„Diese Welt gibt es nicht mehr. Diese Welt wurde mit den Wurzeln herausgerissen“

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Jüdische Spuren in Nidzica (Neidenburg)…

Von Justyna Michniuk

Nidzica (früher auch deutsch Neidenburg) ist eine kleine und eher ruhige Stadt im heutigen Polen. Sie liegt in der historischen Region Ostpreußen, etwa 50 Kilometer südlich von Allenstein (Olsztyn) und 140 Kilometer südlich von Königsberg (russ. Kaliningrad) und hat heute ca. 14.000 Einwohner. Da Nidzica nahe der Grenze zum polnisch beherrschten Masowien lag, war es mehrfach Ziel polnisch-litauischer Angriffe und war mal in deutscher, mal in polnischer Hand. Seit 1945 gehört die Stadt zu Polen. Es ist schwer, hier heutzutage ein gutes Restaurant oder eine nette Cafeteria zu finden.

Leider gibt es keine zuverlässigen Quellen, die uns mitteilen könnten, wann genau die ersten Juden nach Nidzica kamen, um sich hier anzusiedeln. Was bekannt ist: Seit dem 16. Jahrhundert konnte man hier jüdische Kaufleute treffen, die ihre Waren auf Jahrmärkten anboten. Als 1806 Ostpreußen von den Truppen Napoleons besetzt wurde, wurden auch die Juden als Bewohner der Stadt erwähnt. Im Jahre 1812 sollen 10 jüdische Familien hier gelebt haben. Ende des 19. Jahrhunderts wohnten in Nidzica 240 jüdische Bürger, was 6% der Einwohnerschaft ausmachte. Die Stadtchronik berichtet, dass im Jahre 1890 die Stadt 4.221 Einwohner zählte, davon 3.506 evangelischen Glaubens, 561 Katholiken und 154 Juden.

Als das Deutsche Kaiserreich den Ersten Weltkrieg verloren hatte, wurden die Einwohner zusammen mit dem ganzen Kreis Neidenburg aufgerufen, sich mittels einer Volksabstimmung im Abstimmungsgebiet Allenstein (Olsztyn) zwischen der Zugehörigkeit zu Ostpreußen oder Polen zu entscheiden. Am 11. Juli 1920 stimmten 3.156 Einwohner für den Verbleib in Ostpreußen, 17 für den Anschluss an Polen. Aufgrund der miserablen Lebensmittelversorgung nahm die antisemitische Stimmung bei der Suche nach Schuldigen im Deutschen Reich sprunghaft zu und der Judenhass flammte in Gesellschaft und Politik auf. Schon im Jahre 1923 kam es zu Plünderungen von jüdischen Läden in Nidzica. Die Situation der Juden verschlechterte sich weiter nach 1933. Nachdem die Nationalsozialisten die Wahlen gewannen, wurden in Nidzica Flugblätter verteilt, auf denen die Masuren zum totalen Boykott jüdischer Läden aufgefordert wurden. In der „Reichspogromnacht“ am 9. November 1938 wurde die Synagoge zerstört, zwei jüdische Einwohner wurden ermordet. Anstelle der Synagoge errichtete die Stadt das „Grenzlandmuseum“. Nach diesen Ereignissen verließen die meisten Juden die Stadt und wanderten aus. Im Mai 1939 wohnten nur noch 23 Juden in der Stadt.

Hinter der Kirche St. Bolesława Lament, Żwirowa Str., in der benachbarten Straße, Nowomiejska Str. (Neustädter Str.), liegt der neue jüdische Friedhof (Bild oben). Der Friedhof wurde nach 1850 gegründet und bis Mitte der 1930er Jahre benutzt. Das katholische Gotteshaus ist groß und gepflegt. Hinter der Kirche sieht man einen kleinen Hügel. Im Winter wird er als Schneepiste von Kindern benutzt, im Sommer spielen sie auf dem daneben liegenden Spielplatz. Hier, auf dem Hügel, befand sich früher der neue jüdische Friedhof. Was die Nazis nicht geschafft haben, devastierten ‚die Anderen‘: direkt nach dem 2. Weltkrieg und vor kurzer Zeit. Auf dem Hügel, wo sich der Friedhof befindet, sieht man einen Kreis aus zerbrochenen Grabsteinen. Jemand hat es sich hier wohl gemütlich eingerichtet und aus zerbrochenen Mazewot Sitzgelegenheiten, Tisch und einen sicheren Feuerplatz geschaffen. Daneben liegen leere Bierflaschen. Auf dem kleinen Friedhof wurden wohl mittlerweile alle Grabsteine zertrümmert. Der frühere Ruheplatz für Verstorbene ist heute nichts mehr, nur noch eine Wiese mit verstreuten Steinen, auf welchen Inskriptionen auf Deutsch und Hebräisch stehen.

Ein paar Straßen weiter, auf der Spokojna Str.( Ruhige Str.) liegt der alte jüdische Friedhof. Der wurde Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet und ist heutzutage schwer zu finden. Das Gelände ist hinter neuen Einfamilienhäusern gelegen und völlig zugewachsen. Die Fläche des Friedhofs beträgt nur 0,16 Hektar. Der Friedhof liegt auch auf einem Hügel und beginnt genau da, wo der übertrieben gepflegte Garten eines der Wohnhäuser endet. Zerbrochene Grabsteine verstecken sich im hohen Gras. Hier sind 10 unzerbrochene Grabsteine zu finden. Leider sind die Inskriptionen auf 9 Steinen zerstört. Mit Absicht, das ist leicht zu erkennen. Irgendjemand hat die Buchstaben mit einem Stein oder Metallstück bis zur Unlesbarkeit zerkratzt.

Aber auf diesem Friedhof gibt es einen wahren Schatz: Eine einzige Mazewa, die sowohl schlechte als auch gute Zeiten heil überstanden hat. Die Mazewa hat auf einer Seite eine deutsche und auf der anderen Seite eine hebräische Inschrift. Sie endet mit einem Dreieck und wurde mit einem einfachen floralen Ornament geschmückt. Die Inschrift in deutscher Sprache lautet: Hier ruhet sanft unser geliebter Gatte und Vater Julius Stein geb. d. 30. März 1806 gest. d. 20. Janr. 1868. Sanft ruhe seine Asche. Über Julius Stein gibt es leider keine genaue Informationen.

Nidzica ist heute ein trauriger Ort. Ein Ort, wo alle in die Zukunft blicken und die Vergangenheit vergessen wollen. Man hat wahrscheinlich Angst, die Verwandten von ehemaligen jüdischen Bewohnern könnten zurückkommen und die seit 1938 nicht renovierten Häusern zurückfordern.  Hier erscheinen einem die Worte von M. Canin auch heute aktuell: „Ich dachte, dass ich nie wieder entsetzt sein werde, nachdem ich ein zerstörtes jüdisches Städtchen gesehen habe. Denn wie oft kann einem Menschen das Blut in den Adern erstarren? Aber als ich das nächste leere und devastierte Städtchen besuchte, hatte ich genau das gleiche Gefühl, dass die Welt untergeht und dass ich keine Kraft mehr habe, mir diese erschütternde, diese endlose Leere, entstanden nach dem Untergang der alten jüdischen Welt, anzugucken”.

Das Zitat stammt aus dem Buch von Mordechaj Canin, Przez ruiny i zgliszcza. Podróż po stu zgładzonych gminach żydowskich w Polsce (deutsch: Durch Ruinen und Brandstätten. Eine Reise durch hundert zerstörte jüdische Gemeinden in Polen), Warschau 2018.