Mehrheiten verzweifelt gesucht

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Zum vierten Mal in nur zwei Jahren gingen die Israelis zu den Wahlurnen. Dabei gab es einige kleinere Überraschungen. Doch auch jetzt ist eine stabile Regierung immer noch nicht in Sicht…

Von Ralf Balke

Pattsituationen in Serie. Selbst nach dem vierten Wahlgang innerhalb von nur zwei Jahren gibt es in Israel immer noch keine klaren Mehrheiten. Weder der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, noch einer seiner Herausforderer ist nach Auszählungen der Stimmen in der Lage, mindestens 61 der 120 Mandate in der Knesset auf sich zu vereinen. Zwar ist der Likud als stärkste Kraft aus diesem Rennen hervorgegangen. Doch musste auch Bibis Hausmacht ordentlich Federn lassen und rutschte von 37 auf nunmehr 30 Sitze. Auf Platz Zwei folgt jetzt die zentristische Yesh Atid-Partei mit dem ehemaligen TV-Moderator Yair Lapid an der Spitze. Sie erzielte 17 Mandate. Auf dem dritten Rang mit neun Abgeordneten liegt die sephardisch-orthodoxe Schass-Partei, auf dem vierten mit acht Sitzen die ebenfalls zentristische Blau-Weiß-Gruppierung des jetzigen Verteidigungsministers Benny Gantz, dem man bei Wahlgang Nummer Drei vor rund zehn Monaten noch die größten Chancen zugesprochen hatte, Netanyahu zu beerben. Heute überrascht es Wahlbeobachter, dass er überhaupt so viele Stimmen erhielt. Es folgen mit sieben Sitzen die politischen Vertreter der aschkenasischen Ultraorthodoxie, ebenfalls mit sieben die Arbeitspartei sowie Avigdor Liebermans Israel Beitenu und Yamina von Naftali Bennet. Der Rest verteilt sich auf die Linkszionisten von Meretz, den Religiösen Zionisten sowie die Vereinte Arabische Liste und die Islamisten von Ra’am.

Dreizehn Parteien dürften in der 24. Knesset wohl vertreten sein – so viele wie seit 2003 nicht mehr. Sieben davon lassen sich dem „Anti-Bibi-Block“ zurechnen, der 57 Mandate zählt. Vier gelten als „Pro-Bibi-Block“ und kommen zusammen auf 52 Abgeordnete. Die nationalistische Yamina-Partei von Naftali sowie Ra’am, eine islamistische Gruppierung unter Führung von Mansour Abbas, die sich im Januar von der Vereinten Arabischen Liste abgespalten hat, gehören keinem der beiden Lager an. Beide werden gerade heftigst umworben. Allein schon die gängige Aufteilung in einen Anti- und Pro-Bibi-Block verweist auf die eigentliche Problematik aller vier Urnengänge: Außer der Frage, ob Netanyahu nun im Amt bleiben soll oder nicht, scheint es auf der politischen Agenda überhaupt kein Thema zu geben, das in den Wahlkämpfen eine größere Rolle spielen konnte. Dabei mangelt gewiss nicht an Baustellen: Angefangen von der wachsenden sozialen Kluft sowie der Wohnungsnot, dem Coronavirus-Krise bedingten Abschwung der Wirtschaft mit all seinen Folgen und letztendlich auch die Frage, wie es um die Zukunft des Westjordanlands aussieht.

