Die Grabstätten meiner Väter

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Jüdische Friedhöfe galten in der Nachkriegszeit in Österreich für viele als verwaiste, zum Teil gar als verwahrloste Orte, ohne dies als direkte Folge der NS-Vertreibungs- und Vernichtungspolitik zu benennen, durch die die Nachfahren der Begrabenen entweder in der Shoah ermordet wurden oder in aller Welt verstreut lebten. Darüber hinaus geraten jüdische Friedhöfe bis heute vor allem durch antisemitische Zerstörungen in die Schlagzeilen.

Von Monika Halbinger

Erst in den letzten Jahrzehnten ist ein breiteres Bewusstsein für die öffentliche Verantwortung gegenüber diesen Erinnerungsstätten entstanden. Dass jüdische Friedhöfe aber auch durchaus in gewisser Weise sehr lebendige Orte sein können, nicht umsonst im Hebräischen – ein wenig euphemistisch – als „Beth Chaim“, Haus des Lebens, bezeichnet, hat der Historiker Tim Corbett mit seiner herausragenden Studie zu den Wiener jüdischen Friedhöfen, zu denen der jüdische Friedhof in der Seegasse, der jüdische Friedhof Währing sowie die beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs mit Tor 1 und Tor 4 gehören, unter Beweise gestellt.

Diese vier Friedhöfe fungieren hier als Archive mit den Grabsteinen als Quellen, die vergangene Zeiten lebendig werden lassen und zugleich eindrucksvoll die über 800jährige jüdische Geschichte Wiens reflektieren. Während der Friedhof in der Seegasse die älteste Begräbnisstätte seit dem 16. Jahrhundert ist, dem der moderne Währinger Friedhof folgte, auf dem bis ins 19. Jahrhundert bestattet wurde, ist im allgemeinen Gedächtnis vor allem die Abteilung bei Tor 1 des Zentralfriedhofs bekannt, die bis zum 1. Weltkrieg genutzt wurde. Für die späteren Beerdigungen wurde dann der neue jüdische Friedhof bei Tor 4 geschaffen. Grundsätzlich stellen Begräbnisstätten sowohl auf familiärer als auch gemeinschaftlicher Ebene wichtige Erinnerungsorte dar. Da jüdische Friedhöfe religionsgesetzlich nicht aufgelassen werden dürfen, bieten Sie in der Regel einen weit zurückreichenden Zeitraum an Kontinuität, auch wenn natürlich mutwillige Zerstörung wie auch der natürliche Verfall eine Gefahr darstellen. In der populären Rezeption von Friedhöfen wird häufig vor allem die prominente Elite, die dort ihre letzte Ruhe gefunden hat, genannt, im jüdischen Kontext auch im Sinn einer zweifelhaften Beitragsgeschichte, in der vor allem die Leistungen von Jüd*innen hervorgehoben werden, als ob ihre Existenz und die Verurteilung ihrer Ermordung gerechtfertigt werden müsste. Corbett hingegen versucht, die gesamte Diversität, die sich auf den besagten Friedhöfen abbildet, zu erfassen. Das Besondere an Friedhöfen ist ja generell die Dokumentation der gesamten Bandbreite einer Gemeinschaft in ihrer unterschiedlichen sozialen und kulturellen Herkunft, die in den unterschiedlichsten Grabgestaltungen sowohl in als auch über die Zeit ablesbar sind und in der Moderne auch die intersektionellen Verflechtungen, also das komplexe Ineinandergreifen verschiedenster Lebenssphären wie Geschlecht, Klasse, Bildung, Beruf und vieles mehr greifbar macht.

