Kontrollverlust? Selbstdisziplin?

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In Israel steigt die Zahl der Infizierten wieder dramatisch an. Allein in der vierten Juni-Woche gab es mehr diagnostizierte Corona-Infektionen als im gesamten Monat Mai. Experten sprechen deshalb bereits von einer zweiten Welle, die das Land erfassen könnte…

Von Ralf Balke

Ignoranz, Nachlässigkeit und die Auffassung, dass die ganze Sache irgendwie bereits ausgestanden sei – genau das sind wohl die Ursachen dafür, warum das Coronavirus in Israel gerade sein Comeback feiert. Und manchmal wirkt es wie ein schlechter Scherz, auf welche Weise innerhalb von Stunden immer mehr neue Hotspots im Land auftauchen können. So musste vor wenigen Tagen die Innere Station 9 des Ichilov-Hospitals in Tel Aviv geschlossen werden, weil dort das Coronavirus beim Personal die Runde machte. Es ist bereits die zweite Abteilung des Krankenhauses dieser Art, die deshalb ihren Betrieb einstellen und aufwendig gereinigt werden muss. 17 Krankenschwestern, Ärzte und andere Mitarbeiter gelten aktuell als infiziert. Eigentlich wäre das nichts Besonderes, schließlich ist das Risiko für diese Berufsgruppen auf der ganzen Welt überdurchschnittlich hoch. Doch im Ichilov-Hospital steckte man sich nicht etwa bei den Patienten an, sondern auf einer feucht-fröhlichen Abschiedsparty für einen Kollegen, bei der sich gleich mehr als 20 Personen innerhalb eines geschlossenen Raums aufgehalten hatten und dabei weder Schutzmasken trugen, geschweige denn den Sicherheitsabstand beachteten. Aber nicht nur das. Bei einer Untersuchung des Falls kam zutage, dass die Mitarbeiter, darunter auch Ärzte, bereits mehrfach sämtliche Schutzregeln munter ignoriert hatten. Auch bei einigen ihrer Familienangehörigen konnte das Virus deshalb schon festgestellt werden.

Das Bespiel ist nur eines von vielen, weshalb die Experten im Gesundheitsministerium gerade Alarm schlagen. Man sei „kurz davor, die Kontrolle zu verlieren“, ließen sie die Minister wissen. Denn allein am Mittwoch wurden 532 neue Infektionen festgestellt, die höchste Zahl eines Tages seit über zwei Monaten. 16.990 Tests hatte man an diesem Tag durchgeführt, 2,6 Prozent davon erwiesen sich als positiv. Am Dienstag waren es sogar 19.533 Untersuchungen, wobei 2,3 Prozent der Personen, die sich haben testen lassen, sich als COVID-19-positiv erwiesen. Aktuell stieg die Zahl der aktiv Kranken auf 5.796 Fälle. 46 Personen aus dieser Gruppe befinden sich derzeit noch in einem kritischen Zustand, 28 davon an Beatmungsgeräten. 41 sind moderat erkrankt, die übrigen zeigen nur geringe oder gar keine Symptome. 189 Israelis befinden sich aufgrund einer Coronavirus-Infektion gerade in stationärer Behandlung in einem Krankenhaus, 15.940 Infizierte haben sich bereits wieder erholt. Neue Coronavirus-bedingte Todesfälle sind im Moment keine zu beklagen. Bis dato waren es 308 Israelis, die an den Folgen einer Infektion verstorben sind.

Soviel zu den Statistiken. Im internationalen Vergleich sind diese Zahlen auffallend niedrig. Neben dem hervorragenden Ausbildungsstand der Mediziner war dafür wohl ebenfalls das niedrige Durchschnittsalter der Erkrankten einer der Gründe für den bis dato glimpflichen Ablauf der Pandemie. Denn auf eine Million Israelis kommen derzeit „nur“ 33 Personen, deren Ableben im Zusammenhang mit dem Virus steht. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 107 und in den Vereinigten Staaten 376. Auch wenn es um die Zahl der Getesteten geht, liegt Israel ziemlich weit vorne: Von einer Million Israelis sind aktuell 96.336 getestet worden. In Deutschland beträgt die Vergleichsgröße 64.606 und in den Vereinigten Staaten 90.831. Die Erhöhung der Testkapazitäten kann mit als ein Grund angeführt werden, wenn nach Erklärungen gesucht wird, warum die Zahlen geraden nach oben zeigen – je mehr Israelis sich einem solchen unterziehen, desto mehr COVID-19-Positive werden schließlich identifiziert.

