuchtet hier im Tal ganz anders, als wäre er gesegnet und geheiligt durch das Mondgebet, mit dem die Juden ihn begrüßen. Auch der Vollmond ist hier heller und reiner, er wird auch nicht von den elektrischen Bogenlampen der Kinos und Restaurants überstrahlt. Denn hier ist er das einzige Licht, das die Nacht erhellt. In den Wohnungen lebt man so, wie in der alten Heimat. Die gute jüdische Hausfrau aus Polen versteht das Sparen, vermag mit dem kargen Wochenlohn des Mannes so auszukommen, daß es im Hause an nichts fehlt. In den Küchen blitzt es von Sauberkeit — das ist Müttererbteil. Die jüdische Frau aus Polen ist aber nicht nur von Jugend auf eine tüchtige Hauswirtin, sondern sie legt auch all’ ihre weibliche Grazie und Keuschheit in ihren Haushalt. Aus der Wohnung läßt sich der Charakter der Frau des Hauses erkennen — und die jüdische Frau aus Polen bringt all’ ihr weiches weibliches Wesen in ihrer Kleidung und Wohnung zum Ausdruck. In jeder Wohnung fand ich hier den „Zierat“ und die Spielereien aus der alten Heimat — Leuchter, Besteck, Töpfe und alte von der Großmutter ererbte Kupferpfannen, die ins Bettzeug eingenäht die Reise über den Ozean mitgebracht hatten. Auf den Betten und Tischen lagen die gestickten Überzüge und Deckchen, die das Mädchen noch in der Brautzeit anfertigt, wenn sie ihre Ausstattung sammelt. All’ ihre Mädchenträume stickt sie in diese Stücke. Die schönen Polster und Deckchen liegen im Schrank verschlossen, aber in des Mädchens Herz verschlossen die Liebe, und beide warten auf den, der ihnen beschieden ist. Bis er kommt, erhält er die Deckchen aus dem Schrank und die Liebe aus dem Herzen…

Der Jude aus Polen liebt gutes Essen und die Frau willfahrt seinem „trefenen Hals“. In jeder Wohnung ist der Duft von Gänsefett und Grieben zu spüren. Die Frau bäckt dem Manne wochentags Barches, bereitet ihm sogar wochentags „süßen“ Fisch und Klößchen in Fischsulze, daß er seine Freude habe, wenn er abends von der Arbeit heimkommt… Und unglaublich geschickt versteht die jüdische Frau aus Polen, all’ diese guten Dinge von den wenigen Dollar Wochenlohn zu bestreiten und alles im Hause zu haben, was das Herz begehrt — denn ihr ganzes Denken ist der Mann, das Haus und die Kinder. So übt sie still und treu den Beruf, für den sie erschallen wurde, mit der reinen Liebe ihres Herzens und mit den reinen Polstern und Deckchen ihrer Schränke …

So wurde das Leben eines kleinen polnisch-jüdischen Städtchens mit all’ seiner Naivetät und Reinheit von den Ufern der Weichsel an das Ufer des Mississippi verpflanzt.

In einem dieser Häuschen lernte ich eine Judenfrau aus Warschau kennen, die mit Amerika Krieg führte. Ihre Waffen waren ein Walkholz und ein „Zeenu — ureenu“, die Frauenbibel; beide hatte sie aus Warschau mitgebracht und hielt sie in dem kleinen Küchenschrank verschlossen, zusammen mit den anderen Geräten des kleinen Heiligtums, das ihre Küche war. Der Krieg mit Amerika ging um den Sabbat und die „Jüdischkeit“. Amerika wollte ihr den Sabbat und die „Jüdischkeit“ nehmen und die Judenfrau wehrte sich dagegen. Ihren Schutz gegen den Ansturm Amerikas aber bildeten die zwei alterprobten Waffen: das Walkholz und das „Zeenu — Ureenu“. Alles hatte sie in diesem Kriege schon verloren, die älteren Kinder sowohl wie die jüngeren, und jetzt war es beinahe so weit, daß sie auch noch den Mann verlieren sollte. Doch die Judenfrau aus Warschau hielt wacker stand und ergab sich nicht.

Der Krieg hatte damit begonnen, daß ihr ältester Sohn Jojne, der den Eltern die Schiffskarten geschickt hatte und in dem neuen Lande der Ernährer des ganzen Hauses war, am Sabbat zu arbeiten begann …

„Wenn er am Morgen aufstand, und ohne zu beten, mit unbedecktem Haupt den Kaffee hastig hinuntergoß, seufzte ich schwer, aber ich verzieh es ihm“ — erzählt mir die Frau ganz naiv mit trauriger Miene — „Ich betete eben zweimal, einmal für ihn und einmal für mich, und flehte nur, Gott möge ihm vergeben. Als ich aber sah, daß mein Sohn am Sabbat arbeiten geht, da war es mit meiner Langmut zu Ende.“

„Wohin gehst du, mein Sohn?“ — fragte ich.

„Mutter, Amerika ist nicht Warschau! Hier muß man arbeiten, sonst zahlt Gott keinen Wochenlohn.“

„Aber nicht in meinem Hause, das will ich nicht erleben!“ — sie verschloß die Tür, nahm das Walkholz in eine Hand, die Frauenbibel in die andere, faßte bei der Tür Posto und ließ den Sohn nicht über die Schwelle.