Corbett zeigt, dass auch die Begräbnisfeiern selbst Auskunft über die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die gesellschaftliche Stellung des Verstorbenen sowie die historischen Umstände geben. Gleich zu Beginn nimmt Corbett die/den Leser*in mit zur Beerdigung Arthur Schnitzlers im Jahr 1931. Dass trotz der Verfügung Schnitzlers, ein einfaches Begräbnis haben zu wollen, die Bestattung in einem Ehrengrab im Beisein zahlreicher wichtiger Persönlichkeiten stattfand, ist ein Beispiel, wie sehr Bestattungen eher die Bedürfnisse der Überlebenden und nicht so sehr die Wünsche des Verstorbenen in den Mittelpunkt rücken. Corbett weist im Fall Schnitzlers auch darauf hin, inwieweit zeitgenössische Ängste hinsichtlich eines möglichen Scheintods sich im Wunsch nach einem Herzstich manifestierten An den Grabsteinen und ihren Inschriften lassen sich Lebensläufe, Familienverbindungen und Karrieren ablesen. Die Gestaltung ist aber auch immer ein Indikator für den Grad an religiöser Observanz, mit der der Verstorbene bzw. die Familie in Erinnerung bleiben wollte. So fehlte am Grab der Familie Schnitzler ursprünglich, wie Corbett aufzeigen kann, die weit verbreitete hebräischen Schriftzeichen „pei-nun“ für po nikbar (hier ist begraben). In der ersten Version war die hebräische Inschrift betreffend nur das Wort „shalom“, das Corbett aber eher einem säkularen-jüdischen Kontext zuordnet und häufig die religiöse Formel „tantzaba“ (möge ihre/seine Seele im Bündel des Lebens eingebunden sein) ersetzte, in den Grabstein graviert. Erst später scheint der Grabstein ergänzt worden zu sein, was auch die Veränderung in der Zuschreibung der Hinterbliebenen indiziert. Corbett spürt diese Entwicklungen auf und zeigt auf spannende Weise deren Hintergründe.

Dabei zieht sich als ein Leitthema die – aus soziologisch-historischer Perspektive nicht überraschende – Konstruktion bzw. erfundene Tradition im Sinne Eric Hobsbawms vieler vermeintlich urjüdischer Bräuche durch das ganze Buch. So waren Riten, die die Bestattung betreffen, immer einem zeitlichen Wandel unterworfen, auch in Wien. Zudem kann nicht von einer einheitlichen, gar authentischen jüdischen Kultur oder Ästhetik gesprochen werden. Vielmehr werden fälschlicherweise oft aschkenasische Bräuche als allgemein gültig für das gesamte Judentum angesehen. Und Corbett zeigt, wie der Ort des Friedhofs auch ein Ort ist, an dem über jüdische Identität teilweise erbittert gestritten wird. Als im Zuge der Akkulturation in der Zwischenkriegszeit rein deutschsprachige Inschriften die vormals überwiegend hebräischen, die nur mehr bei den ganz Frommen üblich waren, abgelöst hatten, verfügte der damalige Leiter des Friedhofsamt Ernst Feldsberg in der Zwischenkriegszeit, dass mindestens ein hebräisches Wort auf dem Grabstein angebracht sein musste. Heute sind übrigens auch zunehmend russischsprachige Texte anzufinden, als Folge der veränderten demographischen Zusammensetzung der Gemeinde. Viele Konflikte entfachten sich aber nicht nur an den Inschriften, sondern auch an der Symbolik, deren Einordnung als jüdisch bzw. unjüdisch-profan (und somit nicht tragbar) sich auch änderte. Zugleich ist anzumerken, dass viele Vorschriften aber auch einfach nicht beachtet wurden, so ab 1927 das Verbot bildlicher Darstellung, die zuvor weit verbreitet war und entgegen einer häufig geäußerten Annahme nie prinzipiell im Judentum abgelehnt wurde. Der Grabstein des Malers Adolf Schwarz aus dieser Zeit ist beispielsweise mit Palette und Pinsel geschmückt.

