Nervenkrieg im Norden

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Innerhalb weniger Tage stieß die israelische Armee auf gleich mehrere Hisbollah-Tunnel an der Grenze zum Libanon. Im Norden des Landes wächst daher die Angst vor einem erneuten militärischen Schlagabtausch zwischen Israel und der Schiitenmiliz im Dienste Teherans…

Von Ralf Balke

Ohne Zweifel – idyllisch ist die Landschaft in Israels Norden auf jeden Fall! Kleinere Ortschaften wie Metulla oder die Kibbuzim Misgav Am und Menara sind nicht zuletzt auch wegen ihrer Ruhe beliebte Ausflugsziele für Israelis aus Tel Aviv oder Jerusalem. Doch wie trügerisch diese sein kann, zeigte sich in den vergangenen Tagen erneut. Denn in ihrer am 4. Dezember begonnenen Operation „Nördliches Schutzschild“ stieß eine multidisziplinäre Spezialisten-Taskforce der israelischen Armee, die intern „Das Labor“ genannt wird, nacheinander auf gleich drei Tunnel der Schiitenmiliz Hisbollah, die vom libanesischen Territorium aus nach Israel gegraben wurden. Einer davon reicht über 40 Meter in israelisches Gebiet hinein, liegt 25 Meter unter der Erde und hat einen Durchmesser von rund zwei Meter. Dabei verfügt er über ein ausgeklügeltes System für die Strom- und Luftversorgung sowie reichlich Kommunikationstechnik.

„Es handelt sich um einen ganz neuen Tunnel“, erklärt Lieutenant Jonathan Conricus, Pressesprecher der Armee. „Wie die anderen bereits identifizierten Anlagen war er aber noch nicht in Betrieb und stellte deshalb auch keine unmittelbare Bedrohung für die umliegenden israelischen Ortschaften dar.“ Langfristig aber sehr wohl. Zum einen, weil dadurch die Gefahr vor terroristischen Überfällen oder Entführungen israelischer Staatsbürger wächst. Zum anderen könnten durch sie im Konfliktfall Kämpfer der Schiitenmiliz nach Israel eindringen und beispielsweise die Verbindung zwischen Metulla mit dem Rest des Landes blockieren. Und wie viele Tunnel insgesamt überhaupt von der Hisbollah bereits gegraben wurden, darüber schweigen die Verantwortlichen in Israel beharrlich. Fakt aber ist, dass sich die Armee schon seit dem Jahr 2013 mit genau diesem Bedrohungsszenario an der Nordgrenze beschäftigt und basierend auf den Erfahrungen rund um den Gazastreifen, wo man in der Vergangenheit mindestens 15 solcher Anlagen entdeckt hatte, solchen Terrortunneln mit modernster, sogenannter passiver seismologischer Technik aufspürt. Normalerweise kommt diese bei der Erschließung von Erdgas- und Erdölvorkommen oder der Erdbebenforschung zum Einsatz und erlaubt zugleich Rückschlüsse über unterirdische Aktivitäten in einem größeren Radius, also auch jenseits der Grenzanlagen.

Für Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der seit dem Rücktritt von Avigdor Lieberman vor wenigen Wochen nun ebenfalls das Verteidigungsressort innehat, waren die Tunnel eine grobe Verletzung von Israels Souveränität sowie ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Resolution 1701, die der Hisbollah jegliche Aktivitäten auf dem Gebiet zwischen dem Litani-Fluss sowie der israelischen-libanesischen Grenze untersagt. Zudem attestierte er der Schiitenmiliz, auf diese Weise ein „doppeltes Kriegsverbrechen“ zu begehen. „Sie zielen auf Zivilisten, während sie gleichzeitig sich hinter Zivilisten verstecken.“ Denn die Eingänge zu den Tunneln befinden sich gut getarnt in Wohngebieten, beispielsweise in grenznahen libanesischer Dörfer wie Kafr Kila und Ramya. Und weil die Hisbollah finanziell sowie waffentechnisch in jeder Hinsicht vom Iran abhängt, sitzen die eigentlichen Verantwortlichen für diese Eskalation laut Netanyahu in Teheran. Das jedenfalls erklärte er bei einer Tour mit ausländischen Diplomaten entlang der israelischen Nordgrenze. „Ich habe den Botschaftern gesagt, dass sie unmissverständlich die Aggressionen des Irans, der Hisbollah und der Hamas gegen uns verurteilen sollten und forderte sie zugleich auf, ihre Sanktionen gegen alle drei zu verschärfen.“

