Zwei Väter, Mutter, Kinder

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Aaron K. Roth studierte an einer Jeschiwa in Israel und lebt in einer Regenbogenfamilie

Ein Porträt aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 18.07.2021
Foto: Gregor Zielke

Seit einigen Jahren leben mein Mann Michael und ich gemeinsam mit einer Freundin in einer Regenbogenfamilie. Sie ist die Mutter von unseren beiden Kindern, einer Tochter und einem Sohn. Die Kinder leben mit Michael und mir zusammen, und die Freundin hat eine Wohnung im gleichen Haus über uns. Das ist für viele Leute noch immer eine ungewohnte Familienkonstellation.

Deswegen war ich auch gespannt, wie sich die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) entscheiden würde, als ich Michael und mich zu einem Familienseminar in Bad Sobernheim angemeldet habe. Es war einfach mal ein Versuch, aber eigentlich hatten wir erwartet, dass sie bestimmt denken würden, es sei ein bisschen zu schwul für sie. Wir waren dann sehr positiv überrascht, als sie uns angenommen haben.

Das gesamte Team der Seminare und auch die meisten Teilnehmer zeigten Akzeptanz und Wertschätzung angesichts der Vielfalt und ein gesundes Interesse an uns. Die ZWST macht es tatsächlich möglich, unterschiedliche Geschichten zu erzählen, einander persönlich kennenzulernen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Letztendlich kann Homophobie – genau wie der Antisemitismus – oft durch den menschlichen Kontakt entwaffnet werden. Wenn man sagen kann: »Ich kenne eine Regenbogenfamilie mit zwei Vätern, und die sind toll«, wird es dieser Person schwerer fallen, sich schwulenfeindliche Ressentiments zu eigen zu machen. Das hoffe ich zumindest.

Im Alter von elf oder zwölf Jahren hatte ich etwas an mir entdeckt, was ich nicht benennen konnte. Ich kann mich noch erinnern, dass ich damals in Alma Ata, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin, bei meinen Großeltern saß. Sie hatten so eine große sowjetische Enzyklopädie im Bücherregal, und ich habe darin ab und zu geblättert und heimlich unter »Homosexualität« nachgeguckt.

Da stand natürlich – dem Zeitgeist entsprechend – etwas von einer »vorübergehenden Phase bei Teenagern«, die dann mit 16 oder 17 vorbei sein würde. Es stand da aber auch, dass Homosexualität bei Erwachsenen eine Krankheit sei. Das hat mir Angst gemacht und hat nicht gerade dazu beigetragen, dass ich mich mit meiner sexuellen Identität beschäftigte, geschweige denn, zu meiner Sexualität bekannte.

Mit 16 Jahren bin ich nach Israel gegangen, im Rahmen eines Programms der Organisation Naale für jüdische Jugendliche, die ohne Eltern nach Israel gehen dürfen, um dort die Schule zu besuchen. Mit der Volljährigkeit kann man sich dann entscheiden, ob man in Israel bleiben oder zurückgehen möchte.

In dem kleinen Dorf Kfar HaRoeh in der Nähe von Netanja habe ich eine Internatsschule des religiös-zionistischen Jugendverbands »Bnei Akiva« besucht. Das ist die größte Schule der Bnei-Akiva-Bewegung, die zwar dem nationalreligiösen Spektrum zugeordnet wird, aber damals eine gewisse Offenheit und Toleranz aufwies, im Vergleich jedenfalls zu anderen orthodoxen Strömungen. Bnei Akiva war bemüht, sich an die Moderne anzupassen. Das also war meine Umgebung damals, in der ich mich willkommen und geborgen gefühlt habe.

Ich habe da auch einige sexuelle Erfahrung gemacht. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass das eine religiöse Schule war. Aber zu dem Zeitpunkt konnte man das nicht wirklich benennen oder gar darüber sprechen. Das war alles sehr versteckt. Auch jetzt noch kenne ich manche, die mit mir auf dieser Schule waren.

Nach meinem Abitur bin ich zunächst zu einer Jeschiwa, einer Talmud-Hochschule, gegangen und habe dort ein Jahr studiert. Wenn ich jetzt im Nachhinein darüber nachdenke, so galt mein Interesse weniger dem Glauben als Grundlage. Was mir gefiel, war vielmehr die Begeisterung für den Lernprozess selbst. Außerdem bin ich heute sicher, dass das eine Art Versuch war, mich vor meiner Homosexualität zu verstecken. Ich habe versucht, Antworten und Heilung in religiösen Praktiken zu finden, statt offen schwul zu leben. Zu irgendeinem Zeitpunkt schien es für mich klar zu sein, dass ich darunter leiden soll. Das hieß für mich: Es ist eine Krankheit und nicht normal. Ich werde nie Kinder haben und nie glücklich sein.

