1.000 Seiten Wahrheiten über die Shoa

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Jiddischsprachige Dokumentation in deutscher Übersetzung erschienen…

„Jude erfülle deine Pflicht gegenüber den kommenden Generationen, berichte der historischen Kommission von deinem Überleben“, war auf einem in den Displaced Persons (DP) Camps kursierenden Aufruf zu lesen. Schon kurz nach der Befreiung hatten sich die Überlebenden in zahlreichen Lagern und Gemeinden organisiert: in all diesen jüdischen Gemeinschaften innerhalb der US-Besatzungszone in Deutschland bildeten sich Selbstverwaltungsgremien, die im Zentralkomitee der befreiten Juden mit Sitz in München zusammengeschlossen waren. Das Gremium verfügte über Fachressorts für Bildung und Kultur, Sport, Religion, Arbeit und Soziales sowie eine Historische Kommission, welche die Zeugnisse und Dokumente der letzten Zerstörung (jidd. letstn Churbn) dokumentieren sollte.

Etwa fünfzig regionale Arbeitsgruppen trugen Zeitzeugenberichte, Fotos, Lieder und Gedichte zusammen, die das Leben und Überleben in den Konzentrationslagern, Ghettos und bei den Partisanen dokumentierten. Die Texte wurden ab 1946 in der jiddischsprachigen Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ veröffentlicht. Insgesamt erschienen bis 1948 zehn Ausgaben mit jeweils 66 bis 186 Seiten in einer Auflage von 5.000 bis 8.000 Exemplaren. In der ersten Nummer hatte sich der Leiter der Historischen Kommission, Mosche Fajgenbojm, eindringlich an die Menschen in den DP Camps gewandt: „Wir, die Überlebenden und Zeitzeugen, sind es, die das Material schaffen müssen, aus dem sich der Historiker ein klares Bild über das, was mit uns geschehen ist, machen kann.“

Leon (Arje) und Bernhard Milch im DP-Kinderlager Aschau. Repro: nurinst-archiv (Bestand L. & B. Milch)

Diesen Appell hatten auch der damals 16-jährige Leon (Arje) Milch und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Bernhard gelesen. Sie wurden in Podhajce in der Nähe von Tarnopol geboren. Im Juli 1941 hatte die deutsche Wehrmacht die Stadt besetzt, die jüdische Bevölkerung zur Zwangsarbeit verpflichtet. Ein Jahr später begannen die ersten Massendeportationen ins Vernichtungslager Belzec – in Podhajce wurde ein Ghetto errichtet. Zu dieser Zeit lebten die Eltern der Brüder bereits nicht mehr. Nach der endgültigen Liquidation des Ghettos im Juni 1943 gelang den beiden Jungen die Flucht: Mit viel Glück überlebten sie, versteckt in einem Kellerloch, bis sie im März 1944 nach 52 Wochen in Enge und Dunkelheit von sowjetischen Truppen befreit wurden. Zionistische Organisationen nahmen sich der Geretteten an und brachten sie auf verschlungenen Wegen in das oberbayerische DP-Kinderlager in Aschau am Inn. Leon und Bernhard Milch wanderten 1950 nach Australien aus und fanden eine neue Heimat in Sydney.

Mehr als 3.500 solcher Zeitzeugenberichte und über 1.000 Fotografien sammelte die Historische Kommission, vieles, doch nicht alles konnte veröffentlicht werden. Das Fortbestehen von „Fun letstn Churbn“ stand wegen Papiermangels beziehungsweise der prekären Finanzsituation oft auf Messers Schneide. Trotz positiver Leserresonanz, wie etwa der in der Nummer 3 abgedruckte Brief von Gershom Scholem eindrücklich belegt: „Sie verrichten eine kolossale Arbeit, und die Überlebenden-Berichte werden für die zukünftigen Generationen erhalten bleiben. Ich hoffe, Sie werden Ihre Arbeit vor allem in Erez Israel fortsetzen können.“ Doch dazu kam es nicht. Denn gegen Ende der 1940er Jahre lösten sich die DP Camps auf, sodass auch die Historische Kommission im Januar 1949 ihre Arbeit einstellte. Das gesamte Material wurde jedoch nach Israel geschickt und wird seitdem in der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem verwahrt. Da Mosche Fajgenbojm und Herausgeber Israel Kaplan die Zeitschrift in Jiddisch publiziert hatten, der Muttersprache vieler osteuropäischer Opfer und Überlebender, wurde das außergewöhnliche Dokument der Shoa in Europa, Nordamerika und in Israel kaum beachtet. Auch in Yad Vashem blieben die einzigartigen Quellen viele Jahre nahezu unberührt. Und dies, obwohl viele Shoa-Überlebende in der Dokumentation der Katastrophe ihren moralischen Auftrag erfüllten, um der Toten und der kommenden Generation willen, und ­die Wahrheit über den deutschen Völkermord aus der Perspektive der Opfer niederschrieben. Nur wenige Historiker, die über jiddische Sprachkenntnisse verfügten, werteten vereinzelt Berichte für ihre wissenschaftlichen Arbeiten aus.

Titelblatt der 3. Ausgabe „Fun letstn Churbn“, in der auch Leon (Arje) Milchs Überlebensbericht erschien. Repro: aus dem besprochenen Band

Die Übersetzung der jiddischen Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ in die Sprache der Mörder war mehr als überfällig. Mancher Text dokumentiert Bereiche, die entweder von der Forschung übersehen wurden oder kaum Beachtung fanden, wie etwa Berichte über den jüdischen Widerstand oder das Schicksal der zahlreichen Waisenkinder. Überzeugend dokumentiert die Edition den frühen Kampf der Opfer gegen das öffentliche Schweigen der Täter und Mitläufer anzuschreiben – über 1.000 Seiten Wahrheiten über die Shoa. Das Buch darf in keiner öffentlichen Bibliothek fehlen. – (jgt)

Frank Beer/Markus Roth (Hg.), Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn Churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948, Berlin 2020, ISBN: 978-3-86331-557-3, 1032 Seiten, 49 €. Aus dem Jiddischen von Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg. Bestellen?

Bild oben: Mosche Fajgenbojm (rechts) und Israel Kaplan (Mitte) n der Zentrale der Historischen Kommission in München. Foto: aus dem besprochenen Band (Beit Lochamei Hagetaot)

 

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