Auch die Vereinten Nationen schaltete Jerusalem ein – schließlich wurde das Mandat der seit 1978 an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon stationierten internationalen Friedenstruppe, der United Nations Interim Force in Lebanon, kurz UNFIL, nach dem letzten Libanonkrieg im Jahr 2006 erweitert, um sicherzustellen, dass keine bewaffneten Milizen dort ihr Unwesen treiben – mit zweifelhaften Erfolg, wie Israel bereits mehrfach feststellen musste. So kam erst vor wenigen Monaten zutage, dass Hizbollah-Milizionäre als Mitglieder einer fiktiven Umwelt-NGO namens „Grüne ohne Grenzen“ getarnt vor Ort Spionagestationen eingerichtet hatten. Und unter den Augen der Vereinten Nationen hatte die Schiitenmiliz im Süden des Libanons beispielsweise immer wieder Straßen gesperrt, um Raketen zu transportieren, und darüber hinaus ein weitverzweigtes Netz von camouflierten Militärposten sowie Waffen- und Raketendepots eingerichtet. Die Tunnel sind also nur ein Teil dieser militärischen Infrastruktur.

Der Nervenkrieg zwischen Israel und der Hisbollah geht mit der Entdeckung der Terrortunnel also in eine weitere Runde. So forderte unmittelbar danach Avichay Adraee, der arabischsprachige Pressesprecher der israelischen Streitkräfte, in einer Reihe von Tweets sowie an Mobiltelefone verschickte Voice-Mails die Bewohner der nahe an der Grenze gelegenen libanesischen Ortschaften Kfar Kila und Ramya dazu auf, ihre Häuser zu verlassen, weil die Zerstörung der Tunnel ihr Leben gefährden könnte. „Die Hisbollah hat dafür gesorgt, dass ihr auf einem Pulverfass sitzt“, schrieb er. „Wenn ihr wisst, was wirklich unter euren Häusern geschieht, seid ihr dann immer noch davon überzeugt, dass ihr in Sicherheit lebt?“ Auf diese Weise hofft man auch, einen Keil zwischen der libanesischen Bevölkerung und der Schiitenmiliz treiben zu können. Und mehrere israelische Regierungsvertreter, allen voran Israel Katz, als Minister zuständig für die Nachrichtendienste sowie das Verkehrswesen, wollte nicht ausschließen, dass die Armee womöglich auf libanesischem Territorium operieren müsse, um wirklich auch alle Tunnel vollständig zerstören zu können. Das wiederum würde unweigerlich zu einer direkten Konfrontation mit der Hisbollah führen, die jede israelische Aktivität in der Grenzregion haargenau beobachtet. Und wie sehr sie den Israelis dabei sprichwörtlich zu Leibe rücken kann, demonstrierte am Dienstag ihr TV-Sender al-Manar. Gezeigt wurden israelische Soldaten in Nahaufnahme, wie sie versuchen, die unterirdischen Anlagen zu zerstören. Auch die technische Ausrüstung, die dabei zum Einsatz kommt, ist bis ins kleinste Detail gehend gut zu erkennen. „Die Alptraum-Tunnel halten sie rund um die Uhr wach“, tönte der al-Manar TV-Sprecher selbstbewußt. Und um zu beweisen, dass man alles ganz gelassen sehe und die Aufforderungen der Israelis zur Evakuierung der Häuser unbeachtet verhallen, wurden Bilder verbreitet, die die Anwohner der Dörfer beim Picknick und Schischa-Rauchen zeigen, während im Hintergrund israelische Soldaten mühsam das Erdreich bearbeiten.

