Kein Jahr wie alle anderen – ein Rückblick auf 2020

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Für Israel waren die vergangenen zwölf Monate eine besondere Herausforderung. Die Coronavirus-Pandemie stürzte das Land in die tiefste soziale und ökonomische Krise seit seiner Gründung. Zugleich beschäftigten sich die politischen Eliten weitestgehend mit sich selbst. Da mochten die außenpolitischen Erfolge nur ein schwacher Trost sein…

Von Ralf Balke

Und täglich grüßt das Murmeltier. Wie Bill Murray in der gleichnamigen amerikanischen Filmkomödie scheint Israel in einer Art Zeitschleife festzuhängen und erlebt alles gleich mehrfach hintereinander, also quasi in Serie. So wurden die Bürger des Landes am 2. März zum dritten Male in nur elf Monaten zu den Wahlurnen gebeten, damit endlich eine neue und funktionsfähige Regierung zustande kommen konnte. Doch auch die scheint mittlerweile Geschichte zu sein. Eine weitere Wahl steht wohl im Frühjahr 2021 ins Haus, als Termin wird momentan der 23. März gehandelt. Der Grund: Die Abgeordneten in der Knesset konnten sich nicht fristgerecht auf die Verabschiedung eines Haushalts einigen – übrigens den des beinahe bereits abgelaufenen Jahres 2020. Nur sechs Monate, nachdem inmitten der Coronavirus-Krise nach überaus zähen Verhandlungen eine Monster-Koalition aus – zählt man die Telem-Abspaltung Derech Eretz und ihre zwei Abgeordneten hinzu – acht Parteien zusammengezimmert wurde und man mühsam 32 Ministerposten verteilt hatte, ist also schon wieder Schluß.

Zwar war das Bündnis zwischen dem Likud und seinem Herausforderer Blau-Weiß von Anfang an alles andere als eine Liebesheirat gewesen. Doch die Art und Weise, wie Benjamin Netanyahu mit seinem Koalitionspartner und Verteidigungsminister Benny Gantz umsprang, ließ rasch erahnen, dass der Deal zwischen den beiden, also die Weitergabe des Postens des Ministerpräsidenten an die Nummer Zwei im Rahmen eines Rotationsverfahrens im November 2021, niemals stattfinden würde. Zugleich scheint damit ebenfalls das politische Schicksal von Gantz besiegelt. Der Bibi-Herausforderer, der mit dem erst im Februar 2019 gegründeten Listenbündnis Blau-Weiß und viel Vorschusslorbeeren gegen den ewigen Ministerpräsidenten ins Rennen ging, ist heute politisch bereits so gut wie erledigt. Er gilt als wortbrüchig und rückgratlos. In den jüngsten Meinungsumfragen würde seine Partei auf vielleicht vier bis fünf Sitze in der Knesset kommen, wenn überhaupt.

Denn da dieser Tage mit Asaf Zamir und Miki Haimovich auch noch zwei Abgeordnete von Gantz aus der Partei rausgeworfen wurden, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Blau-Weiß beerdigt wird. Damit teilt sie das Schicksal früherer politischer Gruppierungen wie beispielsweise Kadima, die erst haushoch gehandelt wurden und nach kurzer Zeit dann wieder von der Bildfläche verschwanden – auch das also eine Wiederholung bereits bekannter politischer Phänomene. Aber auch im Likud brodelte es in diesem Jahr gewaltig. Einige prominente Likud-Politiker, zuerst Gideon Saar und nun auch Zeev Elkin, Minister für Höhere Bildung sowie für Wasserressourcen, haben ihrer Partei aus Unmut über Netanyahu den Rücken gekehrt und positionieren sich mit ihrer Parteineugründung „Neue Hoffnung“ gegen den Ministerpräsidenten. Wie bereits andere Newcomer in der Vergangenheit erhalten sie aus dem Stand heraus in den Meinungsumfragen hohe Zustimmungswerte. Dass sie dann von heute auf morgen wieder bedeutungslos werden können, das bewies das Jahr 2020 am Beispiel Blau-Weiß erneut.

Auf jeden Fall zahlen die Israelis für diese politische Dauerkrise einen hohen Preis, und damit sind keinesfalls allein die Kosten gemeint, die solche Wahlkämpfe in Serie verursachen. Denn wenn es keine dauerhaft funktionierende Regierung gibt und ein Staatshalt nicht beschlossen werden kann, dann wird auch jegliche Planung, beispielsweise in den Bereichen Gesundheit und Bildung, unmöglich, weil keine Budgets existieren, Gelder nicht bewilligt werden können oder Vereinbarungen obsolet geworden sind. Die ohnehin finanziell dürftig ausgestatteten Krankenhäuser konnten bereits in den ersten Monaten der Pandemie ein Lied davon singen. Aber auch politische Reformvorhaben sind davon genauso betroffen wie wichtige Infrastrukturprojekte. Das beginnt bei so harmlosen Sachen wie der Gesetzesvorlage von Finanzminister Israel Katz, wonach die Gehälter des Ministerpräsidenten, der Minister sowie der Abgeordneten in der Knesset und der Richter gekürzt werden sollten. Aber auch der Versuch, die Ausnahmeregelungen für ultraorthodoxe Yeshiva-Studenten vom Wehrdienst zu reformieren, würde auf der Strecke bleiben. Denn laut einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes bliebe alles wie vorher, wenn das alte Gesetz nicht bis zum 1. Februar 2021 durch ein neues ersetzt würde – ohne beschlussfähige Knesset dürfte das schwierig werden.