All das nervt mittlerweile viele Israelis. So sank die Wahlbeteiligung im Vergleich zur Vorwahl von 71,5 Prozent auf 67,4 Prozent. Auch reicht es nicht, ideologisch einfach nur als Bibi-Klon aufzutreten, um Erfolg zu haben. Diese Erfahrung durfte jetzt Netanyahu-Herausforderer Gideon Saar machen, der nach einem missglückten Putsch innerhalb des Likuds mit Tikva Hadasha seine eigene Partei gründete, in den Umfragen mit einem Potenzial von bis zu 21 Knesset-Sitzen zuerst hoch gehandelt wurde, letztendlich aber nur sechs Mandate erhielt. Und mit ihren monothematischen „Bloß nicht Bibi!“-Parolen gewannen alle anderen zentristischen Gruppierungen ebenfalls keinen Blumentopf. Genau das würde vielleicht auch erklären, warum die Arbeitspartei unter Führung von Merav Michaeli mit jetzt sieben Sitzen und die Linkszionisten von Meretz mit sechs ihr Ergebnis im Vergleich zu 2020 zusammen fast verdoppeln konnten. Sie hatten sich wenigstens bemüht, soziale Fragen anzusprechen und konnten davon profitieren, dass ansonsten der Wahlkampf völlig inhaltsfrei daherkam.

Trotzdem gab es einige Überraschungen. Die Vereinte Arabische Liste, im März 2020 mit 15 Sitzen noch als drittstärkste Fraktion in die Knesset gezogen, kommt aktuell nur auf sechs Mandate. Das liegt nicht nur am Ausscheren von Ra’am aus diesem bizarren Bündnis aus Islamisten, Feministinnen und Kommunisten, sondern ebenfalls an der Zustimmung, die Netanyahu neuerdings von Seiten der israelischen Araber erfährt. Gezielt hatte er sich in den vergangenen Monaten um ihre Stimmen geworben und ließ sich überall vor Ort blicken. Im Beduinendorf Jisr az-Zarqa gab man Netanyahu gemäß der arabischen Tradition, eine Person als Vater seines ältesten Sohns zu bezeichnen, sogar den Ehrentitel Abu Yair. Mancherorten wie in Abu Gosh nahe Jerusalem räumte der Likud sogar bis zu einen Viertel der Stimmen ab. Die Gründe für das gute Abstimmen der Regierungspartei dürften gleichfalls in dem Frust über die mangelnden Erfolge der Vereinten Arabischen Liste zu suchen sein sowie in der Hoffnung, dass endlich etwas gegen die grassierende Gewalt in den arabischen Gemeinden unternommen wird.

Doch all das ändert nichts an der Tatsache, dass Netanyahu aktuell auf keine klare Mehrheit kommt. Zum einen rächt es sich nun, dass auf seine Initiative hin unter dem Dach der Religiösen Zionisten drei Parteien zusammenkamen, von denen mindestens zwei hochproblematisch sind: Noam sowie Otzma Yehudit. Vor allem letztere mit Itamar Ben Gvir an der Spitze hat es in sich. Diese Gruppierung steht in der Tradition des Extremisten Rabbi Meir Kahane, dessen Partei Kach 1994 in Israel auf Basis der Anti-Terrorgesetze verboten wurde. Ihre Programmatik ist erklärtermaßen rassistisch – so will sie Eheschließungen sowie sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verbieten – und offen LGBT-feindlich. Ben Gvir und seine Mitstreiter standen jahrelang unter Beobachtung der Polizei und des Inlandgeheimdienstes Shin Bet. Nun ist er Knesset-Abgeordneter. Aber auch Bezalel Smotrich, der Vorsitzende der Religiösen Zionisten, fiel bereits mit ähnlichen Unfreundlichkeiten gegen Araber und Homesexuelle auf.

Netanyahu wollte genau diese gemeinsame Liste aller Splittergruppierungen aus dem Spektrum der religiösen-zionistischen Parteien, damit keine einzige Stimme im rechten Lager verloren geht. Denn im Alleingang wären Noam und Otzma Yehudit gewiss an der 3,25-Prozent-Hürde gescheitert. Doch mit solchen Partnern an seiner Seite hat er die Hemmschwellen, sich seinem Block anzuschließen, deutlich erhöht. Denn zu den Besonderheiten der israelischen Politik gehört es, den Abgeordneten anderer Parteien verlockende Angebote zu machen, um sie zum Seitenwechsel zu motivieren. Yifat Shasha-Biton, Nummer Zwei in Sa’ars Tikva Hadasha-Partei, machte dieser Tage öffentlich, dass man ihr bereits den Posten an der Spitze des Bildungsministeriums angeboten habe, wenn sie sich denn Netanyahu anschließen würde. Ähnliches wusste Yoaz Hendel, ein anderer Abgeordneter von Tikva Hadasha, zu berichten. Selbstverständlich versucht der „Anti-Bibi-Block“ ebenfalls auf ähnliche Weise, potenzielle Abtrünnige für sich zu gewinnen, um irgendwie auf die 61 Mandate zu kommen. Die Frage ist nur, wen man im Likud zu einem Wechsel animieren könnte. Kandidaten aus den beiden ultraorthodoxen Parteien sind eher unwahrscheinlich und im Lager der Religiösen Zionisten dürfte sich garantiert niemand finden.

