Würdiges Gedenken oder Polit-Show?

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Das World Holocaust Forum in Jerusalem war überschattet durch den russisch-polnischen Streit über die Sicht auf die Geschichte. In Israel wurde auch kritisch gefragt, warum Millionen für eine Gedenkveranstaltung ausgegeben werden, während zehntausende Schoah-Überlebende weiterhin in Armut leben…

Von Ralf Balke

Nun ist es wieder ruhig in Jerusalem geworden. Die Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz ist vorbei. Über 40 Staats- und Regierungschef waren eigens nach Israel gereist, um am Donnerstag an die Opfer der Schoah zu erinnern. Angefangen von Russlands Präsident Wladimir Putin, US-Vizepräsident Mike Pence über Spaniens König Felipe VI. und Prinz Charles bis hin zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – noch nie zuvor in Israels Geschichte gab es so viel Politprominenz auf einmal im Lande. Auch die Verantwortlichen für die Sicherheit der Staatsgäste können wieder durchatmen. Größere Vorkommnisse waren keine zu vermelden – wenn man von dem Ausraster von Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron absieht, der anlässlich seiner Stippvisite in der katholischen St. Anna-Kirche in der Jerusalemer Altstadt die israelischen Sicherheitsbeamten beschimpfte. Dafür sollte er sich später wieder entschuldigen.

Wer sich aber bis dato noch nicht entschuldigt hat, war Sabine Müller, Korrespondentin der ARD, die die Gedenkveranstaltung reichlich salopp eine „Erinnerungsparty“ bezeichnete. Während sie Israel und Russland ein „unwürdiges Verhalten“ attestierte, war ihrer Meinung zufolge Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier einer der wenigen vor Ort gewesen, der „würdig und überzeugend“ aufgetreten sei. Offensichtlich war Frau Schreiber schon am Buffet zugange, als Israels ehemaliger Oberrabbiner Meir Lau, selbst ein Überlebender der Schoah, seine emotionale Rede hielt. Hinter ihrer hochnotpeinlichen Wortwahl steckte aber noch eine ganz andere, viel arrogantere Botschaft: Beim Thema Erinnern und Gedenken kann Israel von Deutschland noch eine Menge lernen.

Den Palästinensern dagegen war nichts besseres eingefallen, als einen Boykott des Fünften World Holocaust Forums zu fordern. Die Tageszeitung al-Hayat al-Jadida rief ihre Leser sogar dazu auf, in Jerusalem Morde zu begehen, um so die Gedenkveranstaltung platzen zu lassen. Auch Mustafa Barghouti meldete sich zu Wort: „Ich möchte all diese Staatsmänner, die aus Solidarität mit Israel und in Erinnerung an den Holocaust kamen, eines fragen“, so der Generalsekretär der Partei Palästinensische Nationale Initiative. „Warum üben sie keinen Druck auf Israel aus? Was können sie unternehmen, um die Folterung palästinensischer Gefangener, die grundlose Tötung von Menschen und den nie dagewesenen Ausbau der Siedlungen zu unterbinden?“ Und eine andere PLO-Fraktion, die Demokratische Front zur Befreiung Palästina, ließ verlauten, dass Israel „die palästinensischen Gebiete, besonders aber den Gazastreifen, in etwas Schlimmeres als Auschwitz“ verwandelt hätte. Diese Art der dumm-dreisten Holocaust-Relativierung hat unter den palästinensischen Offiziellen durchaus Tradition. Die Zeremonie in Jerusalem hatten sie zum Anlass genommen, um sich zum wiederholten Male als „Opfer der Opfer“ zu inszenieren. Trotzdem schauten Putin, Macron und Prinz Charles auf einen Sprung bei Mahmoud Abbas, Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, zum Small-Talk vorbei.