Ganz offensichtlich hat Israel zu Beginn der Coronavirus-Krise eine Menge richtig gemacht, um einer Katastrophe vorzubeugen, und das, obwohl die personelle Ausstattung im Gesundheitswesen aufgrund von Sparmaßnahmen in der Vergangenheit sowie anderer Faktoren mangelhaft ist. Sehr früh bereits schottete sich das Land von der Außenwelt ab, kappte zuerst alle Verbindungen Richtung Asien, dem Ausgangsort der Pandemie. Dann folgte sukzessiv die Einstellungen aller Flüge von und nach Europa und anderen Ländern. Israel selbst hatte es bei der Umsetzung solcher Schritte relativ einfach, weil man kein Transit-Land ist und der allermeiste Personenverkehr mit der übrigen Welt über den Ben-Gurion-Airport lief. Ein drastischer Lockdown, der die Bewegungsfreiheit auf 100 Meter rund um die eigene Wohnung beschränkte und den Verkehr zwischen den einzelnen Städten und Ortschaften teilweise völlig unterband, tat sein Übriges.

Im Mai sah es schließlich so aus, als ob man die Pandemie langsam aber sicher im Griff habe. Erst verkündete Ministerpräsident Benjamin Netanyahu den Sieg über das Virus und sprach von einer „großen Erfolgsgeschichte“. Daraufhin wurden die allermeisten Einschränkungen peu à peu wieder aufgehoben, Schulen nahmen ihren Betrieb wieder auf, die Shoppings-Malls öffneten die Tore und Cafès sowie Restaurants füllten sich. „Trinkt Kaffee, Bier und habt einfach Spass“, lautete die Parole, die Netanyahu anlässlich der Lockerungen ausgab. Infolge dieser Schritte wurde die Nachlässigkeit zur Regel, immer weniger Menschen trugen im öffentlichen Raum Schutzmasken und man ging zu Hochzeiten, Beschneidungen oder anderen Feierlichkeiten – schließlich waren jetzt bis zu 250 Personen zu solchen Events zugelassen.

Dass die Infektionszahlen nach der Aufhebung eines Lockdowns sich wieder nach oben bewegten, ist eigentlich eine ganz normale Angelegenheit. Nur nahm sie in Israel derart bedrohliche Ausmaße an, dass bereits von der berüchtigten zweiten Welle die Rede ist, vor der Epidemiologen auf der ganzen Welt warnen. Als erste Infektionsherde sollten sich die Schulen entpuppen. Ende Mai wurden allein an einem Gymnasium im Jerusalemer Stadtteil Rehavia 170 Lehrer und Schüler positiv getestet. Daraufhin ordnete der neue Erziehungsminister Yoav Galant an, dass eine Schule zu schließen sei, sobald auch nur eine Person dort als Virusträger bekannt werde. Auf diese Weise wollte man vermeiden, dass gleich das gesamte Bildungswesen den Betrieb wieder einstellen muss. Mittlerweile betraf dieser Schritt aber schon fast 200 davon im ganzen Land. Zehntausende Schüler und Lehrer wurden nachhause in Quarantäne geschickt.