Im frühen 20. Jahrhundert war das Wiener Judentum auch schon sehr heterogen, doch die Gräber zeigen trotz der wechselvollen Geschichte deutlich eine tiefe Verwurzelung in der Stadt Wien und dem Österreich der k.u.k-Zeit. So zogen viele Prominente in der Zwischenkriegszeit eine Bestattung weiterhin beim 1. Tor des Zentralfriedhofs vor, da dieser ältere jüdische Friedhof im Gegensatz zum 4. Tor als authentisch „wienerisch“ bzw. „(alt-)österreichisch“ verstanden wurde. Am Beispiel der deutschen Grabinschrift von Sigmund Kauders, Weinhändler und ehemaliger Vorsitzender des Israelitischen Tempelvereins in Simmering, der wenige Tage nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland beim 1. Tor bestattet wurde, zeigt sich eine typisch österreichische Identität als „Kais. Rat“, „Vizepräs. der Isr. Kultusgem. Wien“ und „Ritter des Franz-Josefsordens“. Auch wenn Juden fast das gesamte politische Meinungsspektrum in ihren politischen Überzeugungen abdeckten, so waren sie – so stellte schon der Historiker David Rechter fest – doch „auffallend abgeneigt, eine politische Identität gegen oder außerhalb der Monarchie zu definieren“,[1] und führten diesen „Österreich-Gedanken“, mit dem die jüdische Bevölkerung wohl am tiefsten verbunden war, demokratisiert auch in der Ersten Republik fort, was sich bisweilen auch in der Grabgestaltung niederschlug, im Falle von Kauders sogar wenige Tage nach dem Beginn der Verfolgung.

Wenig bekannt ist, dass während der Zeit der Unterdrückung und drohenden Vernichtung der jüdische Friedhof am Tor 4 Anfang der 1940er Jahre teilweise wirklich ein „Haus des Lebens“ wurde. Als die jüdischen Wiener*innen immer mehr ausgegrenzt und repressiven Maßnahmen ausgesetzt waren, wurde ein Teil des Areals zum Zufluchtsort, zu einem neuen Gemeinschaftsraum. Er diente als Versteck, aber auch der Erholung, als Jüd*innen aus dem öffentlichen Raum exkludiert wurden. Ein Teil der Fläche wurde sogar für den Anbau von Gemüse für die unterernährte jüdische Gemeinde genutzt.

Corbett zeigt, dass nach der Shoah, der bereits schon erwähnte Ernst Feldsberg, erst Vizepräsident, dann Präsident der Gemeinde in der Nachkriegszeit, die Orthodoxierung der jüdischen Sepulkralkultur in Wien vorantrieb. Ein besonderes Streitthema wurde hier – neben Fragen der religiösen Praxis – auch die Zugehörigkeit zum Judentum. Diese Spannungen hatten die jüdische Kultusgemeinde schon seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert beschäftigt, erfuhren nun aber eine Verschärfung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Shoah, deren Erfahrung eher partikularistische Vorstellungen beförderte und die Emanzipation als gescheitert erklärte. Die Verletzungen und Traumatisierungen führten bei vielen zu einer Rückbesinnung auf jüdische Werte und religiöse Traditionen. Diese Tendenzen hatten aber gleichzeitig zur Folge, viele Überlebende auch wieder auszuschließen, gerade wenn sie nichtjüdisch verheiratet waren oder bisher säkular gelebt hatten. So verhinderte Feldsberg beispielsweise die Bestattung einer NS-Verfolgten, deren Jüdischkeit er nicht anerkennen wollte. Friedhöfe sind also auch immer Orte, an denen Identität und Zugehörigkeit verhandelt werden. Dass diese Identitätszuschreibungen aber auch von außen kommen können, zeigte sich bereits im Jahr 1941, als die Kultusgemeinde von der NS-Verwaltung gezwungen wurde, ein Gräberfeld für sogenannte „konfessionslose“ bzw. „nichtarische“ Christen zur Verfügung zu stellen. Diese Personen waren „Jüdinnen“ und „Juden“ im Sinne der Nürnberger Gesetze, aber weder im Eigenverständnis noch nach Ansicht der Kultusgemeinde.