Unter diesen Gedanken habe ich natürlich gelitten, und weil ich diese »Prophezeiungen« vermeiden wollte, habe ich auch mal versucht, eine heterosexuelle Beziehung zu führen, die aber dann erwartungsgemäß gescheitert ist. Da habe ich dann eingesehen, dass ich meine sexuelle Identität nicht ändern kann, auch wenn ich das noch so sehr möchte. So also habe ich es mir gegenüber zugegeben, hatte quasi ein Outing erst einmal für mich selbst gemacht, bevor ich es auch anderen sagte.

Viele Leute aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis haben daraufhin den Kontakt mit mir abgebrochen. Meinen Eltern habe ich es auch relativ schnell gesagt, nachdem ich es mir selbst eingestanden hatte. Erst habe ich es meiner Mutter erzählt, die mich gerade in Israel besuchte, und meinem Vater etwas später am Telefon.

Beide haben sehr positiv und unterstützend reagiert. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Vater gesagt hat, dass, wenn so ein Gespräch 20 Jahre zuvor stattgefunden hätte, er bestimmt nicht so entspannt hätte reagieren können. Aber seitdem hat auch er sich weiterentwickelt, und deswegen findet er das überhaupt nicht schlimm. Meine Mutter hat durchgehend positiv reagiert.

Ich habe dann in Israel den Wehrdienst geleistet und parallel eine Hochschule absolviert, die Jeschiwat Hesder hieß. Das ist so eine Zwischenstation, die es männlichen religiösen Juden ermöglicht, während des Wehrdienstes das Talmudstudium fortzusetzen. Die Jeschiwat Hesder war in Ma’alot im Norden Israels, ziemlich nahe an der libanesischen Grenze. Während ich dort gedient habe, fing ich an, eine Gruppe für junge Schwule und Lesben in einem LGBTQ-Jugendzentrum zu besuchen.

Nach meinem Wehrdienst habe ich dann in Haifa gelebt und war dort zivilgesellschaftlich aktiv, indem ich den schwul-lesbischen Verein »Haifa Forum« geleitet habe. Die Gewissheit, dass man nicht mehr alleine ist, hat mir ein sehr gutes Gefühl gegeben.

Natürlich hatte ich auch zuvor nie wirklich gedacht, dass ich in Israel damit alleine bin. Es war mir schon klar, dass es noch andere Schwule und Lesben gibt, aber ich kannte sie persönlich nicht. Jetzt konnte ich sie auch beim Namen nennen, mit ihnen reden und Erfahrungen austauschen – oder einfach nur zuhören. Das war auf jeden Fall sehr befreiend.

Insgesamt habe ich elf Jahre in Israel gelebt, und ein Weggang war auch lange nicht geplant. Das war eher eine Entwicklung, die ihren Lauf nahm, als ich noch an der Uni war. Ich habe an einem polnisch-deutsch-israelischen Projekt zum Thema »Gerechte unter den Völkern« teilgenommen. So kam ich zum ersten Mal nach Berlin und habe mich einfach in diese Stadt verliebt. Es war sofort diese emotionale Verbindung zu spüren.

Nach einer Woche in Berlin war mir klar, dass ich hier leben will. Nicht einfach nur zwei bis drei Wochen Urlaub, sondern wirklich hierherziehen, um hier mein Lebenszentrum zu haben. Deswegen bin ich dann nach diesem Projekt zurück nach Israel gegangen, habe das Studium abgeschlossen, mein Referendariat gemacht, und dann bin ich nach Berlin gekommen.

Inzwischen arbeite ich hier bei der »WerteInitiative. jüdisch-deutsche Positionen«, einem zivilgesellschaftlichen jüdischen Verein, für den ich das operative Geschäft leite. Privat lebe ich mit meinem Mann, der Freundin und unseren beiden Kindern eben in jener Regenbogenfamilie, für die ich am Familienseminar der ZWST teilnehme.

Vor einiger Zeit bin ich zu Keshet gekommen, einer Organisation, die die Interessen von queeren, schwul-lesbischen Juden und Jüdinnen sowohl innerhalb der Gemeinden, aber auch nach außen vertritt. Ich unterstütze den Vorstand in allen Fragen der Finanzen und des Mitgliedermanagements. Keshet hat in Zusammenarbeit mit verschiedenen Synagogen sogenannte Pride-Schabbatot veranstaltet, für die wir im Netz geworben haben – und das mit zunehmenden Erfolg.

Vielen queeren jüdischen Menschen geht es mittlerweile so wie mir damals im Haifa Forum: Sie stellen auf den Events von Keshet fest, dass sie nicht alleine sind, vor allem aber, dass eine queere und eine jüdische Identität kein Widerspruch sein muss.