Aber auch innerhalb der eigenen Partei droht Netanyahu womöglich Ungemach. Der offen schwul lebende Amir Ohana, Minister für Öffentliche Sicherheit und einer der engsten Netanyahu-Vertrauten im Likud, wird wohl Bauchschmerzen haben, mit den Homophoben von Noam und Otzma Yehudit an einem Tisch sitzen zu müssen. Und dass der von Netanyahu in den vergangenen Monaten so umworbene Mansour Abbas von den Ra’am-Islamisten, die ebenfalls eine LGBT-feindliche Agenda haben, der Königsmacher einer Koalition wird, in der Kahanisten wie Itamar Ben Gvir einen Platz haben, dürfte ebenfalls ausgeschlossen sein. Und sogar ohne die Religiösen Zionisten wäre ein Ministerpräsident Netanyahu von Abbas‘ Gnaden eine völlig absurde Vorstellung. Also gilt es andere Bundesgenossen zu finden, und da käme nur Naftali Bennet in Frage, dem aber eigene Ambitionen auf den Posten  nachgesagt werden. Zudem dürfte der Yamina-Vorsitzende schwer auf der Hut sein. Die Art und Weise, wie Netanyahu im vergangenen Jahr seinen Herausforderer Benny Gantz in einem Deal, in dem man sich auf ein Rotationsverfahren an der Spitze der Regierung geeinigt hatte, über den Tisch gezogen hatte, ist Abschreckung genug.

Aber der „Anti-Bibi“-Block ist ebenfalls dermaßen heterogen, dass man schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner käme. Sowieso wäre die Vereinte Arabische Liste als Mehrheitsbeschaffer ein schwieriger und zugleich von vielen unerwünschter Partner. Doch auch ohne sie ist es kaum vorstellbar, wie die Linkszionisten von Meretz mit den Hardcore-Nationalisten vom Schlage eines Avigdor Lieberman von Israel Beitenu-Partei auf Dauer konfliktfrei zusammenarbeiten könnten. Politische Vertreter der Ultraorthodoxie auf die Seite der Netanyahu-Gegner zu ziehen, scheint genauso unmöglich. In einem solchen Szenario wären sowohl Meretz als auch Israel Beitenu aufgrund ihrer gemeinsamen säkularen Ausrichtung dann die Stolpersteine. Ebenso schwierig könnte es sein, Ra’am den anderen als Partner schmackhaft zu machen – aktuell kursieren gerade Meldungen über Gespräche zwischen Lapid und Abbas, bei denen der Yesh Atid-Vorsitzende dem Islamisten zahlreiche Versprechungen gemacht haben soll, beispielsweise Erleichterungen bei Baugenehmigungen für arabische Kommunen oder die Legalisierung von Beduinenortschaften. Doch auch ein Mitspracherecht für Ra’am in Sachen LGBT-Themen wäre eine Kröte, die Meretz nicht zu schlucken bereit ist. Sollte sich also kein anderer der Akteure aus der Deckung trauen und einen für alle Beteiligten überraschenden Seitenwechsel ankündigen, bleibt nur eines: ein erneuter Urnengang. Denn seit zwei Jahren heisst es in Israel: Nach den Wahlen ist vor den Wahlen.

Bild oben: Israel nächster Premier? Yair Lapids Liste ist die zweitstärkste Partei, Foto: Adi Cohen ZedekCC BY-SA 3.0