Die Nachkriegszeit war auch geprägt durch das unrühmliche Verhalten der Stadt Wien, die vor allem möglichst hohen Gewinn aus den „arisierten“ jüdischen Friedhöfen ziehen wollte. Die Restitutionsverhandlungen wurden in die Länge gezogen. Nach dem Historiker Robert Knight[2] lässt sich ja dieses „in die Länge ziehen“ als typisch österreichisches Verschleppen identifizieren, das nur deshalb möglich war, weil die internationale Gemeinschaft vor allem Deutschland in Bezug auf den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit prüfte. Für Österreich war dieses Muster sehr hilfreich, konnte man so von der eigenen Schuld ablenken und diese gewissermaßen auf Deutschland externalisieren.

In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die österreichische Politik keine Unterstützung in der Instandhaltung der Friedhöfe leistete. Dieses verwerfliche Verhalten führte letztlich dann auch zu konkreten Konflikten, wenn sich emigrierte Nachfahren entsetzt über den Zustand der Familiengräber – häufig die einzig verbliebene persönliche, emotional verständlicherweise sehr aufgeladene Erinnerung in der alten Heimat – zeigten und der Kultusgemeinde ungerechtfertigter Weise Schuld daran gaben. Es fehlte vielfach eine realistische Vorstellung über Größe und Möglichkeiten der Wiener Nachkriegsgemeinde.

Die Haltung gegenüber der jüdischen Geschichte und dem jüdischen Erbe hat sich in der österreichischen Öffentlichkeit dann vor allem im Rahmen und im Nachgang der Diskussionen zur Waldheim-Affäre 1986 gewandelt. Heute stehen alle jüdischen Friedhöfe Wiens unter Denkmalschutz, was aber nicht unbedingt bedeutet, dass damit die Erhaltung und konkreter Schutz garantiert wird. Im Falle des jüdischen Friedhofs in der Rossau kooperiert die Stadt Wien bei der Restaurierung mit der Kultusgemeinde. Im Oktober 2020 hat die österreichische Bundesregierung zugesagt, die Erhaltung und Instandsetzung des jüdischen Friedhofs Währing für die nächsten drei Jahre finanziell zu unterstützen.

Die Lektüre dieser exzellenten Publikation beansprucht einige Zeit, denn schließlich umfasst die Studie mehr als 1000 Seiten. Doch dieser Aufwand lohnt sich. Corbett bietet einen faszinierenden Einblick in die Geschichte der jüdischen Friedhöfe Wiens und der jüdischen Geschichte Wiens im Gesamten, die eher durch Unbeständigkeit und Veränderung und nicht so sehr durch Kontinuität geprägt war. Corbett setzt akribisch einzelne Puzzleteile aneinander, die er gekonnt in den jeweils historischen Kontext platziert und erklärt. Seine Analysen sind scharf, aber auch abwägend. Er beleuchtet Phänomene aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit ungeheurem Sachverstand und behandelt eine Fülle von Aspekten, von denen im Rahmen einer Rezension nur einige wenige oberflächlich angerissen werden können.

Für die/den Leser*in bietet sich ein enormer Erkenntnisgewinn. Auch wenn man glaubt, die jüdischen Friedhöfe Wiens schon gut zu kennen, macht das Buch richtiggehend Lust, die jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs, die beide frei zugänglich sind, bei einem Spaziergang neu zu entdecken, was sich gerade in Zeiten der Pandemie sehr gut anbietet.

Tim Corbett: „Die Grabstätten meiner Väter, Die jüdischen Friedhöfe in Wien“, Böhlau Verlag Wien 2021.

Bild oben: Jüdischer Friedhof Währing, (c) Gryffindor, CC BY 2.5

[1] S. 271.
[2] Robert Knight (Hg.): Ich bin dafür die Sache in die Länge zu ziehen. Wortprotokoll der österreichischen Bundesregierung 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Wien 2000.