Was das World Holocaust Forum aber von Anfang an überschatten sollte, war die bewusste Instrumentalisierung der Schoah durch Russland und Polen. Den Auftakt dazu bildeten im Dezember die Äußerungen Putins über den Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen der Sowjetunion und Hitler-Deutschland, der Polen zur Beute beider Diktaturen machte. Dieses Abkommen bezeichnete er als eine ziemlich gute Sache. Ebenfalls solle man daran erinnern, so der russische Präsident, dass Warschau zuvor auch keinerlei Probleme mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei gehabt hätte und sich sogar selbst eine Teile des Landes unter den Nagel gerissen habe. Aus seiner Sicht reiche das, um Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zu attestieren. Nur einen Tag später legte er nach und bezog sich dabei auf Józef Lipski, von 1933 bis 1939 Warschaus Botschafter in Berlin. Dieser habe Hitlers Vorhaben, Europas Juden zu vertreiben, durchaus begrüßt und sogar erklärt, dass man zu Ehren des deutschen Diktators in der polnischen Hauptstadt ein Denkmal errichten werde, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzt – für Putin ein Beleg für die Partizipation Polens an der Schoah. Schließlich nannte Putin besagten Lipski dann noch einen „Drecksack, ein antisemitisches Schwein“ und warf Polen vor, massive Geschichtsfälschung zu betreiben, „um Stalin und die Sowjetunion in den Dreck zu ziehen“, die Polen 1939 „nichts weggenommen“ hätten. Polen reagierte erwartungsgemäß wenig begeistert. Das polnische Außenministerium erklärte: „Wir sind bereit, Russlands Diplomaten die historische Wahrheit so lange wie nötig zu erklären.“

Polens Präsident Andrzej Duda hatte nicht nur deshalb seine Reise nach Jerusalem abgesagt. Zudem war man in Warschau sehr verschnupft darüber, dass nur Repräsentanten der Siegermächte sowie Deutschlands und Israels Reden halten dürften. „Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum die Präsidenten Russlands, Deutschlands und Frankreichs sowie Vertreter Großbritanniens und der Vereinigten Staaten an so einem Ort und aus so einem Anlass auftreten dürfen, aber nicht der Präsident Polens“, erklärte Duda – schließlich sei Polen das Land, aus dem die meisten Opfer der Schoah kommen würden, nämlich drei Millionen Juden. Das sei nicht nur ein Affront gegenüber Polen selbst, sondern beträfe darüber hinaus die Menschen, die ihr Leben zur Rettung von Juden geopfert hätten. Litauens Staatschef Gitanas Nauseda cancelte ebenfalls seine Teilnahme – ob die Absage in Zusammenhang nun mit den Äußerungen Putins stand, dazu wollte sich niemand in Vilnius äußern. Auch von anderer Seite hagelte es Kritik an der Veranstaltung in Jerusalem. „Es ist einfach so provokativ und unreif, dass ich kaum Wort finde, das zu beschreiben“, so Piotr Cywinski, Direktor des Auschwitz-Birkenau-Museum, in einem Gespräch mit der Times of Israel. Ihn irritierte vor allem die Tatsache, dass die Gedenkveranstaltung in Jerusalem vom Büro von Staatspräsidenten Reuven Rivlin sowie Yad Vashem in Kooperation mit der Holocaust Forum Foundation auf die Beine gestellt wurde, deren Gründer der in Moskau geborene Oligarch Mosche Kantor ist, dem eine gewisse Nähe zu Putin nachgesagt wird. Diese Kritik wiederum wies der Sprecher der Stiftung als „unbegründet“ zurück und bezeichnete sie eine „Ablenkung“ vom eigentlichen Problem, dem gemeinsamen Kampf gegen den Antisemitismus. Polen selbst begeht übrigens den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz mit einer eigenen Gedenkzeremonie am Montag vor Ort. Diese wird nun von Putin boykottiert.

Doch damit war der Streit noch lange nicht beendet. In seiner Rede am Donnerstag auf dem World Holocaust Forum dann behauptete Putin, dass 40 Prozent aller jüdischen Opfer der Schoah Bürger der Sowjetunion gewesen seien. Die „Rote Armee hat nicht nur Auschwitz befreit, sondern einen großen Beitrag zum Sieg über die Nazis geleistet hat“, so der russische Präsident weiter. Damit eröffnete der russische Präsident das nächste Kapitel in der Auseinandersetzung um die Lufthoheit über die Geschichte. Während Letzteres niemand bezweifeln würde, so meldeten Historiker weltweit bei der Behauptung, dass 40 Prozent aller jüdischen Opfer Sowjetbürger gewesen sein, starke Bedenken an. „Ich glaube, dass diese Zahl als Teil des gegenwärtigen Streits um die Erinnerung zwischen Polen und Russland gesehen werden sollte“, betonte stellvertretend für viele Vertreter der Zunft Havi Dreifuss von der Universität Tel Aviv. Andere nannten sie schlichtweg Unsinn. Wer jedenfalls kein kritisches Wort darüber verlor, war Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Mit Warschau lag man im vergangenen Jahr noch im Clinch wegen des umstrittenen Holocaust-Gesetzes, dass von Polen an Juden begangene Verbrechen zu vertuschen versuchte, bevor es dann aufgrund israelischer Interventionen entschärft wurde. Auch deswegen konnte man die Abwesenheit des polnischen Präsidenten in Jerusalem vielleicht ganz gut verschmerzen. Und aus israelischer Perspektive ist Putin sowieso das größere politisches Schwergewicht, mit dem man sich auf jeden Fall gut stellen sollte.