„Blume, was tust du?“ — schrie der Mann verzweifelt. — „Er ist doch unser Ernährer! Willst du ihn aus dem Hause vertreiben?“

„Lieber soll er aus dem Haus! Ich esse nichts, was nach Schwein riecht, was durch Entweihung des Sabbat erworben ist, — ich dulde es nicht!“

Das Ende vom Lied war, daß der Sohn tatsächlich das Haus verließ und der größte Teil des Unterhalts der Familie fort war. So verlor Frau Blume einen Sohn im Krieg gegen Amerika.

Eine erwachsene Tochter ging arbeiten, der Mann verdiente ein wenig durch Hausierhandel und so kam man schlecht und recht ohne den Sohn durch und lebte, wie Gott es geboten.

Aber die Tochter verliebte sich in einen ‚Litwak‘.

„Als sie mir den ‚Litwak‘ ins Haus brachte“, — erzählt die Mutter weiter — „gab es mir sofort einen Stich ins Herz. Aber wir sind in Amerika, — kann ich ihr vorschreiben, mit wem sie gehen soll? ‚Liebe Tochter‘, sage ich ihr, ‚du darfst ihn heiraten, aber du mußt eine jüdische Frau bleiben und leben, wie es einer jüdischen Frau vorgeschrieben ist.‘

Sie antwortet: ‚Mutter, Amerika ist eine andere Welt‘.

Mir wurde es schwarz vor den Augen.“

Nach der Hochzeit kam die Mutter nachsehen, ob die Tochter „die Vorschriften hielt, die eine jüdische Frau beobachten soll“ — das war dem Schwiegersohn nicht recht, er verbat sich das „Gucken in fremde Töpfe“.

Die Tochter wurde ärgerlich: „Mutter, willst du vielleicht, daß ich mich deinetwegen von meinem Mann scheiden lassen soll?“

Die Mutter antwortete: „Meinst du etwa, daß du deinem ‚Litwak‘ in allem nachgeben mußt? Am Sabbat muß er frische Suppe haben — anders war er’s bei Muttern daheim nicht gewöhnt!?“

So kam es zum offenen Zwist, und die Mutter besucht die Tochter nicht mehr: „Ich bringe es nicht über mich — das Herz krampft sich mir zusammen, wenn ich sehe, wie sie leben. Das ist Amerika!“

„Wir hatten noch einen Knaben zu Hause, der die ’school‘ besuchte, ihm hat sie bittere Stunden bereitet“ — jetzt führt der Mann, ein lustiger Warschauer Jude von stattlicher Erscheinung, mit schönem Bart und sympathischen Zügen, die Erzählung weiter. — „Um sechs Uhr morgens mußte er aufstehen, um zu beten, bevor er in die Schule ging. Ehe er nicht gebetet und sich zum Essen gewaschen hatte, bekam er keinen Bissen Brot. Am Sabbat durfte er überhaupt nicht aus dem Hause, sie ließ ihn nicht einmal ein Stückchen blauen Himmel begucken. Schließlich ist er ja doch ein Knabe, wir leben in Amerika — und sie will mit Amerika Krieg führen! Eine Tages hat er seine Sachen gepackt und ist durchgegangen, zum älteren Bruder.“

So hat Frau Blume auch ihren Jüngsten im Krieg gegen Amerika verloren, und jetzt kämpft sie um ihren Mann:

Er ist auch schon so weit. Ihm paßt es auch nicht mehr, in Amerika Jude zu sein. Das hat er den Kindern abgeguckt“ — sie wendet sich an den Mann: „Du wirst noch ganz des Teufels werden!“

Der Mann lächelt in seinen Bart und schwört die heiligsten Eide, daß seine Frau ihm Unrecht tut: „Die Sache ist so — ich habe einen ‚job‘ bekommen, einen guten ‚job‘, als ‚boss‘ in einem Verladeraum. Ich habe nichts zu tun, als die Verlader zu beaufsichtigen, aber sie reißt mir die Jahre herunter!“

Am Freitag schließt er um halb fünf Uhr. Da ist es im Winter schon dunkel. Er schwört, daß er nicht mit der Car fährt, sondern zu Fuß nach Hause geht, aber die Frau glaubt es nicht: „Das Brot, das er verdient, schmeckt nach Schwein, der Bissen würgt mich im Hals! In seinen alten Tagen arbeitet er am Sabbat! Das Gebetbuch nimmt er nicht in die Hand und am Sabbat gibt es für ihn keine Psalmen, keine „Sprüche“, kein Beten — nur eines, das ‚Paper‘. Das ‚Paper‘, die Zeitung ist sein Gebetbuch, seine Bibel, sein Alles. Ein schönes Jenseits schallt er mir!“

„So reißt sie mir die Jahre herunter! Was willst du eigentlich? Amerika umkrempeln?“

„Amerika, Amerika! Der Teufel hole dich samt deinem Amerika! Wenn man schon in Amerika leben muß, muß man Gott vergessen? Du Dummkopf, Gott wohnt auch in Amerika und er wird dich auch hier finden . ..“ — damit enteilt Frau Blume in die Küche, um den Tee zu bereiten.

„So reißt sie mir die Jahre herunter“ — klagt mir der Mann leise sein Leid weiter. — „Am Sabbat läßt sie mich kein ‚Paper‘ in die Hand nehmen, schlägt die Frauenbibel auf und faßt das Walkholz. Sie glaubt, daß sie gegen Amerika aufkommen kann! Mit einem Walkholz will sie gegen Amerika Krieg führen! Amerika ist stärker als sie“ — der Jude lacht.

„Aber Gott ist stärker als ihr alle und als ganz Amerika, glaub’ es mir!“ — ruft die Frau aus der Küche ins Zimmer. Offenbar hat sie unser Gespräch belauscht.

–> Fortsetzung