Der Blick auf die Vergangenheit und seine Folgen für die Gegenwart – am Beispiel Niederbayern…
Von Raphael Maier
Die AfD-Fraktionsvorsitzende im bayerischen Landtag aus dem Stimmkreis Deggendorf fordert ein Ende des „Schuldkultes“[1] und verharmlost die Shoah[2]. Denkmäler rufen uns „in dankbarer Erinnerung“ die toten Soldaten der beiden Weltkriege ins Gedächtnis. Als wir beim Kaffee zusammensitzen behauptet die Kollegin, dass die Bombardierung Dresdens das größte Verbrechen im Zweiten Weltkrieg war. Und der Opa erzählt, niemand hätte von den Vorgängen in den KZ gewusst.
All das habe ich so erlebt, in Deggendorf, in Bayern, im Jahr 2020. Ich hätte aber auch von jeder anderen deutschen Kleinstadt schreiben können. Es sind Aussagen und Inschriften, die wir alle schon einmal gehört oder gelesen haben. Scheinbar unabhängig voneinander geistern sie durch unsere Zeit. Doch was sie gefährlich macht, sind nicht die Aussagen allein. Was sie gefährlich macht, ist ihr zusammenwirken. Der Umgang mit der Vergangenheit beeinflusst maßgeblich die Wahrnehmung der Gegenwart. Und deshalb ist es so wichtig, wie wir aus der Gegenwart heraus auf die Vergangenheit blicken.
Deggendorf ringt seit Jahren mit der Vergangenheit. Mit seiner Erinnerungskultur. Ein Ringen, das hier wie in so vielen deutschen Kleinstädten, bislang meist zugunsten des Opfermythos – und nicht zugunsten ehrlicher Aufarbeitung der Schuld ausgefallen ist.
So wurden Stolpersteine zum Gedenken an die deportierten Jüdinnen und Juden verlegt. Es gibt einen Gedenkstein im Garten des Elisabethenheims für die Opfer der nationalsozialistischen, menschenverachtenden Gesundheitspolitik. Ein weiterer Gedenkstein erinnert an die jüdische Gemeinde im DP Camp-7 im Palais im Stadtpark. Es gab und gibt vereinzelte, gesellschaftspolitische Engagements in Form von Schulprojekten, Vorträgen (z.B. im Rahmen des Projekts „Demokratie leben!“) oder Filmvorführungen und gelegentlich erscheinende Fachpublikationen in den Deggendorfer Geschichtsblättern.
Sind das diskursive Leuchtraketen – oder ist es der ehrliche Wille nach Konfrontation und kritischer Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit?
Kaum jemand, der streiten will um die Gedenktafel an der Grabkirche, durch die sich Kirchenvertreter für das antisemitische „Gnad“-Pogrom und die Jahrhunderte andauernden, antisemitischen Feierlichkeiten zur Erinnerung an das Massaker zu entschuldigen versuchen. Der Deggendorfer CSU-geführte Stadtrat hatte Anfang der 1990er eine Entschuldigung im Namen der Stadt Deggendorf durch eine Mitnennung auf dieser Tafel explizit abgelehnt.
Und wenn dann doch gestritten wird, dann sind die Ergebnisse oft ernüchternd, nichtig fast. Wie bei der wohl bekanntesten der umstrittenen Gedenkstätten, dem sogenannten Gefallenenhain. Dieser ursprünglich als „Heldenhain“ für die getöteten Soldaten aus beiden Weltkriegen angelegte Erinnerungsort wurde 2013 in „Gefallenenhain“ umbenannt, nachdem bekannt wurde, dass dort Neonazis offen SS-Angehörigen gedenken[3]. Heute steht eine Erklärungstafel auf dem „Gefallenenhain“, die diesen in den historischen Kontext einbetten soll. Auf dieser Tafel wird behauptet, dass die getöteten Soldaten aus Deggendorf „Opfer, die […] durch die verbrecherische Politik und die Weltherrschaftspläne der Nationalsozialisten in den Krieg getrieben wurden“, gewesen sein sollen. Die Darstellung der Deggendorfer Soldaten als passive Opfer der Nazis ist falsch und zynisch. Sie stellt die potentiellen Täter, die Deggendorfer Soldaten, sprachlich auf eine Ebene mit den tatsächlichen Opfern der „verbrecherischen Politik“ der Nationalsozialisten: Jüdinnen und Juden, Rom*nja und Sinti*zze, Homosexuelle, politisch Verfolgte, Opfer der „Euthanasie“-Morde und große Teile der Bevölkerung der besetzten Gebiete. Als Sterbeort der meisten namentlich genannten Soldaten ist „Russland“ oder „Osten“ angegeben. Gerade dort, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, führte das NS-Regime einen rassenideologisch motivierten Vernichtungskrieg. Darüber hinaus impliziert die Aussage, dass es unter den Deggendorfer Soldaten keine Anhänger oder Sympathisanten der NS-Ideologie gegeben hätte.