Die Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen oder die endgültige Legalisierung von Cannabis, zwei Reformen, die ebenfalls auf Eis gelegt werden, klingen zwar weitaus weniger dramatisch. Doch die nun nicht erfolgende Freigabe von zusätzlichen finanziellen Mitteln, über deren Verwendung Schulleiter entscheiden sollen, ist angesichts des Chaos, das die Coronavirus-Krise an den Schulen des Landes angerichtet hatte und die Defizite im Bildungswesen noch eklatanter zutage förderte als ohnehin schon, schon eine ganz andere Hausnummer. Ebenso das geplante Programm zur Schaffung von günstigerem Wohnraum, das gleichfalls auf Eis gelegt wurde. Kurzum, wenn es für 2020 selbst im Dezember noch keinen bewilligten Haushalt gibt und das Budget für das kommende Jahr vielleicht erst im Sommer 2021 verabschiedet wird, stehen viele Räder still. Der Staat kann die Rechnungen all derer nicht zeitnah begleichen, die als Baufirma, Zulieferer oder Dienstleister für ihn tätig waren. In Zeiten einer Rezession, wie sie die Coronavirus-Krise ohnehin 2020 verursachte, bedeutet das für manchen Unternehmer wohl das endgültige Aus.

Und der im Dezember verordnete Lockdown, der dritte in diesem Jahr, wird die Wirtschaft weiter in Mitleidenschaft ziehen. Vor wenigen Wochen noch hieß es, dass der erste und der zweite Lockdown mit all seinen Folgen für den Tourismus, den Einzelhandel oder der Gastronomie sowie der dadurch verursachten Arbeitslosigkeit, die in diesem Schreckensjahr zeitweilig bei weit über 20 Prozent lag, für ein Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes in der Größenordnung von 4,2 Prozent verantwortlich sein dürften. Zudem wird die Konjunktur nicht so schnell wieder anziehen wie ursprünglich gedacht. Für 2021 rechnen die Analysten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) allenfalls mit einen mageren Wachstum von 2,3 Prozent. Aber diese Zahlen wurden genannt, bevor das öffentliche Leben ein drittes Mal zum Stillstand kam und von Neuwahlen noch nicht die Rede war, weshalb sie wohl längst wieder Makulatur sein dürften und die Rezession härter und länger ausfallen wird als ohnehin schon. Von einer wirklichen Erholung der Wirtschaft gehen viele Experten daher erst im Jahr 2022 aus. Auch die Ratingagentur S& P spricht mittlerweile von einem „erhöhtem mittelfristigen fiskalen Risiko“. Die Verschuldung des Staates hätte mittlerweile eine Dimension von 73 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angenommen, einem Verhältnis, das Israel zuletzt vor einem Jahrzehnt ausgewiesen hätte – angesichts der positiven Aussichten, mit denen das Land in das Jahr 2020 gestartet war, keine guten Nachrichten. Vor zwölf Monaten sprach man noch von einem Wachstum von 2,9 Prozent und Israels Arbeitslosenrate war rekordverdächtig niedrig.

Der dritte Lockdown zeigt ebenfalls, dass das Coronavirus das Land weiterhin im Griff hat. Mittlerweile ist es die dritte Welle der Pandemie. Während man die erste im Frühjahr noch halbwegs gut managen konnte, weil sich Israel relativ einfach von der Außenwelt abschotten lässt und kein Transitland ist, explodierte im Spätsommer die Zahl der Infizierten förmlich, weil die Lockerungen zu schnell und zu planlos erfolgt waren. Doch etwas anderes zeigte sich dadurch in diesem Jahr, und zwar die große Kluft zwischen ultraorthodoxen Bevölkerung und allen anderen Israelis. Die Haredim demonstrierten ihre Ignoranz und Ablehnung weltlicher Gesetze – mit tödlichen Folgen. So weigerten sie sich, den Hygienevorschriften Folge zu leisten. Synagogen blieben lange geöffnet, Yeshivot stellten ihren Lernbetrieb nicht ein und auf Hochzeiten sowie Beerdigungen in Meah Shearim oder Bnei Brak zählte man Tausende von Teilnehmern. Was die Sache nicht besser machte: Das Verhalten der Ultraorthodoxen wurde nur halbherzig sanktioniert. Das Virus geriet in ihren Kommunen außer Kontrolle und den Preis dafür mussten alle Israelis zahlen. Mittlerweile hat das Land rund 409.000 Infizierte und fast 3.300 Tote. Trotz allem Chaos in Sachen Coronavirus-Krisenmanagement gibt es aber auch eine gute Nachricht. Fast eine halbe Million Israelis werden bereits bis Ende des Jahres 2020 eine Impfung erhalten haben – damit befindet man im internationalen Vergleich bezogen auf den prozentualen Anteil der geimpften Bevölkerung in der Pole Position.

Doch auch im Positiven gab es etwas in Serie in diesem Jahr, und zwar die Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen mit gleich vier sunnitischen Staaten. Den Anfang machten die Vereinigten Arabische Emirate und Bahrain, es folgten der Sudan und nun auch Marokko. Über weitere Kandidaten wie Saudi Arabien, Indonesien oder dem Oman wird munter spekuliert. Vor allem mit den Golfstaaten entwickelte sich im Rekordtempo ein reger Austausch, weshalb bereits viel die Rede von einem Neuen Nahen Osten ist. Dieses Schlagwort stammt eigentlich von Shimon Peres aus der Zeit des Friedensprozesses von Oslo und bezog sich auf die Chancen für die Region, die der Ausgleich mit den Palästinensern hätten mit sich bringen können. Doch im Jahr 2020 hat es eine völlig neue Bedeutung erhalten. Von einer Zwei-Staaten-Lösung spricht derzeit kaum noch jemand und die Palästinenser haben sich mit ihrer Verweigerungshaltung in die politische Bedeutungslosigkeit katapultiert – für sie war das Jahr 2020 in jeder Hinsicht ein schlechtes.