Trotzdem ist die Lage sehr gespannt. Die Israelis warnen die Hisbollah eindringlich davor, die Zerstörung der Tunnel als Vorwand für eine militärische Operation zu nutzen. „Ihr Anführer, Scheich Hassan Nasrallah, sollte genug Verstand besitzen, besser gar Nichts zu unternehmen“, erklärte der ehemalige Generalmajor Gershon Hacohen. „Schließlich sind wir in der Lage, alle seine Schritte sehr wohl vorhersehen. Aber dennoch, jeder noch so kleine Zwischenfall hat das Potenzial, in einen richtigen Krieg zu münden. Die Situation könnte sehr schnell außer Kontrolle geraten.“ Und genau davor ist allen mulmig. Denn die Hisbollah verfügt dank der massiven Unterstützung aus Teheran über ein riesiges Arenal an Waffen. Erst vor wenigen Wochen sorgte die Präsenz eines iranischen Transportflugzeugs für Schlagzeilen, weil darin modernste GPS-Ausrüstungen vermutet wurden, die aus bereits vorhandenen Raketen Präzisionslenkwaffen machen können. Und seit dem Krieg im Jahr 2006 hat die Schiitenmiliz massivst aufgerüstet. Je nach Quelle ist die Rede von 100.000 bis 150.000 Flugkörpern, die zudem über eine deutlich verbesserte Reichweite und Technik verfügen als jene, die damals bereits gegen Israel zum Einsatz kamen. Und auf die Rede Netanyahu vor den Vereinten Nationen Anfang Oktober, bei der er auf die Existenz geheimer unterirdischer Waffenfabriken nahe des Flughafens von Beirut aufmerksam machte, reagierte Nasrallah mit dem, was er „konstruktive Zweideutigkeit“ nannte. „Das Schweigen über unsere Waffen hat gute Gründe und geschieht mit Absicht.“ Mehr als einmal verkündete er auch schon die Absicht, Israel vernichten zu wollen. Für ihn gebe es „keine roten Linien“ in einem möglichen Konflikt. Angriffe auf den Atommeiler nahe Dimona im Negev kämen ebenso in Betracht wie beispielsweise Ammoniak-Tanks der chemischen Anlagen bei Haifa. Dabei weiss der Hisbollah-Oberste sehr wohl den Iran an seiner Seite.

Das Bedrohungspotenzial durch die Hisbollah im Norden wird deshalb von den israelischen Verantwortlichen in Politik und Militär als weitaus gefährlicher eingeschätzt als das der Hamas im südlich gelegenen Gazastreifen. Und für viele Beobachter wird nun verständlich, was Netanyahu vor über drei Wochen anlässlich der Regierungskrise nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und der von Links und Rechts lautgewordenen Kritik an der ihrer Meinung nach zu soften Haltung des Ministerpräsidenten gegenüber der Hamas wirklich meinte, als er den Satz sagte: „Wir befinden uns inmitten einer militärischen Kampagne.“ Damals rätselten viele, worüber Netanyahu eigentlich sprach.

Heute ist klar, dass er damit auf die Operation „Nördliches Schutzschild“ anspielte, deren Planung bereits weit in das Frühjahr 2016 zurückreicht. Dahinter steckt ebenso die Intention, besser gerüstet zu sein als einst im Sommer 2006, als Israel von der Hisbollah überrascht wurde und sich gewaltige Defizite bei der Versorgung mit Nachschub und dem Trainingsniveau der Reservisten zeigten, was zu zahlreichen Verlusten geführt hatte. Last but not least gaben vor zwölf Jahren die politischen und militärischen Entscheidungsträger aufgrund des Fehlens einer klaren Strategie ein ziemlich erbärmliches Bild ab. All das darf sich nach Ansicht der Verantwortlichen nicht wiederholen. Daher setzt Israel auf Abschreckung und signalisiert der Hisbollah sowie der Regierung in Beirut, dass man im Falle einer erneuten militärischen Auseinandersetzung den gesamten Libanon zurück „in die Steinzeit“ bomben würde, wie es Minister Katz einmal ausdrückte. Und natürlich auf gezielte Aufklärungsarbeit. So wie mit der Operation „Nördliches Schutzschild“.