Und dann war da noch die Sache mit den Kriegsdenkmälern: In ganz Niederbayern, in ganz Deutschland findet man die gleichen, von Gemeinden und Veteranenverbänden aufgestellten und unterhaltenen, Denkmäler. Beispielhaft für viele Orte wird in Metten und Deggendorf den toten Soldaten aus dem ersten und zweiten Weltkrieg „in dankbarer Erinnerung“ gedacht. In dankbarer Erinnerung an was genau? An die Shoah? An den Porjamos, den Völkermord an Rom*nja und Sinti*zze unter der NS-Herrschaft? An das Massaker in Babyn Jar, bei dem innerhalb von 36 über 33.000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden? An anderer Stelle, zum Beispiel in Otzing und Niederaltaich, wird „unseren Helden“ gedacht und gedankt. Wodurch genau wurden die toten deutschen Soldaten zu sogenannten Helden? Durch den Überfall auf Polen? Danken die Gemeinden den Soldaten für die Plünderungen, Morde, Vertreibungen, sexuellen Gewalttaten, Demütigungen und anderen Verbrechen, die deutsche Soldaten in den beiden Weltkriegen aus nationalistischen, antisemitischen, rassistischen und sexistischen Motiven begangen haben? Der Mythos der „sauberen“ Wehrmacht war stets das: ein Mythos. Eine Schutzbehauptung. Seit Jahrzehnten herrscht wissenschaftliche Gewissheit darüber, dass die Wehrmacht im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg aktiv an Völkermord, Deportationen, Repressalien, Erschießungen sowie der Forcierung von Massensterben durch Hunger und Krankheit mitgewirkt hat. Dafür bedanken sich die Gemeinden und Veteranenverbände noch im Jahre 2020. Auch die Stadt Deggendorf.
Es scheint fast so, als ob es den Gemeinden – und auch der Stadt Deggendorf – nicht um Fakten und historische Tatsachen geht, sondern eher darum, sich positiv auf die eigene Geschichte beziehen zu können. Nicht um Aufarbeitung – sondern um Verschleierung. Schuld, Scham und Verantwortung werden durch Relativierung und das Heranziehen des Opfermythos abgewehrt. Diese Schuldabwehr bezeichnet man als sekundären Antisemitismus[4]. Weitere zentrale Merkmale dieses Phänomens sind Täter-Opfer Umkehr, sogenannte „Israelkritik“ sowie Verharmlosung, Gleichsetzung und Leugnung des systematischen, industriell durchgeführten Massenmordes an sechs Millionen Jüdinnen und Juden[5]. Auf dem „Gefallenenhain“ wurde und wird seit 1985 jährlich in Anwesenheit von Oberbürgermeister*innen, Stadträt*innen, Veteranenverbänden und Kirchenvertretern den toten Soldaten der beiden Weltkriege gedacht. Ein regelmäßiges, öffentliches Gedenken geschweige denn ein gemeinsames Denkmal für alle tatsächlichen Opfer der NS-Politik gab und gibt es in Deggendorf nicht.
Totengedenken ist wichtig. Das Wie ist aber entscheidend. Wenn es nicht möglich ist, Orte für Trauerrituale und Totengedenken zu schaffen, ohne Verbrechen zu verherrlichen, zu relativieren oder zu leugnen – dann sollte man es sein lassen. Bisher gab es nicht den politischen Willen dafür, diese Orte zu so zu gestalten.
Verwundern kann das nicht. Denn noch immer geistert die Mär von der Unwissenheit der deutschen Bevölkerung über die Gräuel in den KZ herum. Ich höre sie auf Familienfesten, auf politischen Veranstaltungen oder lese es auch, wie kürzlich, in Veröffentlichungen über die Zeit des zweiten Weltkrieges in Deggendorf. „Wir haben nichts gewusst“, „Die meisten Deutschen hatten keine Ahnung, was in den KZ passierte“, „Wir waren nach dem Krieg genauso schockiert und überrascht, wie die Amerikaner“ oder ähnliches hört und liest man dann. Dieser oft bemühte, gut gepflegte deutsche Nachkriegsmythos der Unwissenheit ist nichts weiter als eine Schutzbehauptung. Gezieltes Wegschauen, Passieren-lassen und Ignorieren ist nicht dasselbe wie Unwissen. Es ist nicht möglich weltumspannende Angriffskriege zu führen, die dortige Bevölkerung zu ermorden und auszubeuten, gleichzeitig im eigenen Land und in den besetzten Gebieten Teile der Bevölkerung Schritt für Schritt auszugrenzen, zu verfolgen und Völkermord zu begehen, wenn nicht große Teile der Bevölkerung motiviert mitmachen oder geschehen lassen. Geschweige denn, diese Vorgänge vor den Menschen geheim zu halten, vor deren Augen sie passieren. Inzwischen herrscht unter Historiker*innen der Konsens vor, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung entweder direkt an dem Massenmord an Jüdinnen und Juden beteiligt war, Zwangsarbeiter*innen beschäftigt, Nachbar*innen denunziert oder von Arisierung profitiert hat[6].