Ein weiteres Problem sind einzelne Orte, an denen die Infektionszahlen ebenfalls ganz plötzlich hochschnellen. Zum einen mutierten das überwiegend von Haredim bewohnte und nordöstlich von Tel Aviv gelegene Elad als auch einige Straßenzüge in Tiberias, in denen vor allem Ultraorthodoxe leben, zu solchen lokalen Hotspots, weshalb Netanyahu sie zu „Zonen mit begrenztem Zugang“ deklarieren ließ. Die Bewegungsfreiheit der Bewohner dort unterliegt nun strengen Restriktionen und der Zugang zu diesen Orten wird ebenfalls stark eingeschränkt. Verteidigungsminister Benny Gantz befahl ferner die Einberufung von 250 Reservisten der Armee, die die regulären Ordnungskräfte unterstützen sollen – auch ein Indiz dafür, dass die Entwicklung als gefährlich eingeschätzt wird. Aber auch in Tel Aviv gingen die Infektionszahlen auffallend nach oben. Betroffen war dort die Gegend rund um den Levinski Markt, wo viele Menschen oftmals auf engen Raum zusammentreffen, die von Migranten bewohnten Straßen rund um den alten Busbahnhof sowie einige Viertel in Jaffo. Ebenso entstanden in Bat Yam, Ashdod oder der Beduinen-Ortschaft Rahat im Negev Infektionscluster, weshalb aktuell darüber diskutiert wird, beispielsweise Bat Yam ebenfalls zu einer „Zone mit begrenztem Zugang“ zu erklären. Der Grund: Die Küstenstadt hat im Vergleich zu anderen Kommunen eine überdurchschnittlich alte Bevölkerung. Und Senioren gelten als besonders gefährdet, weshalb man vorbeugen will. In Bat Yam war es wohl ein Supermarkt, von dem die meisten Neuinfektionen ausgingen. Ansonsten, so zeigen es neuere Untersuchungen, finden rund drei Viertel aller Übertragungen von COVID-19 in den eigenen vier Wänden im Kreise der Familie statt.

Neben der Zunahme der Testzahlen scheint aber die neue Lässigkeit im Umgang mit der Coronavirus-Krise eine der treibenden Kräfte für die jüngste Entwicklung der Daten zu sein. Um die Israelis zu mehr Disziplin zu motivieren, wurden die Bussgelder für das Nichttragen von Schutzmasken jetzt von 200 auf 500 Schekel, umgerechnet von 50 auf 125 Euro, erhöht. Auch erklärte Chezy Levy, Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, am Donnerstag, dass man die Zahl der bei Hochzeiten erlaubten Gäste möglicherweise wieder kleiner halten werde. „Weitere Einschränkungen stehen zur Diskussion, zum Beispiel, ob wir bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumlichkeiten erneut einen Schritt zurückgehen. Zu Hochzeiten dürfen dann möglicherweise wieder weniger Personen, wenn es keine andere Wahl gibt.“

Obwohl auch Netanyahu davon sprach, einen neuen Lockdown in Erwägung zu ziehen, scheint es zweifelhaft, dass man noch einmal so weit gehen würde, nachdem Wirtschaft sich langsam aber sicher zu öffnen begann. Zumindest im Moment nicht. Der Ministerpräsident kritisierte den fahrlässigen Umgang so mancher Israelis mit den Mindestregeln im öffentlichen Raum. „Solange kein Impfstoff für das Virus gefunden wird, wird es zurückkehren und sich ausbreiten, wenn wir die Regeln nicht genauestens einhalten“, betonte er auf einer Pressekonferenz. „Wenn wir dies nicht tun, wird es keine andere Wahl geben, als zu den Beschränkungen für die Wirtschaft und den öffentlichen Bereich zurückzukehren.“ Er warnte davor zu glauben, dass die sommerlichen Temperaturen Corona jetzt den Garaus bereiten könnten. „Leider lässt sich dieses Virus nicht vom Wetter beeindrucken. Es wird überhaupt nicht vom Klima beeinflusst.“ Er verwies auf die Erfahrungen anderer Staaten mit ähnlichen klimatischen Verhältnissen wie Israel, wo die Pandemie genauso wütete wie in den kühleren Regionen der Welt. Genau deshalb sollten die Israelis die bis dato erreichten Erfolge nicht durch Leichtsinnigkeit wieder aufs Spiel setzen. „In Schweden, einem Land einer ähnlichen Bevölkerungsgröße wie Israel, wo man ganz bewusst auf Einschränkungen verzichtet hat, gibt es derzeit 4.300 Tote durch das Coronavirus“, so Netanyahu. „In Belgien, dessen Einwohnerzahl ebenfalls mit der unseren vergleichbar ist, und das viel zu spät umfassende Maßnahmen ergriffen hat, zählt man derzeit fast 10.000 Tote.“ Unter allen Umständen will man vermeiden, dass die zweite Welle, wenn sie denn wirklich eintritt, ähnliche Opferzahlen fordert. Jetzt sind die Israelis und ihre Selbstdisziplin gefragt.