„Der letzte Trost dahin“

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Mitglieder der »Sonderkommandos« von Auschwitz haben erschütternde Dokumente hinterlassen…

Von Roland Kaufhold
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 25.06.2020

Über Jahrzehnte wusste man nichts über die »Sonderkommandos« von Auschwitz, die jüdischen Häftlinge, die von den Nazis gezwungen wurden, an der Vernichtung mitzuwirken. Inzwischen wurden in zwei Bänden deren Aufzeichnungen vorgelegt. In Briefe aus der Hölle dokumentiert Pavel Polian sechs Überlebenszeugnisse von Sonderkommando-Mitgliedern.

»Die Dramen, die meine Augen gesehen haben, sind unbeschreiblich. An meinen Augen sind etwa 600.000 Juden vorbeigezogen«, schreibt Marcel Nadjari. 1942 wird er 25-jährig interniert, im April 1944 nach Auschwitz deportiert und dort einem Sonderkommando zugewiesen. Er muss den Leichen die Goldzähne ziehen. Sein Bericht wird 1980 entdeckt.

Nadjari ist sich sicher, dass bei Auffinden seines Zeugnisses »kein einziger Jude in Europa übrig geblieben« sein würde. Er fordert Rache: »Ich wollte und will leben, um den Tod von Papa und Mama zu rächen, und meiner geliebten kleinen Schwester Nelli.« Nadjari überlebt wie durch ein Wunder, übersiedelt 1951 in die USA. Gedanken an das Sonderkommando lässt er nicht mehr zu.

Lejb Langfuß dokumentiert das deutsche Morden. 1942 wird er nach Auschwitz deportiert. Die Aufstandspläne vom Oktober 1944 treibt er voran. Langfuß analysiert die Entmenschlichung: »In der Gewalt der blutdürstigen, mörderischen Aufseher sollten sie, gequält, ausgehungert und ihrer Seelenkräfte beraubt, sich vollkommen erschöpfen.«

Die Angst ist allgegenwärtig: »Ein Gefühl der Angst hängt in der Luft. Vor dem Abend kam die deutsche Polizei. Ungeheure Trauer, jeder Stein war von Tränen erfüllt, alle zitterten und bebten.« Er dokumentiert den Sadismus der Täter. Die Deutschen versuchen, ihre Verbrechen zu vertuschen: »An der Oberfläche dieses Platzes pflanzte man Bäume, damit auch nicht das kleinste Zeichen ermordeter menschlicher Leben übrig bleibe.« Und doch singen viele Juden unmittelbar vor ihrer Ermordung die Hatikva.

Im Oktober 1944 dann das Ende: Sonderkommandomitglieder beginnen mit dem Abbruch des Krematoriums. Am 26. November 1944 muss Langfuß seine Dokumentation abschließen: »Jetzt gehen wir zur Sauna, die übrig gebliebenen 170 Männer. Wir sind uns sicher, dass wir in den Tod geführt werden.« Sein Manuskript wird im April 1945 entdeckt.

Salmen Lewenthal, 1918 geboren, ist zwei Jahre lang Chronist und Ankläger der Vernichtung. Seine tagebuchartigen Texte werden 1961 am Krematorium III entdeckt – 342 kaum noch lesbare Blätter. Er dokumentiert die Vorbereitung des Aufstandes in den Krematorien am 7. Oktober 1944. Er schreibt über ihre von den Deutschen erzwungenen Schuldgefühle, als Opfer: »Wir schämten uns, einander in die Augen zu schauen.«

Der Versuchung zum Suizid widersteht er: »Wie gut wäre es gewesen, eines süßen Todes zu sterben, mit einem Schluchzen auf den Lippen.« Er appelliert an die »zukünftigen Historiker«, im Boden von Auschwitz zu suchen: »Suchet weiter! Ihr werdet noch finden.« Dann bricht Langfuß’ Text ab.

Herman Strasfogels Brief »an meine liebste Frau und Tochter« ist im Februar 1945 entdeckt worden. Er beschreibt sein unermessliches Leid: »Seitdem sind 20 Monate vergangen, mir kommt es wie ein Jahrhundert vor.« Er sei »skelettartig abgemagert, meine Hände erkannten meinen Körper nicht«.