Die Außenlager des KZ Flossenbürg in Plattling und Ganacker bei Wallersdorf, die über 1300 Opfer der Euthanasiemorde durch das Bezirksklinikum Mainkofen[7], die unzähligen Familien-, Klein- und Großbetriebe, die Zwangsarbeiter*innen ausbeuteten und nicht zuletzt die Verfolgung der Deggendorfer Jüdinnen und Juden und die Arisierung und Versteigerung ihres Besitzes zeugen davon, dass die niederbayerische Bevölkerung hierbei keine Ausnahme war[8].
Ein paar Stolpersteine oder Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, wenn sie isoliert sind, helfen nicht gegen die übermächtige schuldabwehrende Geschichtserzählung, die sich organisiert, Brücken schlägt vom Landtag über Denkmäler ins Wohnzimmer.
Eine ehrliche, kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte kann ein Anfang sein, dieser gefährlichen Schuldabwehr etwas entgegenzuhalten. In Deggendorf und überall sonst in Deutschland und Österreich.
Vergangenheitsbewältigung ist somit auch immer Gegenwartsbewältigung.
Bild oben: Stolpersteine in Deggendorf, (c) Christian Michelides, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license
–> Mehr zum Thema Gedenkkultur in Deggendorf
[1] https://www.infoticker-passau.org/node/236
[2] https://www.rnd.de/politik/holocaust-verharmlosung-kritik-an-bayerischer-afd-fraktionschefin-Q64U4WAPXRVMB5WPZK73NOJ6EE.html
[3] https://www.hagalil.com/2013/07/heldenhain/
[4] http://www.nichts-gegen-juden.de/die-deutschen-haben-ja-auch-gelitten/
[5] https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37962/sekundaerer-antisemitismus
[6] Eine kurze Literaturliste über die Frage nach dem Wissen der deutschen Bevölkerung:
Frank Bajohr und Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. C.H. Beck, München, 2006;
Robert Gellately Hingeschaut und Weggesehen: Hitler und sein Volk. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München, 2002;
Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945. Siedler, München, 2006;
Ahlrich Meyer: Das Wissen um Auschwitz. Täter und Opfer der ‚Endlösung’ in Westeuropa. Schöning, Paderborn, 2010
[7] https://www.hagalil.com/2011/11/mainkofen/
[8] Behrendt, Lutz-Dieter, Das Schicksal der Deggendorfer Juden in der NS-Zeit, in: Deggendorfer Geschichtsblätter 35, 125– 206;
Westerholz, S. Michael: Da wvrden die Jvden erslagen Zur Geschicht der Juden im Landkreis Deggendorf. Neue Presse Verlags-GmbH. Passau, 1986
Nun gehen wir bei der Aussage von Frau Katrin E.-S. und der Haltung des Deggendorfer Stadtrates davon aus, dass diese Meinung bei sehr viel mehr Bürgern unseres Landes als nur 20% vorherrscht. Was steckt dahinter, denn von Schuldkult habe ich real betrachtet in unserem Land noch nicht viel mitbekommen. Nehmen wir es aber doch genau so an wie sie es meinen; aber wenn es nicht real ist so muss es sich dann zumindest für sie anfühlen. Salzborn, Adorno, Broder, ja ihr habt recht; es ist die falsche Scham die sie daran hindert.
Es gab auch Menschen, die zugaben, alles gewusst zu haben. So H.s Uroma. Die sagte immer: „Jetzt sei still, sonnst kommst du nach Dachau.“
Und der Müller der Würmmühle Dachau wusste auch von den Transporten der russischen Kriegsgefangenen, die in der Nähe seiner Mühle, auf dem Schießplatz Herbertshausen, massakriert wurden: https://de.wikipedia.org/wiki/Schie%C3%9Fplatz_Hebertshausen
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