Kritik an der Gedenkveranstaltung in Jerusalem meldeten ebenfalls die israelischen Medien an. „Es sind die Überlebenden, die zählen“, titelte die Jerusalem Post. Man beklagte, dass nur wenige von ihnen zu der Zeremonie eingeladen waren, die Rede ist rund 30 Personen. Dabei sei Platz für 780 Personen in den Veranstaltungsräumen gewesen, so der Kommentar, warum also hat man nicht einer größeren Zahl die Möglichkeit eingeräumt, daran teilzunehmen? Lobend wurde in diesem Zusammenhang immer wieder Volodomyr Zelensky erwähnt. Der Präsident der Ukraine hatte nämlich genau deshalb seinen Platz einem Schoah-Überlebenden zur Verfügung gestellt, worauf die Veranstalter säuerlich reagierten. Er war übrigens nicht der Einzige. Auch die Minister Zeev Elkin, Ofir Akunis, Yifat Shasha-Biton, Rafi Peretz, Tzachi Hanegbi und Amir Ohana taten aus Respekt gegenüber den Überlebenden das Gleiche und verzichteten auf ihre Sitzplätze, ebenso der Kabinettssekretär Tzachi Braverman sowie Ronen Peretz, Interims-Generaldirektor im Büro des Ministerpräsidenten. Und die Tageszeitung Yedioth Aharonoth zitierte zahlreiche Senioren, die der Schoah entkommen konnten und heute unter teils prekären Verhältnissen leben müssen. Sie kritisieren vor allem, dass Unsummen für eine prestigeträchtige Veranstaltung ausgegeben werden, während viele von ihnen kaum über die Runden kommen. „Ich kann nicht verstehen, was das Ganze soll“, so die 89jährige Galina Perevozkina aus Bat Yam. „Ich glaube, es wäre besser gewesen, das Geld in die Versorgung von uns alten Leuten, die wir den Holocaust überlebt haben, zu investieren.“

Zudem wiesen Hilfsorganisationen in diesem Kontext auf die weiterhin teils katastrophale soziale Situation vieler Schoah-Überlebender hin. „So sehr wir es begrüßen, dass führende Politiker der Welt sich der Erinnerung um den Holocaust annehmen, so sehr wollen wir auch darauf hinweisen, dass es unter uns noch zahlreiche Überlebende in Israel und überall auf der Welt gibt, die zu unserer Beschämung unter teils elenden Bedingungen leben müssen“, erklärte beispielsweise Yael Eckstein von der International Fellowship of Christians and Jews. Rund 192.000 dieser zumeist hochbetagten Menschen gibt es in Israel. 39 Prozent von ihnen sind über 85 Jahre alt, 16 Prozent älter als 90 und 0,4 Prozent haben sogar die 100 überschritten. 48.000 leben unterhalb der Armutsgrenze, was laut Finanzministerium konkret heisst, dass 67 Prozent aus dieser Gruppe mit einigen hundert Schekel und 33 Prozent mit wenigen Tausend Schekel im Monat zurechtkommen muss. Der absolute Höchstsatz an finanzieller Unterstützung durch den Staat beträgt 6.000 Schekel, also umgerechnet etwas mehr als 1.500 Euro, was in Israel zum Leben vorne und hinten nicht reicht. Doch auch diese Summe erhält allenfalls eine Minderheit von ihnen. Ohne die Unterstützung von NGOs könnte die absolute Mehrheit sich weder Medikamente noch vernünftige ärztliche Betreuung leisten. Manche wissen auch nicht, dass sie Ansprüche auf bestimmte Zahlungen haben, zum Beispiel aus Deutschland. Aber das alles stand auf dem World Holocaust Forum in Jerusalem ja nicht auf dem Programm.