Abraham Levite, der 1943 nach Auschwitz verschleppt wird, verfasst im Januar 1945 das Vorwort einer von jüdischen Häftlingen erstellten »Anthologie Auschwitz«. Die Texte und deren Autoren überlebten nicht, nur Levite. Dieser flüchtet im Frühjahr 1945 und emigriert nach Palästina. Er spricht von dem »Drang, etwas für die Ewigkeit zu hinterlassen«. Die Qualen der Opfer fasst der 27-Jährige in Worte: »Auf den Gräbern, in denen wir lebendig begraben liegen, tanzt die Welt einen Teufelstanz, unser Gestöhne und unsere Hilferufe werden mit Füßen zerstampft.«

Ihre Anthologie sollte ein Bild davon schaffen, »wie man in Auschwitz ›lebte‹«. Den Sadismus beschreibt er so: »Der Strick ist um den Hals geworfen. Der Henker ist großzügig. Er hat Zeit. Er spielt mit dem Opfer. Erst trinkt er ein Bier, raucht eine Zigarette und lächelt zufrieden.«

Die Zertrennung lauten die von Aurélia Kalisky und Andreas Kilian herausgegebenen Aufzeichnungen Salmen Gradowskis. Mai 1945: Chaim Wollnermann, Überlebender von Auschwitz, wird eine Blechbüchse mit Aufzeichnungen gezeigt, die im Boden des Krematoriums Auschwitz entdeckt worden war. Das auf Jiddisch verfasste Manuskript beginnt so: »Lieber Leser! Du wirst in diesen Zeilen die Leiden und Nöte beschrieben finden, die wir, die unglücklichsten Kinder der ganzen Welt, durchgemacht haben in der irdischen Hölle, die Auschwitz heißt.«

Gradowski wurde zwischen 1908 und 1910 im Zarenreich geboren. Er begeistert sich für Literatur, beteiligt sich an zionistischen Debatten. Im Sommer 1941 ist das Schicksal seiner Familie besiegelt. Ende 1942 wird sie nach Auschwitz deportiert und sofort vergast; er wird für das Sonderkommando eingeteilt. Die Gruppe umfasst bis zu 250 Häftlinge. Diese leben mit dem Wissen um ihre Ermordung.

Gradowski, der 22 Monate lang in dieser vom Tod bestimmten Welt lebt, beschreibt die Angst, die systematische Auslöschung der Persönlichkeit. Er weiß von den Vorbereitungen für Widerstand. Am 7. Oktober 1944 kommt es zum bewaffneten Aufstand des Sonderkommandos. Dieser wird nach wenigen Stunden niedergeschlagen. 452 Häftlinge und drei SS-Männer sterben, darunter auch Gradowski.

Gradowski spricht den Leser direkt an. Dieser werde nicht glauben, »dass Menschen es zu solch grausamem Vernichten haben bringen können«. Den Opfern werde »ihr Ich zertreten«, sie werden »in tragisch lebende Automaten verwandelt«.

Seinen Text habe er »begraben in einer Grube von Asche. Ich hielt das für den sichersten Ort, wo man sicherlich auf dem Krematoriumsgelände graben würde. Aber letztens …«. So endet er.

»Die zweite Handschrift« enthält drei Manuskripte. Jedem Stück stellt Gradowski einen Brief voran, in dem er seine Identität offenbart und den er mit »Lieber Leser!« beginnt. Seine Familie sei am 8. Dezember 1942 verbrannt worden. Er habe nicht das Privileg zu weinen, »der am Rand des Grabes steht, bin ich«.

»Der tschechische Transport« beginnt so: »Ich schreibe diese Worte in Augenblicken meiner größten Verzweiflung.« Er fordert Rache im Namen der Ermordeten: Du »wirst Rache nehmen, Rache an den Mördern! Leben, leben für die Rache! Und den Namen meiner Liebsten verewigen. Ich habe Freunde in Amerika und in Israel«. Der Vernichtungskrieg der Nazis richte sich »gegen unser Volk Israel«. Die Opfer hätten ihre Menschlichkeit nie verloren: »Unsere Herzen sind voller Mitleid. Ach!«

Er ist Chronist des Widerstands: Unmittelbar vor ihrer Ermordung singen Juden die Internationale, andere die Hatikva, »anstatt zu klagen und ihre verlorenen jungen Leben zu beweinen«. Er beschreibt einen »Sabbat voller Tränen«: »Wir sehnen uns nach den Brüdern, weil sie unsere Brüder sind. Mit ihrem Verschwinden ist der letzte Trost dahin. Ende.«

Pavel Polian: »Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz«. Wbg Theiss, Darmstadt 2019, 632 S., 48 €

Salmen Gradowski: »Die Zertrennung. Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos«. Herausgegeben von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian. Suhrkamp, Berlin 2019, 354 S., 25 €

Bild oben: Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz beim Verbrennen von Leichen. Heimlich aufgenommenes Foto des Widerstandes – wahrscheinlich von „Alex„, einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos. Wikicommons

Roland Kaufhold ist Autor und Journalist. Zuletzt erschien das von ihm (zus. mit A. Livnat und N. Engelhart) herausgegebene Buch „Peter Finkelgruen: „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln“.